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Kapitel 3 Die Begegnung

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Alice Bell war nicht sonderlich erstaunt über die neue Lieblingsbeschäftigung ihrer Tochter, die in letzter Zeit fast täglich einen Kochlöffel schwingend durch den Garten hüpfte und immer wieder Simsalabim und Hex-Hex rief, während sie Miss Clives alte Kochschürze, die über und über mit kleinen Gänseblümchen bestickt war, fest um die braune Daunenjacke gebunden trug. Das Mädchen mit den feuerroten Wellen hatte sich schon im Kleinkindalter ständig neue kreative Spiele ausgedacht. Während andere Kinder sich ohne Computerspiele oder die gute alte Flimmerkiste zu Tode langweilten, konnte Aurelie aus ein paar Holzstücken oder Steinen imposante Segelschiffe zaubern, die munter die regen Wellen des Ozeans bezwangen, um ihre Teeladungen sicher in den nächsten Hafen zu schippern. Grashalme und Blätter verwandelten sich spielend in ein ganzes Dorf, in dem sich alle Bewohner freundlich auf der Straße grüßten. An manchen Tagen war sie Höhlenforscherin, an anderen leitete sie eine Safari in Afrika. Wen konnte es da noch wundern, dass ein simpler Kochlöffel ausreichte, um sie in die mächtigste Hexe Englands zu verwandeln.

Auch wenn sie sich nicht erklären konnte, was es mit der neuen Schürzenliebe auf sich hatte, war Alice Bell heilfroh, ihre Tochter wieder so ausgelassen spielen zu sehen. Schließlich war diese so geknickt gewesen, weil Dinky sich nun schon seit fünf Tagen nicht mehr hatte blicken lassen.

Zufrieden wandte Alice Bell ihren aus dem Wohnzimmerfenster gerichteten Blick in den kleinen Vorgarten, der im Vergleich zu den rechts und links anschließenden sorgfältig gemähten Rasenflächen schäbig ungepflegt wirkte, wieder dem nussig duftenden Blechkuchen zu, den sie soeben aus dem uralten kleinen Backrohr in der wild zusammengeschusterten Küche geholt hatte. Heute war schließlich ein ganz besonderer Tag.

Es war genau heute vor 13 Jahren gewesen, als Marlon Bell vor lauter Aufregung die geräumige Wohnung im ersten Stock eines kleinen knallroten Mietshauses in Mayfair, die er gemeinsam mit seiner geliebten Frau bewohnte, nur mit einer Unterhose bekleidet verlassen hatte. Erst als ihm auf der Straße stehend und mit beiden Armen wild ein Taxi herbeiwinkend die Knie zu schlottern begannen, bemerkte er die fehlende Beinbekleidung und stürmte peinlich berührt wieder das Stiegenhaus hinauf. Vor der Wohnungstüre hielt ihm Alice Bell bereits seine dunkelblauen Levis-Jeans entgegen.

„Wir haben noch genügend Zeit“, versuchte die junge Frau mit den knalligen pinken Strähnen im schulterlangen blonden Haar ihren Mann zu beruhigen, während sie immer wieder tief ein- und ausatmete.

Sie strich dabei in kreisenden Bewegungen über ihren kugelrunden Bauch, der unter dem lachsfarbenen Seidenkleid weit nach vorne ragte. Nur wenige Stunden später wiegte sie das kleine rosa Bündel mit den tiefblauen Kulleraugen und den vereinzelten feinen roten Härchen auf dem weichen Köpfchen in ihren Armen und war sich sicher, dass das der vollkommenste Moment ihres Lebens war.

Zurück in der Gegenwart war Aurelie noch immer mit der cremefarbenen Blumenschürze bekleidet, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Miss Clive am Küchentisch saß und sich gierig ein Stück ihres Macadamia-Geburtstagskuchens in den Mund schob. Dabei lugte sie unentwegt auf die liebevoll verpackten Geschenke, die vor ihr auf dem mintgrünen Esstisch lagen.

„Na, dann mach sie eben auf, bevor du dich noch verschluckst!“, Alice Bell konnte sich das Lachen nicht verkneifen.

Aurelie ließ sich das natürlich nicht zweimal sagen. Freudig schnappte sie sich zuerst das Päckchen mit dem silber-metallic schimmernden Papier. Mit den Fingerspitzen zog sie an der roten Schleife und öffnete vorsichtig Millimeter für Millimeter die Klebestreifen. Sie wusste, dass die alte Miss Clive ihr Geschenksmaterial wie einen Schatz hütete. Die funkelnde Umhüllung hatte Aurelie bestimmt schon an vier oder fünf Geburtstagen entpackt. Es war ein ungelöstes Rätsel, wie es der rüstigen Dame gelingen konnte Geschenke in den unterschiedlichsten Größen mit ein und demselben Papierstück immer genau passend zu umwickeln.

