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Kapitel Zwei

Als die Freude über meine innere Leere nachzulassen begann, versuchte ich, sie in der Abgeschiedenheit innerer Einkehr zu erneuern. Zwar war das Selbst als Mittelpunkt nicht mehr vorhanden, doch ich war sicher, daß die gebliebene Leere, die Stille und das Glücksgefühl Gott selbst war. Einmal saß ich so und kehrte meine Schau in völlig hedonistischer Absicht nach innen. Fast unmittelbar begann der leere Raum sich auszuweiten, derart rapide, daß er zu explodieren schien. In der Magengrube hatte ich das Gefühl, als sause ich in einem Lift hundert Stockwerke nach unten und als würde mir in diesem Fallen alles Lebensgefühl auslaufen. Im Moment der Landung wußte ich: Wenn es kein persönliches Selbst gibt, gibt es auch keinen persönlichen Gott. Ich sah deutlich, wie beide zusammen gehen – aber wohin sie gingen, habe ich nie herausgefunden.

Eine Weile saß ich da, Geist und Gefühl wie betäubt. Ich konnte weder über das Geschehene nachdenken, noch gab es irgendeine Reaktion in mir. Um mich herum war nur Stille, und in dieser vollkommenen Stille wartete ich und wartete, daß sich irgendeine Reaktion einstellte, daß irgendetwas geschehen würde. Doch es geschah nichts. In mir war kein Lebensgefühl, keinerlei Regung oder Empfindung. Schließlich begriff ich, daß ich überhaupt kein „Inneres“ mehr hatte.

Im Moment des Fallens geschah ein so völliges Auslöschen, daß ich nie wieder das Gefühl haben würde, ich besäße ein Leben, das ich mein eigen nennen könnte – oder irgendein anderes Leben. Mein inneres oder spirituelles Leben war zu Ende. Es gab kein Schauen nach innen mehr, von nun an konnten meine Augen nur nach außen blicken. Damals konnte ich noch nicht ahnen, welch ungeheure Nachwirkungen dieses schlagartige Ereignis haben würde. Das mußte ich erst nach und nach herausfinden, und zwar einzig und allein durch Erfahrungen. Mein Verstand konnte nicht begreifen, was geschehen war. Dieses Ereignis und alles, was darauf folgte, lag außerhalb jedes mir bekannten Bezugsrahmens. Von hier an mußte ich mich buchstäblich einen unbekannten Pfad entlangtasten.

Mein erster Gedanke war: oh nein, nicht noch eine Dunkle Nacht! Erfahrungen der Verhüllung Gottes kannte ich zur Genüge und ich war ziemlich entmutigt bei dem Gedanken, daß es noch weitere geben sollte. Als sich jedoch keine der üblichen Reaktionen einstellte (alles Erdenkliche von Angst bis Agonie), merkte ich, daß die Erfahrung nicht zu den vom heiligen Johannes vom Kreuz beschriebenen gehörte und schob den Gedanken beiseite. Außerdem spielte es keine Rolle, ich mußte mich einfach mit der Realität im Hier und Jetzt abfinden, einer Realität, in der kein Lebensgefühl in mir war.

So saß ich da, völlig wach, gesund, bei Kräften, augenscheinlich lebendig, kurzum, alles funktionierte wie immer – doch ich spürte kein Leben in mir. Was nun? Ich beschloß, ich könne ebensogut jetzt gleich mit dem Kochen des Abendessens beginnen, doch all die gewohnten Handgriffe liefen so mechanisch ab, als wäre ich ein Roboter. Ich konnte keine eigenen Energien mehr in meine Verrichtungen hineingeben. In meinem Tun war nichts Lebendiges, alles war völlig automatisch, bewegte sich bloß in den konditionierten Bahnen.

Nach einer Weile hast du dann genug und bekommst allmählich das dringende Bedürfnis, irgendwo Leben zu finden. Ich ging in den Garten in der Hoffnung, es dort zu finden, stand da und sah mich um. Ich wußte, da war Leben, doch ich konnte es nicht spüren. So ging ich herum wie eine Blinde, betastete alles, die Blätter und Blumen, reichte hinauf in die Kiefernzweige und ließ sie durch die Hände gleiten. Ich bückte mich und grub mit den Händen in der Erde. Dann legte ich mich ins Gras, die Handflächen nach unten, sah ins Kieferngeäst und fühlte den Luftzug über mir. Es war gut, hier zu sein. Alles war in Ordnung. Irgendwo war Leben überall um mich herum, wenn auch nicht in mir.

