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Kapitel 2 - Die Begegnung

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Es war erst gegen sechs Uhr als Aurelie am nächsten Morgen ihre ozean-blauen Augen aufschlug. Gähnend wanderte ihr Blick auf den kleinen hölzernen Wecker, in dem ein goldener Sekundenzeiger fleißig tickend voranschritt. Marlon Bell hatte ihn seiner Tochter zum vierten Geburtstag geschenkt und dabei voller Stolz erzählt, dass sich das antike Stück schon seit vielen Generationen im Familienbesitz befand.

„Der Wecker kennt die rechte Zeit“, habe Urgroßvater Bell immer dann in seinen ergrauten Kinnbart gemurmelt, wenn er die filigranen goldenen Verzierungen, die sich am äußeren Rand des rötlichen Nussbaumholzes entlang schlängelten, mit Bohnerwachs polierte.

Aurelie erhob sich – verwundert darüber, dass die vielen mit Filzstift selbst gemalten Einhörner, Feen und anderen Fabelwesen, die jede Stelle der sonst perlmuttweißen Wände ihres Zimmers schmückten, schon so früh am Morgen in grellen Farben strahlten – pfeilartig aus dem Bett. Dinky, die wie so oft gewartet hatte, bis Mutter Bell auf dem graukarierten Zweisitzer-Sofa mit Schaumstoffpolsterung im Wohnzimmer eingeschlafen war, um sodann auf leisen Samtpfoten in Aurelies Zimmer zu schleichen, wurde fast von dem kuscheligen purpurnen Bettüberwurf, auf dem sie sich gemütlich wie eine Zimtschnecke eingerollt hatte, geschleudert. In letzter Sekunde war es ihr noch gelungen die scharfen Krallen in die roten Fasern zu rammen. Mit ihren mandelförmigen gold-gelben Augen blickte das über die Bettkante hängende Tier das Mädchen vorwurfsvoll an. Doch Aurelie sprang, ohne Notiz von Dinkys unsanftem Erwachen zu nehmen, schwungvoll aus dem lichtbraunen Rattanbett und eilte zu einem der doppelflügeligen Holzkastenfenster. Als sie ihren Kopf zwischen den schweren taubenblauen Gardinen hindurchschob, breitete sich ein Strahlen in den dunkelblauen Augen aus und ließ die gelben Punkte am Rande der Pupillen aufleuchten. Sie gluckste vor Freude darüber, dass Bredhurst sich ihr in ein weißes Schneekleid gehüllt zeigte und hüpfte aufgeregt zum großen aus Fichtenholz geschreinerten Bauernschrank, der in der hinteren rechten Ecke des quadratischen Zimmers aufgestellt war. Fast stürzte sie dabei über die unzähligen Bücher, die turmförmig überall am Boden des Raumes gestapelt waren. In Windeseile kramte sie ihre verstaubten knallgelben Winterstiefel mit der warmen Lammfellfütterung aus den Untiefen des Schrankes hervor, indem sie die unzähligen darüber geschichteten Kleidungsstücke in hohem Bogen über ihre Schulter nach hinten schleuderte. Voller Enthusiasmus stülpte sie sich ihre altmodischen aber wohlig warmen Wollstrumpfhosen und ihren allerliebsten sandfarbenen Strickpullover mit Stehkragen über, mummelte sich mit einem aus dicker Wolle gehäkelten Schal, der dazu passenden Mütze und einer prallgefüllten braunen Daunenjacke derart ein, dass man von ihrer schlanken Figur gar nichts mehr erkennen konnte. Dann packte sie die verdutzte Dinky, die gerade dabei war, ihr schwarzes Samtfell mit feinen Pfotenschwüngen sauber zu lecken, wie eine Zeitungsrolle unter den Arm und öffnete so leise wie möglich die alte knarzige Holztüre zum Wohnzimmer, in dem Alice Bell noch gerädert von der langen Arbeitswoche tief und fest schlief. Auf Zehenspitzen schlich das Mädchen durch den liebevoll eingerichteten Raum, der zugleich als Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer diente, bis zum grün gemaserten Portal, das nach draußen führte. Aurelie wusste genau, wie man die massive Brettertüre kaum hörbar öffnen konnte. Zuerst musste man diese mit gedrückter Klinke ein paar Millimeter langsam nach vorne pressen, dann die Klinke vorsichtig loslassen und im gleichen Moment die Türe schwungvoll einen Spalt, der gerade so breit war, dass sich das wie in einen fluffigen Wattebausch gepackte Mädchen gerade noch durchschieben konnte, nach hinten ziehen.

