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ERSTER TEIL

Der Weg

Kapitel Eins

Die Stille mit ihren verschiedenen Arten und Abstufungen war mir aus früherer Erfahrung vertraut. Es gibt eine innere Stille und eine, die sich von außen herabsenkt. Es gibt eine Stille, die das Dasein beruhigt und eine, die das ganze Weltall ausfüllt. Es gibt die Stille des Selbst und seiner Eigenschaften – Wille, Denken, Erinnern und Gefühle. Es gibt eine Stille, in der nichts ist und eine, in der etwas ist. Und schließlich gibt es die Stille ohne ein Selbst und das Schweigen Gottes. Wenn es einen Weg gibt, an dem sich meine kontemplativen Erfahrungen veranschaulichen lassen, so ist es dieser sich ausbreitende und vertiefende Weg der Stille.

Einmal jedoch schien dieser Weg zu einem Ende zu kommen, als ich in eine Stille eintrat, aus der ich nie mehr völlig herauskommen sollte. Ich muß vorausschicken, schon früher war ich auf eine so völlige und alles durchdringende Stille der Eigenschaften des Selbst gestoßen, daß verhaltene Furcht aufkam, Furcht, für immer hinweggeschwemmt, ausgelöscht, ohnmächtig zu werden und vielleicht nie mehr zurückzukehren. Um die Furcht zu bannen, unternahm ich in solchen Momenten irgendetwas, um mein Schicksal Gott anzuvertrauen – eine Willensäußerung, einen Gedanken, irgendeine Absicht. Jedesmal wurde so die Stille durchbrochen und ich kehrte dann allmählich zum vertrauten Selbst zurück – und wähnte mich in Sicherheit. Doch eines Tages war dies nicht mehr der Fall.

Dort, wo ich wohnte, die Straße hinunter, lag ein Kloster am Meer, und wenn ich nachmittags wegkonnte, liebte ich es, eine zeitlang allein in der Stille seiner Kapelle zu verweilen. Dieser eine Nachmittag war nicht anders als sonst. Wieder breitete die Stille sich aus und ich wartete darauf, daß die Furcht aufkäme, die sie brechen würde. Doch diesmal kam die Furcht nicht. Ob aus gewohnter Erwartung oder zurückgehaltener Furcht, ich empfand Momente der Anspannung, als ob ich darauf wartete, daß die Furcht mich berührte. In diesen Momenten des Wartens war mir, als stünde ich am Abgrund oder balancierte auf einem dünnen Seil, mit dem Vertrauten (mir selbst) auf der einen und dem Unbekannten (Gott) auf der anderen Seite. Eine Regung aus Furcht hätte eine Bewegung auf das Selbst und das Bekannte zu bedeutet. Würde ich diesmal hinübergehen oder wieder auf mich selbst zurückfallen – wie üblich? Da ich keine eigene Kraft hatte, mich zu bewegen oder zu wählen, wußte ich, daß es nicht an mir war, zu entscheiden. Innen war alles ruhig, still und unbewegt. In dieser Stille war mir nicht bewußt, zu welchem Zeitpunkt mich Furcht und Erwartungsspannung verließen. Ich wartete weiter auf eine Regung, die nicht von mir ausging, und als nichts kam, verblieb ich einfach in der großen Stille.

Die Schwester rasselte mit den Schlüsseln der Kapellentür. Zeit abzuschließen – Zeit auch, das Essen für meine Kinder zu richten. Kraftlos wie ich in solchen Momenten war, war es mir schon immer schwergefallen, mich unvermittelt aus tiefer Stille herauszureißen. Mich zu bewegen, war so anstrengend, als müßte ich Bleigewichte heben. Diesmal jedoch kam mir in den Sinn, nicht ans Aufstehen zu denken, sondern es einfach zu tun. Es war, glaube ich, eine lohnende Lektion, denn ich verließ die Kapelle leicht wie eine Feder im Wind. Einmal draußen, erwartete ich durchaus, meinen normalen Kräftezustand und meine Denkfähigkeit wiederzugewinnen. Doch an diesem Tag hatte ich Schwierigkeiten, da ich immer wieder in die große Stille zurücksank. Beim Nachhausefahren mußte ich ständig gegen eine Ohnmacht ankämpfen, und der Versuch, das Essen zu richten, war, als ob ich einen Felsbrocken verschieben müßte.

Drei Tage lang strengte ich mich bis zur Erschöpfung an, wachzubleiben und gegen die Stille anzukämpfen, die mich jeden Moment zu überwältigen drohte. Selbst ein Minimum an Hausarbeit konnte ich nur verrichten, indem ich mir fortwährend vorsagte, was ich da gerade tat. Jetzt schäle ich die Karotten, jetzt schneide ich sie, jetzt nehme ich einen Topf heraus, jetzt tue ich Wasser in den Topf und so weiter und so fort, bis ich so erschöpft war, daß ich mich auf die Couch retten mußte. Kaum daß ich dalag, verlor ich sofort das Bewußtsein. Manchmal schienen es Stunden, wenn es nur fünf Minuten waren, dann wieder schien es wie fünf Minuten, wenn es Stunden waren. In dieser Bewußtlosigkeit gab es keine Träume, kein Gewahrsein meiner Umgebung, keine Gedanken, kein Leben – absolut nichts.

