Читать книгу Jenseits von Ego und Selbst - Bernadette Roberts - Страница 7
ОглавлениеEinleitung
Dies ist der persönliche Bericht einer zweijährigen spirituellen Reise, in deren Verlauf ich das Abfallen all dessen erlebte, was man als Selbst bezeichnen könnte. Der Weg führte durch einen unbekannten Durchlaß in ein so andersartiges und neues Dasein, das ich trotz vierzig Jahren diverser kontemplativer Erfahrungen niemals für möglich gehalten hätte. Die Erfahrung eines Seins ohne Selbst, die so jenseits all meiner Erwartungen lag, blieb mir völlig unbegreiflich und paßte in kein mir bekanntes Bezugssystem. Obwohl ich in Bibliotheken und Buchläden stöberte, fand ich nirgends eine Erklärung oder Darstellung eines ähnlichen Geschehens, was mir damals sehr geholfen hätte. Den vorliegenden Bericht schrieb ich in Anbetracht des Mangels an schriftlichen Darstellungen und in der Hoffnung, daß er jenen nützen möge, deren Bestimmung eine ebensolche Reise über das Selbst hinaus bereithält.
Meine inneren Erfahrungen reichen bis ins frühe Kindesalter zurück, doch erst mit fünfzehn entdeckte ich, daß sie sich wie-Teile eines Puzzles in den größeren Rahmen der christlich-kontemplativen Tradition einfügen. Dieser Entdeckung folgten zehn Jahre relativer Abgeschiedenheit, im Streben nach dem christlichen Ideal der Vereinigung mit Gott. Als ich gewiß war, dieses Ziel erreicht zu haben, trat ich in ein üblicheres Leben ein, in dem ich mich bis heute befinde.
Das christliche Ideal der Selbstaufgabe wird traditionell als Umwandlung oder Verlust des Ego (des niederen Selbst) gesehen, das zum höheren oder wahren Selbst in seinem Einssein mit Gott gelangt. In diesem Einssein behält das Selbst jedoch seine individuelle Einmaligkeit und verliert ontologisch nie sein eigenständiges Selbstsein. Daß ich mich selbst verloren hatte, bedeutete zugleich, mich als Teilhaber am göttlichen Leben in Gott wiederzufinden. Von da an ist das Grundgefühl von Sein und Leben gleichermaßen das Gefühl von Gottes Sein und Leben – nicht länger habe ich das Gefühl von „meinem“ Leben, sondern von „unserem“ Leben – Gott und Selbst. In diesem bleibenden Zustand ist Gott als stiller Ruhepol im Mittelpunkt des Seins der spirituellen Betrachtung stets zugänglich – das ist der Punkt, an dem das Selbstsein entspringt und in dem es zuweilen verschwindet. Dieses letztere Verlieren des Selbst ist jedoch kein Dauerzustand, sondern nur vorübergehend. Es war mir auch nie in den Sinn gekommen, daß das in diesem Leben jemals möglich wäre.
Vor der besagten inneren Reise schenkte ich dem Selbst, seiner Tragweite und seinen Definitionen wenig Beachtung. Das Selbst war für mich einfach die Gesamtheit des Seins, Körper und Seele, Denken und Fühlen, eines Seins zentriert in Gott als seiner Kraftachse und seinem Ruhepunkt. Da das Selbst im tiefsten Innern auf das Göttliche trifft, fand ich nie ein wahres Selbst ohne Gott – wo wir den Einen finden, findet sich auch das andere.
Soweit reichten meine Erwartungen, daher war ich umso überraschter und verwirrter, als ich viele Jahre später in einen Dauerzustand geriet, in dem kein Selbst da war, kein höheres oder wahres Selbst noch sonst etwas, das man Selbst nennen könnte. Offensichtlich war ich aus jedem Bezugsrahmen gefallen, aus meinem eigenen wie auch dem der Tradition, als ich auf einen Weg stieß, der dort anzufangen schien, wo die Beschreibungen der vita contemplativa abbrechen. Doch aus der eindeutigen Gewißheit, daß das Selbst verschwunden war, ergab sich automatisch die Frage, was da weggefallen war – was war das Selbst? Was genau war es gewesen? Und am allerwichtigsten: was bleibt, wenn das Selbst weg ist? Die hier geschilderte spirituelle Reise enthüllt schrittweise die Antworten auf diese Fragen, die sich einzig und allein aus der persönlichen Erfahrung ergaben, da sich von außen keine Erklärung anbot.
