Читать книгу Jenseits von Ego und Selbst - Bernadette Roberts - Страница 11
ОглавлениеKapitel Vier
Der Schnee kam früh in diesem Jahr. Nach zwei stürmischen Tagen war ich in der Nacht zu einer großen Stille erwacht – nur der Schnee kann solche Stille bringen. Der Sturm hatte einen Fuß hoch Schnee hinterlassen. Der Wald und die umgebenden Berge waren wie verwandelt, die Landschaft derart anders, als wäre ich nie vorher dort gewesen. Tagelang waren die Straßen zugeschneit, und als der Schnee teilweise geschmolzen war, hingen dicke schwarze Wolken über den Bäumen. Als der Forstaufseher in seinem Wagen angefahren kam, wußte ich, was er sagen würde.
Der Aufseher kam von Zeit zu Zeit vorbei und wir tauschten Tiergeschichten aus. Er erzählte jedes Mal die Geschichte, wie er jemanden „ausbuddeln“ mußte, weil er zu lange geblieben war. Da mehr Schnee zu erwarten war, sollte ich abfahren, bevor die Straßen vereisten und ich für wer weiß wie lange eingeschneit sein würde.
Nachdem ich also mein Zeug gepackt und die restlichen Nüsse in die Höhlungen und Löcher meiner Waldfreunde gestopft hatte, stand ich da und blickte mich ein letztes Mal um. Ich wußte, die besten Monate meines Lebens waren zu Ende, ein Ende, das von Anfang an unvermeidlich gewesen war. Ich würde zwar oft zu diesem Flecken zurückkommen, doch es würde nie mehr so sein wie diesmal. Wie ich schon seit langem wußte, lag die Quintessenz des Lebens nicht in Zufriedenheit oder Sicherheit, sondern in Entfaltung, Wandel und Herausforderung, wobei die äußeren Umstände lediglich die Bedürfnisse jedes Augenblicks im Strom des Lebens widerspiegelten. Was ich unten am Fuße des Berges vorfinden würde, wußte ich nicht, doch war ich sicher, daß nichts mehr jemals den Kurs ändern könnte, zu dem ich in den Bergen gefunden hatte, ein Strömen, das mich weiterführen würde „wohin es will“.
Mein erstes Ziel war ein Campingplatz über dem Meer. So schön es dort auch war, ich schien unfähig, mich an der Umgebung zu erfreuen. Ich bemerkte eine feine Veränderung an dem, was die 3-D Brille jetzt aufnahm. Statt dem Einen, in dem alle Einzelheiten verschmolzen, war da eine unerklärliche Leere, worin sich alles auflöste. Viele Monate lang war „Etwas“ dagewesen, und jetzt war nichts da. Mit der Zeit wurde diese Leere immer eindringlicher und schwerer zu ertragen. Ohne ein „inneres“ Leben oder auch nur die leiseste Regung im Innern war das „Sehen“ zu meinem Leben geworden. Ich war völlig davon abhängig – sonst hatte ich nichts, absolut nichts, um mich zurechtzufinden.
War auch der ständige Anblick der Leere eintönig und schwer zu ertragen, es war nichts im Vergleich zu dem, was mir eines Morgens widerfuhr, als ich den Strand entlangging. Plötzlich wurde ich gewahr, daß alles Leben um mich zum völligen Stillstand gekommen war. Wohin ich auch schaute, war statt Leben ein entsetzliches Nichts, das sich ausbreitete und das Leben in jedem Ding und jedem Anblick weit und breit abwürgte, eine Welt, die in einem tückischen Nichts erstickte, wobei jede verbliebene Regung nur ein letztes Todeszucken war. Der plötzliche Rückzug des Lebens hinterließ eine Szene von Tod, Sterben und Verderben, derart monströs und fürchterlich anzusehen, daß ich mir sagte, niemand kann so etwas erblicken und weiterleben! Mein Körper erstarrte auf der Stelle zu Eis.