Ein breites Grinsen zog sich über das Gesicht des Geburtstagskindes und die kleinen Sommersprossen schienen ein wildes Tanzfest auf der niedlichen Stupsnase zu feiern, als eine nigelnagelneue rotkarierte Schürze aus feinem Leinenstoff zum Vorschein kam.

„Dann musst du nicht mehr das alte Ding da anziehen“, raunzte Miss Clive und zeigte mit den langen dürren Fingern auf die abgewetzte Blumenschürze an Aurelies Körper, deren Träger augenscheinlich schon mehrfach abgerissen und neu angenäht worden waren.

Das Mädchen sprang von dem dreibeinigen Holzschemel, auf dem sie Platz genommen hatte und warf dankbar ihre Hände um den Hals der faltigen Frau.

„Na, na, na. Nicht gleich so ein Freudenausbruch wegen einer läppischen Schürze“, Miss Clive hätte nie zugegeben, wie gerührt sie von der herzlichen Umarmung war.

Die Rentnerin mit der aufgedrehten Turmfrisur, die sich dank dem großzügigen Einsatz von Haarspray steinhart anfühlte, wenn man darüberstrich, gab sich nach außen hin stets grimmig. Es sollte ja niemand auf die Idee kommen sich mit ihr anzulegen. Erst bei näherem Hinsehen zeigte sich ihr großzügiges und mitfühlendes Herz.

Aurelie tauschte ihre Bekleidung sofort gegen die neue Errungenschaft. Als war als hätte Miss Clive es erahnen können, dass das ausgesuchte Stück rein zufällig der Schürze, die die mysteriöse Frau im Wald getragen hatte, wie ein Ei dem anderen glich.

Das zweite Geschenkspäckchen war in dunkelrotes, gewelltes Papier gehüllt. Aurelie erkannte an Form und Gewicht sofort, dass es sich um ein Buch handeln musste. Diesmal riss sie die Verpackung unsanft auf, sodass sie in kleine Stücke zerpflückt wurde. Miss Clive zuckte bei dem Geräusch zusammen, als ob jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel gekratzt hätte. Den strafenden Blick der alten Dame, die wie bei jedem feierlichen Anlass ihren guten Schal aus Fuchsfell trug, bemerkte Aurelie gar nicht, als sie den ledernen Einband des Büchleins in den Händen hielt, auf dem kunstvoll in geschwungenen goldenen Buchstaben die Worte Mr. Ponentius Spruchfibel eingraviert waren. Im Inneren kamen dicke vergilbte Seiten zum Vorschein, auf denen mit schwarzer Tinte wirr klingende Spruchformeln verewigt waren. Auf manchen Seiten standen nur wenige seltsame Wörter, andere waren ganz und gar leer.

„Es scheint als hätte dein Vater als er jung war auch gerne Zauberer gespielt“, erzählte Alice Bell, die sich mittlerweile hinter ihre Tochter positioniert hatte und über deren Schulter in das Büchlein blickte, während sie ihr sanft über den Rücken streichelte.

„Das gute Stück hatte er ganz hinten im Kleiderschrank versteckt. Ich hatte ganz vergessen, dass ich es aufbewahrt habe. Erst durch deine neue Vorliebe fürs Hexen ist es mir wieder in den Sinn gekommen. Dein Vater hätte gewollt, dass du es bekommst.“

An diesem Abend konnte die schöne Blondine ihre Tochter nur schwer dazu bewegen, den neu gewonnenen Schatz zur Seite zu legen. Aurelies Augenlider waren schon träge vom vielen Lesen und kippten immer wieder kraftlos nach unten. Erst als der Kopf des rothaarigen Mädchens zur Seite kippte, gelang es ihrer Mutter den abgewetzten Ledereinband aus dem festen Fingergriff zu befreien.

Trotz der Müdigkeit fand das Mädchen in dieser Nacht keinen erholsamen Schlaf. Sie wälzte sich rastlos hin und her. In der einen Minute war ihr so kalt, dass ihre Zehen bibberten, in der anderen so heiß, dass ihr das Oberteil des gestreiften Baumwollpyjamas am verschwitzen Oberkörper klebte. Als sie ihre kleine Taschenlampe zur Hand nahm und in Richtung des hölzernen Weckers leuchtete, stellte sie fest, dass es Punkt Mitternacht war. Nein, halt. Der zarte goldene Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr. Hatte der tapfere Kerl nach all den Jahren meisterlicher Sprintleistung etwa genau an ihrem Geburtstag seinen Geist aufgegeben?