Am vierten Tag merkte ich, daß die Stille nachließ und es weniger anstrengend wurde, wachzubleiben. So traute ich mir zu, Lebensmittel einkaufen zu gehen. Ich weiß nicht, was geschah, als mich plötzlich eine Frau schüttelte und fragte: „Schlafen Sie?“ Ich lächelte sie an, während ich versuchte, mich zurechtzufinden, da ich in dem Moment nicht die leiseste Ahnung hatte, wie ich in das Geschäft gekommen war oder was ich dort wollte. So fing ich wieder von vorne an: jetzt schiebe ich den Einkaufswagen, jetzt muß ich Orangen kaufen und so fort. Am Morgen des fünften Tages konnte ich meine Hausschuhe nirgends finden. Als ich aber für die Kinder Frühstück machte und den Kühlschrank öffnete – unglaublich, was ich dort vorfand, es war absolut lächerlich!

Mit dem neunten Tag hatte die Stille soweit nachgelassen, daß ich sicher war, es würde bald alles wieder normal sein. Wie aber die Tage so dahingingen und ich wieder wie früher funktionierte, merkte ich, daß etwas fehlte, doch ich konnte nicht sagen, was es war. Etwas oder ein Teil von mir war nicht zurückgekehrt. Ein Teil von mir hielt sich noch immer in der Stille auf – als wäre ein Teil meiner geistigen Fähigkeit außer Kraft gesetzt. Ich dachte, das läge an meinem Gedächtnis, weil es sich erst als letztes wieder einstellte. Als es endlich wieder da war, merkte ich, wie flach und leblos es war – wie farblose Dias aus einem alten Film. Es war tot. Nicht nur die ferne Vergangenheit war leer, auch die gerade erst verflossenen Minuten.

Ist nun einmal etwas tot, gewöhnt man sich bald ab, es wieder wachrufen zu wollen. Mit einer leblosen Erinnerung lebt man wie einer, der keine Vergangenheit hat – man lernt, in der Gegenwart, im Jetzt zu leben. Daß dies nun mühelos gelang – weil aus schierer Notwendigkeit – war ein Gutes an einer ansonsten aufreibenden Erfahrung. Selbst als ich mein praktisches Gedächtnis zurückgewann, blieb mir die Fähigkeit, mühelos im Jetzt zu leben. Aber mit der Wiederkehr des praktischen Gedächtnisses verwarf ich mein bisheriges Verständnis dessen, was da abhanden gekommen war, und entschied, daß der stille Anteil meines Geistes eine Art „Versenkung“ sei, ein Aufgehen im Unbekannten, das für mich natürlich Gott war. Es war wie eine fortwährende Schau auf das große, schweigende Unerkennbare, die durch keine Tätigkeit unterbrochen wurde. Das war also eine weitere willkommene Auswirkung der ursprünglichen Erfahrung.

Diese Erklärung für den stillen Aspekt meines Geistes („Versenkung“) schien einen Monat lang zu genügen, bis ich wieder meine Meinung änderte und zu dem Schluß kam, die Versenkung sei eigentlich eine eigene Bewußtheit, eine spezielle Art des „Schauens“. Was da wirklich vor sich ging, war kein „außer Kraft setzen“, sondern eigentlich ein „Öffnen“ – es war nichts abhanden, sondern etwas war hinzugekommen. Nach einer Weile jedoch schien auch dies nicht mehr treffend, es blieb irgendwie unbefriedigend – etwas anderes war da geschehen. Ich beschloß, in der Bibliothek nachzusehen, ob ich dieses Mysterium mit Hilfe der Erfahrungen anderer lösen könnte.

Ich hatte herausgefunden, daß das, was nicht in den Schriften des Johannes vom Kreuz stand, wahrscheinlich auch nirgends anders zu finden war. Obwohl ich die Schriften des Heiligen gut kannte, konnte ich weder bei ihm noch sonstwo in der übrigen Literatur eine Erklärung für mein spezifisches Erlebnis finden. Auf dem Heimweg jedoch an jenem Tag, während ich vor dem Panorama von Tal und Hügeln den Hang hinunterging, kehrte ich meine Schau nach innen, und was ich sah, ließ mich stillstehen. Wo sonst meine eigene raumlose Mitte war, war nichts. Es war leer. In dem Moment, als ich das sah, durchströmte mich eine stille Freude und ich wußte, wußte endlich, was fehlte – mein „Selbst“ war weg.

Körperlich fühlte ich, als wäre eine schwere Last von mir genommen. Ich fühlte mich unglaublich leicht und blickte auf meine Füße, um sicher zu sein, daß sie auf dem Boden standen. Später dachte ich an die Erfahrung des heiligen Paulus: „Von nun an, nicht ich, sondern der Christus lebt in mir“ und ich merkte, daß trotz der Leere in mir kein anderer eingezogen war, um meinen Platz einzunehmen. Daraus schloß ich, daß Christus die Freude, die Leere selbst WAR. ER war alles, was von diesem Menschenleben übrigblieb. Tagelang ging ich nun mit dieser Freude einher, die zuweilen so mächtig war, daß ich mich fragte, wie lange die Schleusen noch halten mochten.

Dieses Erlebnis war der Höhepunkt meiner kontemplativen Berufung. Es war das Ausklingen einer Frage, die mich jahrelang gequält hatte: wo höre ich auf und wo fängt Gott an? Über die Jahre war die Trennlinie so dünn geworden und derart verblaßt, daß ich sie meistens gar nicht wahrnehmen konnte. Doch immerzu wollte ich verzweifelt wissen: was war Seines und was war mein? Nun hatte meine Not ein Ende, es gab kein mein mehr, es gab nur noch Ihn. In dieser seligen Freude hätte ich gerne den Rest meines Lebens verbracht, doch das lag nicht im Großen Plan. Innerhalb weniger Tage, einer Woche vielleicht, zerbarst plötzlich mein gesamtes spirituelles Leben – Arbeit, Leid, Erfahrungen und Zielsetzungen eines ganzen Lebens – unwiederbringlich in tausend Scherben, und übrig blieb nichts, absolut nichts.

Jenseits von Ego und Selbst

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