Die unmittelbare Reaktion war, den Anblick abzuwehren, die Vision durch eine Erklärung oder Deutung zum Verschwinden zu bringen, mit einem Wort: sie wegzurationalisieren. Wie ich aber eine Abwehrmaßnahme nach der anderen suchte, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag auf den Kopf, daß ich keine einzige Waffe besaß. In demselben Moment verstand ich dieses Ding, das wir Selbst nennen: es ist die Verteidigungsinstanz im Menschen, die ihn vor dem Anblick des absoluten Nichts, dem Anblick einer leblosen Welt – eines Lebens ohne Gott – schützt. Ohne Selbst ist der Mensch einer solchen Vision, mit der er unmöglich leben kann, wehrlos ausgeliefert.
Als mir klar wurde, daß ich keine einzige Abwehr mehr projizieren konnte, wartete ich auf eine Reaktion, insbesondere auf eine Regung von Furcht. Irgendwie wußte ich, daß, wenn Furcht aufkam, das Selbst mitsamt seinem ganzen Waffenarsenal zum Leben erwachen würde. Es war jetzt deutlich, daß Furcht – die Mutter aller Erfindungen – der Kern war, um den das Selbst sich aufbaute und von der seine Existenz so sehr abhing, daß Selbst und Furcht hier kaum zu unterscheiden waren. Als aber keine Reaktion kam, keine Furcht sich regte, schloß ich, daß das Selbst in mir erstarrt und begraben sei, im vollen Bewußtsein seiner Unbeweglichkeit, seines Todes und seiner völligen Hilflosigkeit. Unversehens war ich von diesem ungeheueren selbstlosen Zustand angelockt und darin eingefangen worden, in einem unumkehrbaren Zustand, denn wenn das Selbst einmal verschwunden ist, kann es nie mehr zurückkommen. In solchen Momenten, umgeben von einem Entsetzen, das ich nicht fühlen und dem ich nicht entkommen konnte, schien ich zu dem grauenvollen Dasein verdammt, in das furchtbare Nichts starren zu müssen, ohne mich irgendwie wehren zu können.
Bis zu diesem Moment hatte ich nicht an das Selbst gedacht oder wohin es vor einem Jahr verschwunden war. Mich beschäftigte weit mehr, was nach seinem Wegfall blieb. Seit seinem Verschwinden hatte ich ein Gefühl grenzenloser Freiheit erfahren – die Freiheit, jenseits vom Selbst dem Einen zu begegnen. Jetzt aber wurde die innere Stille nicht als Freisein vom Selbst empfunden, sondern als gefangenes Selbst, als erstarrtes, regloses Selbst, das durchaus Teil dieser Szene war, Teil dieses entsetzlichen Nichts, das alles Lebendige erstickte. Mein Körper war zu Eis erstarrt – wie konnte ich auch nur einen Moment weiterleben?
Das einzige, das mir scheinbar noch blieb, waren meine Beine, die, obwohl sie sich eisig und reglos anfühlten, immer noch laufen konnten. Schon früher hatte ich herausgefunden, wie ich mich ohne persönlichen Willenseinsatz bewegen konnte – was unmittelbares Handeln ist, ohne zu denken, ohne Selbstbewußtsein oder Willenskraft zu brauchen. Auch diesmal ging es. Ich merkte, daß ich den Strand entlanglief. Doch es war, als würde etwas mit mir laufen, mich drängend, beschwörend, mich zwingend jenseits aller Körperkraft, „Lauf! Lauf wie nie zuvor! Du läufst um dein Leben!“ Und ich glaubte es.
Nun war ich kein Jogger, und es waren zwei Meilen zurückzulegen, teilweise steil bergauf. Als ich aber bei meinem Wagen ankam, schien ich die Erschöpfung nicht zu merken. Ich sprang hinein, fuhr in die Stadt und parkte nahe der belebtesten Kreuzung. Ich wollte für den Rest des Tages unter meinesgleichen sein und spazierengehen – und es war gut, da zu sein.