So sehr sie sich auch bemühte ins Traumland zu versinken, jedes Mal wenn sie die Augen schloss, geisterten nur die selben Bilder der rundlichen Dame aus dem Wald durch ihren Kopf. Warum hatte die alte Frau dieselben gelben Punkte wie sie in ihren Pupillen? Oder war sie das etwa selbst gewesen? Angereist aus der Zukunft, um ihr eigenes Leben zu retten? Oder hatte ihr Geist ihren Körper verlassen und die Gestalt einer alten Frau angenommen? Das Rätselraten ließ Aurelie schließlich doch noch in einen tiefen Schlaf fallen, der erst durch das unsanfte Rütteln an ihrer Schulter am nächsten Morgen durchbrochen wurde.

„Aurelie, komm schon! Du musst zur Schule!“

„Mein Wecker hat den Geist aufgegeben“, murmelte das gähnende Mädchen, während sie sich die unzähligen roten Strähnen aus dem Gesicht zupfte.

„Was redest du denn da, er hat doch schon drei Mal geklingelt“, widersprach Alice Bell verständnislos und tippte mit dem Zeigefinger auf die kleine Weckuhr, die tatsächlich kurz nach sieben Uhr anzeigte.

Aurelie quälte sich aus dem Bett. Sie fühlte sich als wäre sie gerade aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Ihre Glieder schmerzten bei jedem Schritt. Beim Gedanken daran, dass Dornröschen nicht vom Prinzen wach geküsst, sondern von der schreienden Königin geweckt wurde, musste sie aber dennoch kurz schmunzeln. Lustlos zog sie ihre Kleider über, die ihre Mutter ihr schon am Vorabend auf dem schwarz gepolsterten Drehstuhl, der vor dem Schreibtisch aus hellem Ahornholz, der mit Büchern so vollgeräumt war, dass keine einzige freie Fläche mehr ersichtlich war, stand, zu Recht gelegt hatte. Alice Bell hatte schon geahnt wie schwer es Aurelie fallen würde montags aus dem Bett zu kommen. Da die Morgenmüdigkeit ihrer Tochter meist mit einer sehr eigenwilligen Kleiderwahl einherging, war es für alle Beteiligten besser, wenn ein Erwachsener diese in die Hand nahm.

Dieser Montag war für Aurelie besonders schlimm. Das flaue Gefühl im Magen verging auch in den ersten Unterrichtsstunden nicht. So saß sie ausnahmsweise still auf ihrem Platz und lauschte wie die übrigen Schüler teilnahmslos dem Vortrag des Lehrpersonals. Das schrille Läuten der Schulglocke löste noch größeres Unbehagen in ihr aus. Sie hasste die Pausen. Die Lehrer waren so sehr mit ihrem Kaffeeklatsch beschäftigt, dass sie die anarchischen Revierkämpfe und bösen Streiche ihrer Schützlinge gar nicht bemerkten. Während Aurelie im Sommer Ballungsräume meiden konnte, indem sie sich gemütlich unter die Bäume im Hof setzte, war es in der kalten Jahreszeit nicht so einfach sich zurückzuziehen. Der kleine Pausenraum, in dem in Reih und Glied langgezogene Metalltische und unbequeme Bänke aufgestellt waren, bat kaum Rückzugsplätze. Aurelie schlich lange herum, bis sie endlich eine stille einsame Ecke fand. Auch der Verzehr des übriggebliebenen Geburtstagskuchens konnte ihre Stimmung nicht erhellen. Gestern hatte er ihr noch so viel besser geschmeckt.

Auch wenn das Mädchen sich für das langweilige Gequatsche ihrer Mitschüler nicht sonderlich interessierte, kam sie nicht umhin das Tuscheln der gruppierten Mädchen unweit von ihr zu bemerken, die immer wieder ihre Köpfe zusammenschoben, in ihre Richtung blickten und dabei quietschend kicherten.

„Ihre Haare sehen aus wie Feuer, das sollte unbedingt gelöscht werden“, hörte sie Amy Gritzwood sagen, die dabei ihre blonden, sorgfältig zu zwei Fischgrätenzöpfen geflochtenen Haarsträhnen hin und her warf.