Unweit befand sich ein Vogelschutzgebiet, das ich in Krisenzeiten immer aufsuchte. So auch später an diesem Abend, bevor die Sonne unterging. Es lag nur wenige Häuserblocks entfernt und der Weg dorthin bot schöne Ausblicke auf das Meer mit dem meilenlangen Küstenstrich und den hinter dem Naturschutzgebiet aufsteigenden Hügeln. Meistens ging ich nur ein kleines Stück weit hinein, weil hinter dem Baumstumpf, auf dem ich gern saß, ein Sumpf begann, der tiefer und morastiger wurde, je näher man an einen der Teiche herankam – diese wurden von dem Fluß gebildet, der hier ins Meer mündete. An jenem Abend jedoch zog ich Schuhe und Socken aus und watete zur Mitte des Naturschutzgebietes vor, bis ich einen kleinen, kaum sichtbaren Felsen fand, der aus dem Moor ragte. Hier im hohen Schilf setzte ich mich zwischen die Wildgräser und versank – sank buchstäblich ein in das Leben, das ringsum und bald schon auch über mir war.

Hier hatte ich mich immer zuhause gefühlt. Es war ein Ort tiefen Friedens und geheimnisvoller Stille. Aus Erfahrung wußte ich, daß Probleme niemals durch Nachdenken gelöst werden – allein durch das Hiersein, hier draußen, im Freien, inmitten des wirklichen Lebens, sonderte sich das Wesentliche wie von selbst vom Unwesentlichen, so daß bei der Heimkehr alles Unwesentliche weggefegt war und ich den Weg, den ich einschlagen mußte, klar vor mir sah. So auch an jenem Abend. Ich fühlte mich zuhause, geborgener vielleicht als je zuvor. Rings um den kleinen Felsen sproß Leben, es sprudelte förmlich über und war überall. Es kompensierte so sehr mein eigenes fehlendes Leben, daß es die Ereignisse des Tages wie ungeschehen machte. Hier gehörte ich ohne Zweifel hin, umgeben und fest eingeschlossen in diesem flüchtigen, nicht lokalisierbaren Etwas, das sich „Leben“ nennt. Schließlich, dachte ich, ist vermutlich kein Mensch besser als die Elemente, aus denen er besteht – denn die Elemente sind ja sein Leben – doch wieso das so war, wußte ich nicht. Alles, was zählte, war einfach da zu sein.

Die folgenden Wochen verbrachte ich meistens im Freien. Drinnen war es kaum noch auszuhalten, alles war so mechanisch, leblos und allem fehlte jede persönliche Energie, daß ein Minimum an Hausarbeit das einzige war, was ich leisten konnte. Im Freien jedoch, irgendwo draußen strömte das Leben – friedlich, selbstvergessen, unwißbar – hier mußte ich sein. So streifte ich über die Hügel, die Flußufer und den Meeresstrand entlang, einfach nur schauend, wahrnehmend, seiend.

Zwar hatte ich schon immer geschaut und beobachtet, doch diesmal war es anders, weil ich in den Bäumen, den Feldblumen und dem Wasser ebensowenig Leben finden konnte wie in mir selbst – und doch war überall Leben. Seltsam, wie der Verstand danach strebt, dieses Unwißbare, das sich Leben nennt, zu lokalisieren und festzuhalten. Und wenn das Verlangen gestillt ist, wird er geblendet in diesem Wissen und beraubt sich für immer der einzigen echten Gewißheit, die der Mensch hat – so wenigstens sollte ich bald herausfinden. Jetzt erst einmal suchte ich nach dieser Gewißheit und fand sie nicht. Obwohl alles genauso leer schien wie ich selbst, wußte ich wohl, irgendwo in der Natur gab es Leben und ich wollte nur dort sein und daran teilhaben.

Auf einer Klippe über dem Meer, an einer kleinen Felsenbucht, wo Seehunde dösten, stand eine knorrige, windgeplagte Zypresse. Das war ein Lieblingsplatz von mir. Zwischen den leidgeprüften Wurzeln, wo sonst nichts wachsen konnte, war ein Fleckchen, wo man sich hinsetzen konnte, ohne einen einzigen Löwenzahn zu zertreten oder die vielfältige Flora zu stören, die dem Felsen seine Schönheit verlieh. Hier nun weihte mich die Natur in einem schlichten, stillen Moment in ihr Geheimnis ein und ich sah, wie alles eigentlich war. Gott, das Leben, war nicht in den Dingen, es war genau umgekehrt. Alles war in Gott. Und wir waren nicht in Gott wie Wassertropfen, die man vom Meer trennen kann, sondern eher wie… nun, das einzige, was mir einfiel, war, wie wenn wir versuchen wollten, von einem aufgeblasenem Ballon ein Stückchen abzukneifen. Wenn wir das abgekniffene Stückchen wegschneiden, platzt der ganze Ballon, es geht also nicht. Man kann nichts von Gott trennen, und sobald wir die Vorstellung des Getrenntseins aufgeben, taucht alles wieder zurück in die Ganzheit Gottes und des Lebens.