Da es eine Universitätstadt war, war das Zentrum voller junger Menschen. An einer Ecke spielte eine Jazzband mit voll aufgedrehten Verstärkern, ein Stück weiter ein gedämpftes Trio, und noch etwas weiter spielte ein einsamer Geiger fröhliche irische Weisen. In den Auslagen waren seltsame, originelle Kostüme für das Halloweenfest und die Lokale waren voll. In den Buchläden jedoch war es ruhig wie in einer Bibliothek und es hielt mich da nicht lange. Vielmehr schlüpfte ich in eines der lärmerfüllten Cafés und bestellte ein Bier. Während ich dasaß und die Menschen um mich herum musterte, dachte ich, kein Selbst zu haben wäre genauso schlimm, wenn nicht schlimmer, als eines zu haben. Jenseits vom Selbst war es dem Menschen genauso möglich, einem unerträglichen Nichts zu begegnen wie dem wundervollen, unnennbaren „Etwas“ – wie es mir scheinbar zunächst geschehen war. Das Selbst ablegen bedeutet, vorzeitig unsere Waffen abzulegen, bevor wir sicher sind, was uns bevorsteht – ein wahnsinniges Risiko. Ohne Selbst ist der Mensch den Launen des Zufalls völlig wehrlos preisgegeben, im Guten wie im Schlechten. Wie ich so die jungen Menschen um mich betrachtete, war ich froh, daß sie ein Selbst hatten. Ein Selbst war eigentlich das höchste Gut, das ich den Menschen auf dieser Erde wünschen konnte. Damit würden sie nie in die Lage versetzt, das zu sehen, was ich soeben gesehen hatte und womit kein Mensch weiterleben konnte.
Für mich war es natürlich zu spät. Diesmal hatte ich überlebt, doch wer weiß, was morgen kommt? Zum Glück war ich unfähig, auch nur einen Moment vorauszudenken oder mir vorzustellen, wie noch mehr schiefgehen könnte. Stattdessen versuchte ich auszumachen, wo in der Vergangenheit ich den falschen
Weg eingeschlagen hatte, der mich in solch ausweglose, entsetzliche Bedrängnis führte. Das einzige, was ich mir denken konnte, war, daß ich Gott zu sehr vertraut hatte – doch ist das überhaupt möglich?
Früher hatte ich mich oft gefragt, ob wir jemals zuviel von uns Gott hingeben könnten, also ob es da eine Grenze gibt, die der Mensch nicht überschreiten sollte. Sollten wir unseren Verstand aufgeben, unser Gedächtnis, unsere ganze Existenz – alles Bekannte aufgeben, um zu Ihm, zum Unbekannten zu gelangen? Es ist eines, unseren Willen soweit aufzugeben, daß wir Anfechtungen und Prüfungen annehmen können, ein anderes aber, gänzlich ohne Eigenwillen, ohne eigene Energie zu sein. Sein Selbst Gott hinzugeben ist eines, doch daß Er es auch annimmt, ist etwas Furchtbares – jedenfalls verstand ich es nun so. Das Problem war, daß ich mich an „Etwas“ hingegeben hatte, das ich gar nicht kannte. Warum ich den jetzigen Ausgang nicht vorausgesehen hatte, wußte ich auch nicht. Für diese Not gab es nur eine Erklärung: In dem Glauben, ich hätte mich an Gott hingegeben, hatte ich mich in Wirklichkeit an das Nichts aufgegeben. Es ist also tatsächlich möglich, zu sehr auf Gott zu vertrauen, doch nur, wenn es keinen Gott gibt und jenseits des Selbst nichts ist.