Mit Ausnahme des wenigen, das ich bei Meister Eckhart fand, stand ich mit meiner Erfahrung ratlos da, und in den Werken östlicher Traditionen, die in meiner Umgebung verfügbar waren, begegnete ich dem gleichen Mangel an Erklärungen. Obwohl die buddhistische Vorstellung der Selbstlosigkeit, vom „Nicht-Selbst“ mir sehr wahr zu sein schien, fehlte jede Ewähnung, wie wir zuvor der Ganzheit des Selbst in seiner Vereinigung mit Gott begegnen, und so blieb die christliche Erfahrung der Selbsthingabe natürlich ungeklärt. Gut möglich, daß, je intensiver jemand zuerst das Einssein erfährt, ihm sein Wegfallen umso unerklärlicher und bestürzender erscheinen muß. Erst wenn dieser Übergang hinter uns liegt und wir uns an das neue Dasein gewöhnt haben, verschwindet der relative Unterschied zwischen Selbst und Nicht-Selbst aus unserer Reichweite. Doch dann haben wir auch schon gesehen, wo der Weg langgeht, und brauchen keine Erklärungen mehr.
Als ich erkennen mußte, wie allein ich war in dieser Kluft zwischen dem höchsten christlichen Ideal des Selbstverlustes und der unmittelbaren Erfahrung, zog ich meine eigenen Schlüsse. Vor allem bin ich überzeugt, daß das innere Leben aus zwei verschiedenen und separaten Entwicklungen besteht, denen ganz bestimmte, typische Erfahrungen entsprechen. Die erste von beiden ist die Bewegung auf die Vereinigung mit Gott zu, die mit dem psychologischen Integrationsgeschehen parallel zu laufen scheint. Ihre Schwerpunkte sind innere Prüfungen und dunkle Nächte, die das Selbst festigen im permanenten Einssein mit Gott, dem Ruhepunkt und der Achse seines Seins. Hier erkennen wir, daß das Selbst nicht verlorengeht, sondern sich vielmehr als neues Selbst entpuppt, das aus der tiefsten, innersten göttlichen Mitte heraus lebt.
Auf diese erste Bewegung folgt ein zeitlicher Zwischenraum (zwanzig Jahre in meinem Falle), während dem das Einssein einer Reihe von äußeren (nicht inneren) Prüfungen unterzogen wird, bis sich die Einheit zutiefst in ihrer Beständigkeit und Festigkeit bewährt und allen Kräften standhält, die an ihrem Kern rütteln, sie zersetzen oder stören wollen. In dieser Periode entdecken wir auch die Schönheit und das Wundersame an diesem Geschenk der Einheit – und vor allem entdecken wir, was dieses Ganzsein bedeutet und wie es in unserem Alltag auf dem Marktplatz des Lebens wirkt. Anfangs geht es darum, daß wir uns an den Unterschied zwischen dem Leben mit dem früheren, fragmentierten Selbst und dem Leben mit dem neuen Selbst gewöhnen, das sich aus seiner Mitte in Gott nicht mehr wegrücken läßt. Letzten Endes ist das ein Stadium, wo wir, falls äußere Prüfungen ausbleiben, regelrecht nach ihnen Ausschau halten, da die aus dem Einssein entstehende Energie nach außen streben muß (und zwar als Ganzes, und nicht als verstreute Kraft), nach Ausdruck sucht, nach Herausforderung – sogar nach Leiden –, um diese unversiegende Liebe zu enthüllen und zu bekennen.