Zu sehen, wie es eigentlich ist, ist eines – es zu beschreiben, ein anderes. Eines ist sicher: solange wir an Antworten hängen, solange sich der Verstand an Definitionen und sonstiges klammert, werden wir die Dinge nie so sehen, wie sie wirklich sind. Solange wir uns von unseren Vorstellungen, was Leben sei, nicht lösen können, werden wir nie erkennen, wie völlig geborgen wir eigentlich sind und daß der Kampf ums eigene Überleben und persönliche Sicherheit reine Energieverschwendung ist. Diese Erkenntnis eröffnete mir einen neuen Ausblick. Ich begann, die Dinge anders zu sehen, und vor allem hörte ich auf, nach Leben suchend herumzustreifen – es ist offensichtlich überall, und wir sind darin – es gibt nichts anderes.

Im Rückblick möchte ich aber noch eines erwähnen, das ich auf diesem Weg gelernt habe. Eine einmalige Einsicht reicht nicht aus, um wirkliche Wandlung zu bewirken. Mit der Zeit sickert jede Einsicht in unseren gewohnten Bezugsrahmen, wird diesem angepaßt und verliert sich gewöhnlich im Klima des Verstandes – und der Verstand neigt dazu, jede Einsicht zu vergiften. Das Geheimnis, wie aus einer Einsicht bleibendes Wissen und Verstehen werden kann, liegt darin, sie weder anzurühren, festzuhalten noch zu dogmatisieren, ja nicht einmal über sie nachzudenken. Einsichten kommen und gehen, doch um sie bleibend zu machen, müssen wir mit ihnen fließen, sonst ist keine Wandlung möglich. Es ist ein Irrtum, wenn wir glauben, nur weil wir einen Ball zugespielt bekamen, wüßten wir, in welche Richtung wir zu laufen haben. So gehen vielleicht unsere bedeutendsten Einsichten verloren. Sie rutschen in unseren gewohnten Bezugsrahmen und wir kommen nicht vom Fleck. Doch wenn wir im Moment der Ballannahme wirklich bereit sind, werden wir vom Schwung mitgetragen und in den Sog mit hineingezogen – in welche Richtung auch immer. Ich gebe diese Erfahrung weiter, da ich sie auf mühsame Weise erringen mußte. Immer wenn Einzelheiten nicht zusammenpaßten oder wenn Einsichten außerhalb meines Bezugsrahmens lagen, fühlte ich mich viel verlorener als es nötig war. Das Herumsuchen und Nachjagen nach meinen unlösbaren Fragen brachte mir viele Erschwernisse, die ich mir hätte sparen können.

Ein Beispiel, wie ich wider Willen lernen mußte, war, als mir jegliche Empfindung eigenen Lebens abhanden gekommen war, und ich gezwungenermaßen nach Leben außerhalb von mir suchte. Nach rund vierzig Jahren der Erfahrung inneren Lebens war das eine sehr schwierige Zeit. Es war eine Zeit des Übergangs und der Akklimatisierung, ohne daß ich vorausschauen oder auch nur verstehen konnte, was geschehen war. Ich versuchte dennoch, so gut es ging zurechtzukommen, und da ich täglich die Kommunion empfing, dachte ich, es könnte vielleicht nützlich sein, wenn ich die Hostie jederzeit bei mir trage – in einer Pyxis um den Hals gehängt. Mit dem Wegfall des inneren Lebens hatte die Eucharistie keine Wirkung mehr auf mich. Während sie mich früher immer in ihre geheimnisvolle Stille hineingezogen hatte, trat jetzt keine solche Wandlung mehr ein. Wenn überhaupt, gab es zuviel der Stille. Da mir die Eucharistie die Empfindung von innerem Leben nicht wiedergeben konnte, fühlte ich mich doppelt verloren und beschloß, sie bei meiner Suche nach Gott draußen wenigstens bei mir zu tragen.