Aber wenn es keinen Gott gibt, dann hatte ich die ganze Zeit nur mir selbst vertraut – was war nun schlimmer? Beides führte in eine ähnliche Sackgasse. Doch wenn du keinem von beiden trauen kannst, was bleibt dann übrig? Das war ja die eigentliche Frage: wenn es kein Selbst und keinen Gott gibt, was dann? Dieses „Was dann?“ hatte ich gerade geschaut und damit konnte ich auch nicht leben. Das schiere Nichts hat nichts Beglückendes an sich – sogar Sartre sagte, daß einem schlecht wird davon – und so läuft alles auf die Tatsache hinaus, daß das Einzige, worauf wir im Leben vertrauen können – Geld ist.
Mit oder ohne Selbst, mit oder ohne Glauben braucht der Mensch Geld oder materielle Güter für sein Überleben. Das ist vielleicht die bestmögliche Kompensation dafür, daß man kein Selbst hat und keinen Gott. Wir geben dem Selbst die Schuld an der Habgier, aber das stimmt vielleicht gar nicht. Möglicherweise kommt der Materialismus gar nicht vom Selbst, sondern aus der Leere, die jenseits des Selbst liegt. Wenn es nämlich kein Selbst gibt und keinen Gott, was sollen wir anderes mit unserem Leben anfangen als es wirtschaftlich anlegen? Von mir aus, dachte ich, je eher ich bei diesem Finanzen-Karussell mitmache, umso besser für mich – schließlich muß das Leben weitergehen, unseren schlimmsten Erfahrungen zum Trotz.
Zurück im Zeltlager war ich jedoch nicht so optimistisch. Mein Leben war verpfuscht, und mit dem Hier und Jetzt zurechtkommen zu müssen, war sehr schlimm in diesen Tagen. Durch Geschäftigkeit versuchte ich, der Erinnerung an das Geschehene zu entgehen, und vor allem mied ich den Strand, weil dort kein Leben mehr war. Was ich jetzt bewältigen mußte, war dieses eingefrorene Selbst, das man sich in Form von „eisigen Fingern“ vorstellen kann, von ungeahntem Terror und Entsetzen, die sich bemerkbar machten, sobald ich unbeschäftigt war. Obwohl scheinbar im Zaum gehalten, und obwohl sie nie zu nahe kamen, wußte ich, daß sie im Hintergrund lauerten und jederzeit hereinbrechen konnten. Ich erkannte jetzt, wie völlig mein Leben von der strengen Disziplin der unbewegten inneren Stille abhing. Ich wußte, daß bei der geringsten Anwandlung von Furcht oder Panik diese eisigen Finger – sie waren wie Lichtblitze in meinem Kopf – über mein ganzes Inneres herfielen, und das war Wahnsinn. Über die innere Stille jedoch hatte ich – bzw. das, was vom ehemaligen Selbst übrig war – keine Kontrolle. Mein Schicksal hing jetzt an dem prekären Gleichgewicht zwischen der inneren Stille und dem namenlosen Entsetzen, das unvermittelt in mir aufsteigen konnte.
Um jede Konfrontation zu vermeiden, versuchte ich, wie schon gesagt, mich ständig zu beschäftigen, und mit vier Kindern war das nicht schwer. Mehr als einmal waren sie meine Rettung gewesen. Ungeachtet der Streitereien, der unaufgeräumten Zimmer und der lauten Musik halfen sie mir immer wieder, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben und die Nase vorne zu behalten. Was ich jetzt am dringendsten brauchte, war, bei ihnen zu sein. Deshalb mußte ein nahe bevorstehender Termin für eine Einkehr mit den Einsiedler-Mönchen am Big Sur abgesagt werden. Einsamkeit und Stille waren das Letzte, was ich brauchte. Ich rief also an und sagte ihnen, daß mein Wagen im jetzigen Zustand unmöglich ihren steilen Hang hinauf käme. Der Bruder am Telefon lachte nur und sagte: „Wenn Sie manche der ‘Kisten’ sehen könnten, die diesen Hang schaffen, müßten Sie an Wunder glauben, und außerdem, wenn Sie nicht herauffahren können, lassen Sie den Wagen unten stehen und wir schicken Bruder E., der Sie abholt.“ Das war das. Wie konnte ich ihm von den „eisigen Fingern“ berichten, die mich verfolgten? Er würde mir sicher geraten haben, doch lieber ins Hospital zu gehen.