Ich möchte hinzufügen, daß im kontemplativen Schrifttum auch die Jahre zwischen den Phasen weitgehend unbeachtet bleiben und ihre Bedeutung sehr unterschätzt wird. Bei diesem Zeitraum „auf dem Marktplatz des Lebens“ handelt es sich eigentlich um die Vorbereitung einer großen Explosion – einer stillen allerdings – die einen weiteren großen Wendepunkt einleitet. Anscheinend wird am Ende des Marktplatzes ein Punkt erreicht, wo das Selbst so völlig mit dem Ruhepol in Einklang ist, daß es sich nicht mehr, auch nicht in seinen ersten Regungen, aus der Mitte wegrücken läßt. Von keiner Gewalt und von keiner Prüfung kann es mehr auf die Probe gestellt, noch von den Stürmen des Wandels bewegt werden. Zu diesem Zeitpunkt hat das Selbst offensichtlich seine Funktion verwirkt, es ist nicht länger nützlich oder nötig, und das Leben kann ohne es weitergehen. Wir sind bereit, weiterzuziehen, über das Selbst hinaus, sogar über das intime Einssein mit Gott hinaus. Hier betreten wir wieder ein neues Dasein – vielleicht am besten bezeichnet als ein Leben ohne Selbst.
Der Anbruch der zweiten Entwicklungsphase ist gekennzeichnet durch das Abfallen des Selbst und das Auftreffen auf das, was bleibt, wenn es nicht mehr da ist. Dieser Wegfall ist umwälzend, eine komplette Umkehrung solchen Ausmaßes, daß sie unmöglich übersehen, unterbewertet oder genügend in ihrer Bedeutung als Meilenstein im inneren Leben betont werden kann. Es ist weit mehr als die Entdeckung eines Lebens ohne Selbst. Die unmittelbare und unausbleibliche Folge ist ein Ankommen in einer neuartigen Dimension des Wissens und Seins, die eine schwierige und langwierige Akklimatisierung erfordert. Der reflexive Mechanismus des Geistes – also die Instanz, die Ichbewußtsein und Selbst ermöglicht – ist abgeschnitten und auf Dauer außer Kraft gesetzt, so daß von nun an das Bewußtsein im Jetzt fixiert ist, und von seiner ununterbrochenen Schau des Unbekannten nicht abrücken kann.
Die Reise ist somit nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Periode der Akklimatisierung an eine neue Art des Sehens, eine Zeit des Übergangs und des allmählichen Erkennens dessen, was bleibt, wenn kein Selbst mehr da ist. Das ist kein Weg für diejenigen, die sich Liebe und Glückseligkeit erhoffen, sondern für Mutige, die im Feuer geprüft wurden und unerschütterlich auf das vertrauen, was jenseits des Gekannten liegt, jenseits vom Selbst, jenseits vom Einssein, sogar jenseits von Liebe und Vertrauen.
Der Zeitpunkt, an dem das Selbstbewußtsein endgültig aufhört und ein neuer Weg beginnt, stellt einen so entscheidenden Wendepunkt oder Meilenstein im kontemplativen Leben dar, daß ich nur rätseln kann, wieso über diesen Durchbruch so wenig ausgesagt ist. Vielleicht werde ich mich mit dem Schweigen der Autoren nie abfinden können, die über diese zweite Bewegung nichts verlauten lassen. Vielleicht gehen manche Mystiker gelassen mit etwas um, das für andere eine gewaltige Explosion darstellt – oder vielleicht spielen die Verfasser einfach herunter, was sie nicht verstehen und unorthodox oder ausgefallen scheint. Oder vielleicht – und zu dieser Ansicht neige ich – brachten sie die beiden Bewegungen durcheinander, weil sie nicht genügend zwischen dem grundlegenden Wandel im Bewußtsein und dem Aufhören des Bewußtseins unterschieden – zwischen dem ersten Schritt über das gewöhnliche Selbst (Ego) und dem späteren über das höhere, wahre Selbst hinaus – zwischen der Vereinigung mit Gott und Gott jenseits des Einsseins. Da das kontemplative Leben insgesamt gesehen kontinuierlich verläuft, ist es oft schwer, eine Grenze zu ziehen und Unterschiede klar zu erkennen, bis man selbst auf die Marksteine trifft und der Unterschied zwischen den Phasen offensichtlich und unverkennbar zutage tritt.