„Auf geht‘s Dinky!“, flüsterte Aurelie in vielversprechendem Ton.

Sie blickte tief in die mandelförmigen Katzenaugen, als ob sie sich eine Antwort erhoffen würde, während sie das Fellbündel auf die dunkelrote Fußmatte absetzte. Das grazile Tier war jedoch alles andere als begeistert davon, die warme Stube verlassen zu müssen. Der frostige Windstoß, der durch das seidige schwarze Deckhaar bis zur Unterwolle durchdrang, ließ den schlapp herunterhängenden Schwanz auf sein doppeltes Volumen aufsträuben.

Doch Aurelie dachte nicht daran, auf ihren Ausflug zu verzichten. Sie stapfte schnellen Schrittes die Kemsley Street Road entlang. Vorbei an den naturweißen kubischen Häusern, die mit ihren bekiesten Flachdächern und den wenig lichtbringenden anthrazitfarbenen Fenstern an unfreundliche Gesichter erinnerten. Nach nur wenigen Metern erreichte sie ein großes Feld, dessen Grasbewuchs man durch die dicke Schneedecke nur mehr erahnen konnte. Dahinter präsentierten die mächtigen Tannen des Church Wood stolz ihr neues Winterkleid. Dinky hatte schon befürchtet, dass Aurelie auch heute wieder dieses Ziel auserkoren würde. Nur schwer gelang es der Katze dem Mädchen, das wie ein Gummiball durch den Schnee zu hüpfen schien, zu folgen. Die zarten Pfoten sanken immer wieder tief in die kalt-nasse Schaumkrone ein. Sie hätte Aurelie trotz der feuerroten Strähnen, die unter der grauen Wollmütze hervorleuchteten, wohl schon längst aus den Augen verloren, wenn diese nicht immer wieder angehalten hätte, um sogleich mit einem großen Satz in den Schnee zu springen und am Boden liegend mit wild wedelnden Armen und Beinen einen Schneeengel zu formen. Aurelie liebte den Winter. Während die anderen Kinder vor ihren Kaminen mit heißem Kakao und Marshmallows abzuwarten schienen, bis der Frühling wieder ins Land zog, fühlte sie sich pudelwohl, wenn ihre Wangen sich in einen lebendigen Rotton färbten, als ob sie sich von der frostigen Brise geschmeichelt fühlen würden.

Schließlich erreichten die beiden Wanderer den Waldrand, an dem sich eine riesige Tanne neben der anderen pompös aufreihte. Die Baumfront schien den dahinterliegenden düsteren Church Wood wie eine schützende Armee zu bewachen. Immer wieder durchbrach ein lautes Ästeknacken die morgendliche Stille. Für so manch anderen hätten diese Geräusche schon gereicht, um in Furcht und Panik die Flucht zu ergreifen. Doch Aurelie kannte den Wald wie ihre Westentasche. Sie hatte schon jede Höhle erkundet, jeden Strauch erforscht und war auf jeden Baum geklettert. So oft war sie stundenlang auf dem moosigen Boden gesessen und hatte beobachtet wie Rehe sich in graziösen Sprüngen ihren Weg durch das Dickicht suchten.