An dem Tag, als ich die Küste hinunterfuhr, ging am Big Sur ein gewaltiges Unwetter nieder. Zweimal mußte ich anhalten und warten, bis es nachließ, um weiter als bis zur Windschutzscheibe sehen zu können. Nach dem zweiten Mal beschloß ich, von der nächsten Telefonzelle anzurufen und ihnen zu sagen, daß ich es nicht schaffen würde – wenn es hier unten schon so schlimm war, wie mußte es erst am Berghang sein! Leider ließ der Sturm plötzlich nach und als ich am Fuß der Auffahrt zu den Mönchen angelangt war, hatte es aufgeklart und der Tag war schön geworden.
Ich beschloß, auf Bruder E. zu warten, der immer mittags herunterkam, um den Postboten zu treffen. Ich dachte, er könnte hinter mir herfahren und mir helfen, falls ich steckenbliebe. Ich half ihm, die Abfälle für die Schweine abzuladen – eine Spende der Mönche an den Nachbarfarmer. Bruder E. stieg in seinen Wagen und sagte, ich solle hinter ihm fahren. „Für den Fall“, sagte er „daß Sie steckenbleiben, kann wenigstens ich weiterfahren!“
Zuerst ging alles gut, doch als wir beim steilsten Stück anlangten, bremste der Bruder plötzlich ab, stieg aus dem Wagen und kam zu mir nach hinten. Er sagte, ich solle ebenfalls anhalten, er müsse eine neue Schneide an seinem Traktor montieren, der rechts von uns schon halb über dem Abgrund stand. Da ich nicht wußte, ob meine Handbremse halten würde, ja nicht einmal sicher war, wie lange die Fußbremse halten würde, schrie ich zurück, „Machen Sie Platz, ich fahre durch!“ Wohin aber konnte er ausweichen? Unmittelbar links war ein tiefer Graben und rechts der Abgrund – einer mußte offensichtlich nachgeben. Was dann folgte, könnte man den „Großen Engpaß“ nennen, doch nach diesem Ereignis war der Rest des Weges ein leichtes.
Statt jedoch erleichtert zu sein, als ich oben ankam, sah ich das Lächerliche an der ganzen Situation. Schließlich war mein Auto allem Anschein nach in besserer Verfassung als manche der Klapperkisten, die die Mönche benutzten. Auch war der Fahrweg seit meinem letzten Hiersein neu asphaltiert worden. Hier war ich also, möglicherweise die widerwilligste Einkehrerin, die jemals den Berg heraufgekommen war. Hätte ich geahnt, was mir bevorstand, wäre ich wieder hinuntergefahren. Wir kennen weder Zeit noch Ort, wann das Schicksal uns einholt. Ich hätte nicht ahnen können, daß es für mich hier am Berg bei den Mönchen sein sollte.
Die ersten zwei, drei Tage verliefen so gut, daß ich dachte, ich hätte endlich gewonnen. Doch am dritten oder vierten Tag am Nachmittag waren die eisigen Finger wieder da. In einer Anwandlung von Todesmut kam ich zu dem Entschluß, daß es an der Zeit sei, es mit dem Ding aufzunehmen, was immer es war. Ich konnte nicht mein ganzes Leben lang vor ihm fliehen, sondern mußte mich dem Ding stellen und es mit ihm aufnehmen, weil ich das ständige Lauern hinter jeder Biegung in meinem Alltag nicht mehr aushielt. Ich beschloß, ins Freie zu gehen, mich an den Hang zu setzen und es anzustarren, bis einer von uns nachgab – oder wegging.