Meine Absicht in dieser Schrift ist daher, zur Klärung der zweiten Entwicklungsphase beizutragen, sie besser erkennbar zu machen und – wenn möglich – die wahre Bedeutung des Selbstverlustes im christlichen Sinne zu erhellen. Zum Teil entspringt dieser Versuch der Überzeugung, daß dieses Geschehen nicht ungewöhnlich ist, daß viele Menschen dieses Stadium entweder erreicht haben oder erreichen werden und für sie Erklärungen genauso wichtig sind, wie sie es für mich gewesen wären. Wenn Zweien auch nie dieselben Erfahrungen zuteil werden, haben jene, die ihr wahres Selbst in Gott fanden und dann wieder verloren, sicher gewisse Konsequenzen und Entdeckungen gemeinsam.
Ich versuchte, die Erfahrungen zu beschreiben, solange sie noch im Gange waren. Doch erst als das Geschehen vorüber war – als der relative Unterschied zwischen Dasein mit oder ohne Selbst nicht mehr in Erscheinung trat – verfaßte ich den Bericht in seiner jetzigen Form und gab ihn einigen Freunden zum Lesen, zur Stellungnahme und Kritik. Obwohl viel zu nachsichtig in bezug auf den Inhalt oder die hausbackene Prosa, waren sie dennoch freimütig in ihren Fragen und Einwänden. Als Erwiderung dazu verfaßte ich den zweiten Teil, wobei ich versuchte, Antworten zu finden, die während des Übergangs noch nicht ersichtlich waren.
In mancher Hinsicht lernte ich beim Abfassen dieser Endkapitel mehr über das Erlebte, als während es sich zutrug. Es scheint im Wesen des Durchlasses zu liegen, daß er ein Zustand totalen Nichtwissens ist, was dem Erlebten wohl eine gewisse Schönheit und etwas Mystisches verleiht, doch auch Bestürzung verursacht. Daraus ergaben sich gewisse Erschwernisse, die, so glaube ich, bei Vorhandensein entsprechender Informationen hätten vermieden werden können. Erst als die Reise zu Ende war und ich zurückblicken konnte, erlangte ich ein besseres Verständnis und war dann fähig, die Deutungen in den letzten Kapiteln anzubieten.
Dort habe ich auch auf mein Vorleben hingewiesen, wo es zum Verständnis des Geschehens im Zusammenhang mit Vergangenem notwendig schien. Dieses Vorleben erwähnte ich anfangs nicht, da ich mich hier einzig und allein mit jener relativ unerforschten Lebensdimension befasse – der Bewegung über das Selbst hinaus. Ich war mir auch bewußt, daß dieser Übergang, wenn ich ihn nicht baldmöglichst schriftlich festhielte, in Vergessenheit geraten würde. Eines der ersten Dinge, die man auf dieser Reise lernt, ist, daß von den einzelnen Erlebnissen nichts zurückbleibt, kaum eine Fußspur und sicherlich keine lebhafte Erinnerung. Man lernt mit einem Wort, ohne Vergangenheit zu leben.
Aus diesem Grunde schrieb ich schnell, bevor das Erlebte für immer verloren war und das Leben ohne Selbst so sehr verblaßte wie der Tag meiner Geburt. Die Befreiung von der Vergangenheit machte es auch möglich, auf die Person bezogen zu schreiben – ich hätte es früher nie gewagt –, weil das Erlebte nicht mehr „mir“ gehört. Ich betrachte es wie irgend einen anderen Lebensumstand oder etwas, das sich um uns herum ereignet. Somit steht es jetzt unabänderlich für sich, wo es für immer bleiben wird – als etwas Vergangenes.
Zum Schluß betone ich nochmals, daß die folgenden Erfahrungen nicht die erste Phase im spirituellen Leben, also nicht die seelische Vertiefung im Einssein mit Gott, beschreiben. Diese wurde bereits an anderer Stelle beschrieben. Ich glaube auch, daß sie genügend behandelt wurde, ist sie doch zwangsläufig das alleinige Thema kontemplativer Autoren. Somit beginne ich dort, wo diese abbrechen. Hier beginnt die Reise über Einssein, Selbst und Gott hinaus in die stillen Regionen des Unbekannten.