Nach einigen Wochen mußte ich jedoch einsehen, daß diese List nichts nützte, da sie weder ein Gefühl von Leben oder Geborgenheit noch sonst eine Veränderung meiner Lage brachte. An dem erwähnten Tag unter dem Zypressenbaum nahm ich dann die Hostie und erkannte, daß alle Dinge in Gott waren, daß Er näher und persönlicher war, als ich jemals zu hoffen gewagt hatte. Plötzlich zu begreifen, du lebst und wandelst in Gott, ist eine einmalige Entdeckung, die das Gefühl des Verlorenseins, das mit dem Verschwinden der persönlichen Lebensempfindung einhergeht, für immer vertreibt.

Wenn nichts anderes, so zeugt dieses Ereignis (und viele, die unerzählt bleiben) von meiner unentwegten Anstrengung, am gewohnten Bezugsrahmen festzuhalten, ein Klammern, das nichts enthüllte, bis es losgelassen wurde. Ich könnte hinzufügen, daß unter den vielen Vorstellungen, die ich aufgeben mußte, auch meine Vorstellung vom Aufgeben war. Es war nicht ich, die mein Selbst für Gott aufgab, vielmehr hatte Gott das Selbst ganz und gar aufgegeben. Wenn man über das Selbst hinaus geht, geht eben alles dahin, selbst „das“, von dem ich erwartete, daß es bleiben würde.

Ein oder zwei Wochen nach dieser Einsicht begab ich mich zur Einkehr bei den Einsiedler-Mönchen am Big Sur. Am zweiten Tag spätnachmittags stand ich an ihrem böigen Abhang und blickte über den Ozean, als eine Möwe kam, die gleitend, tauchend auf dem Wind spielte. Ich beobachtete sie, wie ich noch nie in meinem Leben etwas beobachtet hatte. Ich war wie gebannt, es war, als ob ich mich selbst im Flug erblickte – die übliche Trennung zwischen uns war aufgehoben. Doch da war noch mehr da als nur die fehlende Getrenntheit, es war „etwas“ wahrhaft Schönes, Unbegreifliches. Als ich endlich meinen Blick den mit Kiefern bewachsenen Hügeln hinter dem Kloster zuwandte, war auch da keine Trennung, nur das „etwas“, das mit und durch jeden Anblick strömte und durch jedes einzelne Ding. Das Einssein all dessen zu erblicken ist so, als hättest du eine 3D-Brille vor den Augen, und ich dachte mir: sicher ist es das, was sie meinen, wenn sie sagen „Gott IST Überall“.

Ich hätte den Rest meines Lebens dort stehenbleiben und schauen können, doch nach einer Weile dachte ich, das sei zu schön, um wahr zu sein. Der Geist gaukelte mir da etwas vor und beim Glockenschlag würde alles weg sein. Nun, schließlich schlug die Glocke und am folgenden Tag schlug sie wieder und die ganze Woche, aber die 3D-Brille war noch immer intakt. Was ich für ein Täuschungsmanöver des Geistes hielt, entpuppte sich als permanente Art des Sehens und Wissens, die ich nach besten Kräften zu beschreiben versuche. Meine ganze Welt wurde langsam von innen nach außen gestülpt. Ich sollte nie wieder zur gewohnten relativen Sichtweise separater Dinge oder Individualitäten zurückkehren. Damit aber kein Irrtum entsteht, das Verschwinden der Getrenntheit ist in sich bedeutungslos. Was an dieser Art des Sehens von Bedeutung ist, ist DAS, worin sich alle Getrenntheit auflöst.

Bevor ich fortfahre und die neue Art des Sehens zu beschreiben versuche, möchte ich noch sagen, daß nach der Entdeckung Gottes Überall – Seines Einsseins, wie ich es nannte – ich tausendfach belohnt wurde für den bestürzenden Verlust eines persönlichen Gottes im Innern. Scheinbar mußte ich zuerst durch beide, den persönlichen und den unpersönlichen hindurch, um zu erkennen, daß Gott näher als beide und jenseits von beiden lag.

Die Vorstellungen und Erfahrungen Gottes als persönliche im Innern oder unpersönliche im Äußeren sind rein relativ und gehören zum Selbst und seiner typischen Art von Bewußtsein. Gott aber ist jenseits der Relativität unserer Vorstellungen und Erfahrungen. Er ist uns tatsächlich so nahe, daß er nicht lokalisierbar ist. Diese Nähe zu begreifen, sie zu sehen, ist die Entdekkung der Definition Gottes als „Überall“. Gott IST tatsächlich überall, ist alles, was wahrhaft existiert, denn wohin wir auch blicken, gibt es nichts anderes. In Wahrheit ist Gott somit weder persönlich noch unpersönlich, weder innen noch außen, sondern grundsätzlich überall und nirgends im Besonderen. Gott ist alles, was wirklich existiert – alles natürlich außer dem Selbst.

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