Ich kann unmöglich vermitteln, was es heißt, einen unsichtbaren Horror anzustarren, wenn man nicht weiß, was es ist. Einfach zu wissen, was es ist, genügt vielleicht schon, um sich zu wehren. Doch wenn du deine ganze Liste von Begriffen ohne Erfolg durchgegangen bist, mußt du dich mit deinem Nichtwissen abfinden und dich trotzdem stellen. Dieses Ding, das ich anstarren mußte, war der Inbegriff aller Vorstellungen von „Terror“, „Bedrohung“, „Furcht“, „Wahnsinn“ und ähnlichem in dieser Richtung. Mit einem Wort, ein psychischer Killer. Mir war wohl bewußt, daß das ganze Drama nur in meinem Kopf war. Doch in seiner Gegenwart war mein Kopf wie benommen, und gerade deshalb schien das Ding auch gänzlich außerhalb zu sein, sodaß ich es als eisige Finger personifizieren konnte, wie pfeilschnelle Ausläufer von Licht. Sie waren zwar nicht lokalisierbar, doch leicht anzustarren, weil sie mich überall umgaben. Man konnte nirgends anders hinschauen.
Einmal dachte ich, es wäre ein tobendes, manisches Selbst, das wieder hinein wollte. Ein andermal schien es wie die Angst vor einem Schlaganfall oder Wahnsinn – dann wieder dachte ich, vielleicht waren es nur die Wechseljahre. Doch bin ich überzeugt, es hätte nichts im geringsten genützt, es zu wissen. Zu der Zeit gab es absolut nichts dagegen zu tun, und was immer sein Zweck in meinem Leben war, es würde ihn vollbringen, hier und jetzt.
Je länger ich diese Finger anschaute, desto näher kamen sie, manchmal berührten sie mich fast, zogen sich dann plötzlich zurück, scheinbar immer in Bewegung (in meinem Kopf). Anfänglich reagierte ich nur mit einer Gänsehaut und ab und zu mit einem Schaudern, doch dann wurde mein Kopf heiß, so heiß wie Feuer, und ich sah überall nur Sterne. Dann fühlte ich, wie meine Füße zu frieren begannen und die Kälte sich nach oben ausbreitete, überall außer in meinem Kopf. Schließlich fiel ich hin, rückwärts gegen den Hang, von Krämpfen befallen, und mein Herz schlug wie wild.
Ich wußte, ich würde zerbrechen, ganz und gar aufbrechen, aber da ich so etwas noch nie durchgemacht hatte, hatte ich keine Ahnung, was geschehen würde. Ich lag da, wartend, endlos wartend, während dieses Ding mich körperlich in Stücke riß. Innen war nicht die geringste Regung, keine Furcht, kein Gefühl irgendeiner Art. Immer wieder versuchte ich, mich auf die Große Stille zu konzentrieren, doch sie gab mir keine Stärke oder Zuversicht. Sie blieb so unbeteiligt, als wäre da nur eine Fliege, die mir um den Kopf summt. Scheinbar war es dem Körper allein überlassen, die Wucht des Anfalls zu ertragen, an dem weder Geist noch Gefühle beteiligt sein konnten. Wären sie es, wäre es vielleicht schlimmer – ich weiß es nicht. Mein Körperzustand war derart schlecht, daß mich zweifellos nur ein Wunder retten konnte. Dennoch erwartete ich keines, noch hoffte ich auf eines, noch konnte ich im Geist das einfachste Gebet sagen. Ich wollte nur, daß es vorbei ist – sterben wenn‘s sein muß.