Zielstrebig wanderte das rothaarige Mädchen an den ersten Baumreihen vorbei, bis sie direkt vor ihren schneebedeckten Stiefeln die Abrücke von vier kleinen Zehen mit spitzen Krallen entdeckte. Da sich die vorderen Ballen des Abdruckes nicht mit den hinteren Ballen überschnitten, konnte es sich nur um einen Fuchs handeln. Hellauf begeistert und in der Hoffnung dem farbenprächtigen Waldbewohner zu begegnen folgte Aurelie der Schneespur Pfote für Pfote weiter in den Wald hinein. Diese endete schließlich unter einer majestätischen alten Fichte, die derart weit in den Himmel reichte, dass Aurelie das Ende der Baumkronen gar nicht erblicken konnte. Gut versteckt zwischen Laub und hervorstehendem Wurzelwerk war der Eingang zu einer kleinen Höhle erkennbar. Aurelie kniete sich auf den angezuckerten Boden und beugte ihren haubenbedeckten Kopf so tief in Richtung der dunklen Öffnung, dass die roten Locken den Boden berührten. Als erfahrende Abenteurerin hatte sie für solche Momente stets eine kleine Taschenlampe in ihrer Jackentasche verstaut. Mit dem schmalen Lichtstrahl leuchtete sie in das Innere des Erdlochs. Dort waren verschachtele unterirdische Gänge verborgen. Wohin diese wohl führten?

Während ihr Kopf in der Bodenöffnung verschwand, überhörte Aurelie das dumpfe Knarren aus den oberen Regionen der gewaltigen Fichte völlig und bemerkte nicht, dass plötzlich ein langer morscher Ast unter der schweren Last der Schneedecke nachgab, sich vom Rest des Baumes abtrennte und nach unten stürzte, während er die darunterliegenden Äste wie ein gewaltiges Geschoss mit sich riss. Erst als sich das geballte Astwerk nur mehr wenige Meter über ihrem Körper befand, drang das laute Getöse endlich zu ihr vor. Doch es war zu spät. Selbst ein hastiger Seitwärtssprung konnte sie nicht mehr vor einem Zusammenstoß bewahren. In leicht geduckter Haltung erstarrte das Mädchen zur Salzsäule und hielt sich im Reflex schützend die Hände vor das mit kleinen Sommersprossen überzogene Gesicht.

So konnte sie nicht sehen, wie sich von einer Sekunde in die andere Dinkys schlanker Katzenkörper, der sich nur wenige Meter entfernt auf dem Stamm eines umgefallenen Baumes sitzend bemühte, die nassen Pfötchen trocken zu lecken, in undurchsichtigem schwarzem Nebel auflöste. Die Schwaden formten sich nach und nach in eine menschliche Silhouette, bis letztlich statt dem Katzentier eine rundliche Dame mit wildem weißrotem Lockenschopf auf dem Baumstumpf stand. Im nächsten Moment zückte die kleingewachsene Person einen dünnen, nach vorne spitz anlaufenden Holzstab aus der rotkarierten Schürze, die unter einem langen braunen Ledermantel mit dunkelgrauer Wollfütterung hervorblitzte, hielt diesen wie ein Dirigent in Richtung des niederdonnernden Astes und sprach laut die Worte Corpus Tempusa Remorarium.

Aurelies Herz pochte so laut, dass sie es tief im Inneren ihres Kopfes hören konnte. Sie wagte es kaum zu atmen. Doch als sie auch nach einer Minute noch immer nicht unter dem Astwerk begraben wurde, öffnete sie vorsichtig die blitzblauen Augen und blickte durch ihre weit gespreizten Finger schräg nach oben. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Doch das unerklärliche Bild blieb auch noch unverändert, als sie die Hände vom Gesicht nahm, sich aufrichtete und den Kopf steil gen Himmel streckte. Die üppige Masse aus schneebedeckten Ästen schwebte nur gut einen halben Meter über ihrem Kopf. Freistehend. Schwerelos. Den Naturgesetzen trotzend.

Träumte sie? Oder war sie etwa ohnmächtig geworden? Oder? Nein. Sie konnte doch nicht tot sein. Oder etwa doch? Ungläubig hob sie die rechte Hand und ließ die spitzen Baumnadeln durch ihre Finger gleiten. Der harzige Baumgeruch drang in ihre Nase. Nein, es war keine Einbildung. Die Äste schwebten tatsächlich. Während sie mit den Fingerspitzen die feuchten Äste entlang tastete, versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen.