Ich bemerkte nicht, wie das abscheuliche Ding wegging. Als nächstes war ich mir einer abgrundtiefen Stille bewußt, in der es keine wie auch immer geartete Körperempfindung gab. Eine Weile später, etwas mußte meinen Kopf gewendet haben, erblickte ich in Augenhöhe nur einen Fußweit entfernt eine kleine gelbe Wiesenblume. Ich kann diesen Moment des Sehens nicht beschreiben, Worte würden nicht ausreichen. Vielleicht könnte man sagen, es lächelte – wie ein Willkommenslächeln des ganzen Weltalls. Das Augenlicht wich der Intensität dieses Lächelns nicht, und es war kein Körper da, um sich abzuwenden. Endlich konnte ich die übergroße Intensität ertragen.
Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, daß mein Körper immer noch am Hang lag, weil es zunächst so schien, als hätte ich keinen. Von mir aus hätte ich irgendein Gewächs oder ein Steinchen am Berghang sein können. Als sich jedoch eine Weile später der Körper bemerkbar machte, beschloß ich, zu testen, ob es ihm bestimmt war, sich zu bewegen. Und wieder bewegte er sich ohne Vorsatz, doch diesmal war die Rückkehr der Körperempfindung von einem leichten Schock begleitet. Als ich wieder auf die Beine kam, war ich dankbar, den Körper so entspannt zu finden, als wäre nichts geschehen. Und so stieg ich den Berg hinauf, so wie ich herabgestiegen war, doch nur noch körperlich. Tatsächlich war da etwas den Berg hinuntergegangen, das nie mehr wiederkehrte.
Abgesehen davon, daß das abscheuliche Ding nicht mehr da war, das ich auch nie mehr sah, war ich den Berg ohne jegliche Empfindung wirklichen Existierens hinaufgegangen. So sehr ich auch suchte, war in meinem Sein keinerlei Substanz mehr anzutreffen, nichts, das sich nicht entweder aufgelöst hatte oder plötzlich verschwunden wäre, ohne daß etwas zurückblieb. „Das“ aber, was verblieb, von dem wußte ich nicht, was es war oder ob es überhaupt war. Augenscheinlich war etwas den Hang hinaufgestiegen, doch würde lange Zeit verstreichen, bis ich sein wahres Wesen erkannte. Im Moment wußte ich nur, daß eine große Veränderung vor sich gegangen war. Rückschauend betrachtete ich diese Begebenheit am Berghang als Einweihung in den „Großen Durchlaß“ – wie ich ihn nannte, ein sonderbarer Seinszustand, der im folgenden Kapitel beschrieben wird.
Einige Tage nach dieser Begebenheit berichtete ich bei Pater L., daß ich an meiner Existenz nicht mehr festhalten könne. Er fragte mich: „Nun, was ist mit Ihrer empirischen Existenz – Ihrem empirischen Selbst – sitzt es hier und spricht mit mir oder nicht?“ Ich sagte ihm, „Optisch hat es zwar den Anschein, doch wenn ich die Augen schließe, kann ich es nicht mehr wahrnehmen.“ Dann erzählte ich ihm, wie während des Betens, oder immer wenn ich nichts tat, mein Körper wegschmelzen oder sich scheinbar auflösen würde. Wenn meine Augen nicht geöffnet seien, könne ich nicht sagen, ob ich einen Körper hätte. Da warf er seine Arme in die Luft und rief aus, „Du lieber Gott, das ist ja allerhand!“ Und während ich weiter berichtete, sann er darüber nach, was wohl mit der scholastischen Theologie geschehen würde, falls die Wissenschaft bewiese, daß in der Materie keine permanente Substanz vorhanden sei.
Schließlich versuchte ich, ihn wieder zu beruhigen. Die menschliche Vorstellung über das Verhältnis von Geist und Materie könnte sich als Umkehrung der gewohnten Denkweise in ihr Gegenteil verkehren, sagte ich. Gott wäre dann reine Materie oder permanente Substanz, und Materie wäre reiner Geist oder Gott – mit anderen Worten, Materie und Geist wären eigentlich identisch. Das bedeutet, daß der Naturwissenschaftler eigentlich der Mystiker ist – wie der Tiefseefisch, der das Wasser sucht, in dem er herumschwimmt – und der Mystiker der ahnungslose Forscher, der schon auf reine Substanz gestoßen ist, ohne es zu erkennen.
Doch der Pater hörte nicht zu, er war in höhere theologische Gedänkengänge entschwebt. Ich wußte, wie es enden würde. Er würde mit ausdrucklosem Gesicht dasitzen und aus dem Fenster starren, über den Hang hinaus aufs Meer, wohin alle Einsichten und Theorien letztlich entschwinden und sich in nichts auflösen. Ich überließ ihm, seine Gedankensackgassen selbst zu entdecken und wandte mich den eigenen zu: Wie kommt es, daß der Körper sichtlich vorhanden war, solange die Augen geöffnet, doch in keiner Weise vorhanden, wenn sie geschlossen waren?
Vielleicht sollte ich erwähnen, daß das fortwährende Wegschmelzen des Körpers vollkommen anders war als eine Erfahrung vom Verlassen des Körpers. Letztere äußert sich scheinbar in einer Trennung von Körper und Geist, doch in meinem Erleben gab es keine solche Trennung. Alle Trennung ist im Selbst begründet, aber wenn es kein Selbst gibt, gibt es auch nichts mehr zu trennen und nichts, das Trennung verursacht. Aufgrund meiner Erlebnisse aber empfand ich den Körper – und alle sichtbare Form – als im Wesen irgendwie ätherisch. Da Form sich aus nicht erkennbarer und nicht berührbarer Substanz zusammensetzt, die durch alle Verwandlungen unverändert bleibt, war es anscheinend diese Substanz, die beim Vergehen des Selbst übrig blieb. Auf alle Fälle verflüchtigte sich das ganze empirische Argument der Selbst-Existenz ein für alle Mal und unwiederbringlich an jenem Abhang.
Ich muß auch sagen, es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß sich der geschilderte Vorfall am Berg bei den Mönchen ereignete. Zwei Jahre zuvor, als die Mönche ihr Einkehrhaus den Frauen öffneten, mußte man zuerst eine Genehmigung vom Prior des Klosters einholen – sich sozusagen einer Auslese unterziehen. Ich fuhr eigens die Küste hinunter zu meiner ersten Zusammenkunft mit dem Pater Prior. Nachdem er gnädig seine Erlaubnis erteilt hatte, fragte er: „Was erhoffen Sie sich also von einer Einkehr bei uns?“ Ich wüßte es nicht genau, sagte ich, doch seit einem Jahr hätte ich das Gefühl, daß sich eine große Explosion vorbereite. Er wurde plötzlich steif in seinem Sessel. „Aber um Gottes Willen, tun Sie es ja nicht hier,“ sagte er. „Wir bemühen uns gerade, die Mönche an die Gegenwart von Frauen zu gewöhnen, und das würde alles zunichte machen – es buchstäblich »in die Luft gehen« lassen für alle.“
Nun, ich hatte keine Ahnung, was sich P. Prior unter meiner „großen Explosion“ vorstellte. Ich wußte aber, daß er Doktor der Chemie gewesen war, bevor er Mönch wurde, und vermutlich hatten schlechte Erfahrungen von damals auf seine Interpretation abgefärbt. In meiner eigenen Vorstellung aber sollte die große Explosion eine wundervolle spirituelle Blüte einleiten, vorzugsweise mit kreativen Obertönen. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß es mein „Selbst“ war, das unwiederbringlich in tausend Stücke gerissen wurde. Eine solche Erwartung stand nicht auf meiner Agenda als Christin, und noch dazu am Bergabhang bei den Mönchen! Eine Schande für die ganze Kirche! Doch wie schon gesagt, wir kennen weder Zeit noch Ort, wann uns die Bestimmung einholt. Daß es mich am Mönchsberg treffen würde, konnte ich nicht voraussehen, und die Ironie der ganzen Angelegenheit war mir nicht entgangen.