„Geh schon zur Seite mein Kind!“

Erst jetzt realisierte Aurelie die Gestalt, die nur wenige Meter von ihr entfernt auf dem umgekippten Baumstamm stand und angestrengt das dünne Holzstäbchen in die Höhe streckte. Der Anblick zog sie gänzlich in ihren Bann. Als würde ein Gespenst vor ihr stehen. Das Mädchen starrte so tief in das faltige Gesicht, dessen Nase wie ihre eigene von unzähligen Sommersprossen geziert wurde, dass sie die gelben Punkte am rechten und linken äußeren Rand der in blaue Farbe gehüllten Pupillen ganz genau erkennen konnte.

„Zur Seite sollst du gehen!“, wiederholte die Dame ihre Worte in so bestimmendem Ton, dass Aurelie sich wie ferngesteuert folgsam in langsamen seitlichen Schritten immer weiter aus der Fallrichtung des Astwerkes bewegte, ohne dabei ihren Blick nur eine Sekunde von der pummeligen Dame abzuwenden.

Nachdem sie den Gefahrenbereich verlassen hatte, ließ die alte Frau den hölzernen Stab in ihrer Hand erleichtert nach unten sacken, wodurch der Ast wieder aus seinem Erstarrungszustand befreit wurde und mit lautem Getöse auf den gefrorenen Boden prallte.

Erschrocken durch den unerwarteten Lärm drehte Aurelie sich um die eigene Achse. Jene Stelle, an der sie zuvor am Boden gekniet war, war völlig vom Astwerk verschlungen worden. Dem Mädchen stockte der Atem, als ihm bewusstwurde, dass seine Neugierde ihm diesmal fast das Leben gekostet hätte. In den Untiefen des Waldes hätte bestimmt niemand seine Leiche gefunden. Wahrscheinlich wäre diese ein abwechslungsreiches Mahl für die fleischlustigen Waldbewohner geworden.

Als Aurelie ihren Kopf wieder zu Seite drehte, war ihre Retterin schon wieder verschwunden. Sie eilte zu dem Baumstamm, doch weit und breit war nichts und niemand zu sehen. Wo war sie nur hin? Oder hatte sie sich die schürzenbekleidete Frau nur eingebildet? Nein, da. Ihr Verstand spielte ihr keine Streiche. Auf der dünnen Schneeschicht, die die Oberseite des Stammes benetzte, zeichneten sich eindeutig die Abdrücke von Frauenstiefeln mit breitem Absatz ab. Die Abenteurerin umkreiste das Holzwerk, um eine Fährte aufzunehmen. Es war nirgends eine Spur zu entdecken. Hatte sich die heldenhafte Dame einfach in Luft aufgelöst?

Ratlos schlenderte Aurelie zurück zur Waldgrenze. Während sie durch das an die Kemsley Street Road angrenzende Feld stapfte, suchte sie angestrengt nach einer logischen Erklärung für die merkwürdigen Ereignisse. Sie war ja schon oft derart in ihre Tagträume versunken, dass sie die wahre Welt um sich herum völlig ausblendete, aber diesmal war es anders. Diese Geschichte schien nicht ihrer Fantasie entsprungen zu sein.

Als sie die Türklinke der grünen Eingangstüre des kleinen Backsteinhäuschens öffnete, strömte ihr bereits der Geruch von frischen Pfannkuchen in die Nase.

„Na, du kleine Ausreißerin? Ich wette, du hast einen Bärenhunger mitgebracht“, rief Alice Bell ihrer Tochter mit freundlicher Stimme zu.

Aurelie warf die nassen Stiefel und die schneebedeckte Jacke unsanft in die Ecke des langgezogenen Vorraumes und eilte in die Wohnküche. Sie fiel ihrer Mutter, die gerade dabei war, den ovalen mintgrünen Holztisch mit geblümten Frühstücksgeschirr zu decken, in die Arme. Freudig erwiderte die schlanke Frau, deren lange blonde Strähnen in morgendlicher Manier wild nach oben standen, die herzliche Umarmung.

„Dinky war es heute wohl zu kalt, um dich zu begleiten“, lachte Alice Bell und zeigte in Richtung des kleinen Holzofens auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, vor dem sich die schwarze Katze entspannt am Dielenboden räkelte.

Aurelie in der Welt der Wesentlichen

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