Aurelie konnte das groß gewachsene Mädchen aus betuchtem Hause überhaupt nicht leiden. Nach außen hin gab sich Amy als Musterschülerin, erzielte in allen Klausuren nur Einsen und war stets höflich und zuvorkommend zum Lehrpersonal. Hinter der Fassade verbarg sich ein wahrer Schelm. Amy Gritzwood liebte es sich auf Kosten anderer lustig zu machen. Sie war neckisch und schadenfroh. Am liebsten gab sie sich mit weniger schlauen Mitschülerinnen ab, denen sie ihre diabolischen Streiche unbemerkt in die Schuhe schieben konnte. So kam sie stets ungestraft davon. Keiner der Erwachsenen traute ihr solche Gemeinheiten zu. Als Lieblingsopfer hatte sie Susan Riedel auserkoren. Das etwas fülligere Mädchen mit den schulterlangen haselnussbraunen Haaren war erst vor wenigen Monaten mit ihrer Familie und deren kniehohen weißgrauen Bobtail nach Bredhurst gezogen. Amy machte dem schüchternen Mädchen gleich am ersten Schultag weis, dass die Mädchentoilette defekt sei und sie daher auf das Jungenklo gehen müsse. Sodann wartete sie während der Pause vor der Toilettentüre, bis Susan diese wieder verließ, zeigte mit dem Finger auf die beleibte Mitschülerin und begann lauthals einen Sprechchor einzuleiten, in den bald alle versammelten Mitschüler einstimmten.

„Susan Riedel hat einen Schniedel! Susan Riedel hat einen Schniedel!“.

Noch wochenlang wurde Susan von ihren Mitschülern mit dem neu kreierten Nachnamen gehänselt, bis selbst Mr. Griffiths bei der Bekanntgabe der Noten der Mathematikschularbeit der Name Susan Schniedel herausrutschte. Amy war wahnsinnig stolz auf ihr Werk. Doch wie es nun mal mit solchen Hänseleien ist, legt sich der anfängliche Enthusiasmus rasch wieder. So geriet auch dieser Spitzname wieder in Vergessenheit. Ein neuer Plan musste her. Es behagte der blonden Klassensprecherin nämlich ganz und gar nicht, dass die unverblümte und lockere Art des nach Amys Einschätzung geradezu fettleibigen Mädchens bei den männlichen Mitschülern durchaus Gefallen zu finden schien. Amy passte es ganz und gar nicht in den Kram, dass sie ihre hart erkämpfte Aufmerksamkeit mit jemanden teilten musste.

So hatte sie in Susans Namen einen Liebesbrief an den begehrtesten Jungen der Schule verfasst: Ryan Mac Dubh. Ryan war nicht nur ein toller Sportler und Leader sowohl des Basketball- als auch des Eishockeyteams, sondern sah mit seinem dichten schokoladenbraunen Haar, das er lässig nach hinten frisiert trug, auch noch hinreißend aus. Amy hatte schon lange entschieden, dass sie und Ryan einmal heiraten sollten. Sie hatte den Eindruck, dass es nur mehr wenig Flirtversuche bedurfte, bis Ryan ihr endlich die lang ersehnte Frage stellen würde: Willst du mit mir gehen?

So kam es ihr gänzlich ungelegen, dass Susan Riedel ihr dazwischenfunkte. Sie musste die unliebsame Rivalin ein für alle Mal aus dem Rennen werfen.

Ryan, dem der eng zusammengefaltete rosa Zettel, auf dem sein Name in schnörkeligen Buchstaben geschrieben stand, während der Deutschstunde von seinem Banknachbarn zugesteckt worden war, öffnete das Briefchen und las dessen Inhalt zunächst still und unbemerkt. Doch die letzten Worte waren so lustig, dass ihm ungewollt ein geräuschvolles Kichern entfleuchte. Alle seine Klassenkameraden richteten sofort neugierig ihre Blicke auf ihn und auch das Interesse der Klassenlehrerin Miss Sweeney wurde sofort geweckt.

„Ryan Mac Dubh. Das scheint ja sehr amüsant zu sein, was du da liest. Dann wäre es doch nur fair, wenn du die ganze Klasse daran teilhaben lässt.“

Als Ryan der Aufforderung nicht nachkommen wollte und nur beschämt nach unten blickte, setzte sie nach: „Oder willst du lieber einen Eintrag im Klassenbuch?“

Die Drohung zeigte Wirkung. Ryan folgte und trug Wort für Wort der eindeutig in Mädchenhandschrift verfassten Zeilen laut vor:

Lieber Ryan,

ich schreibe dir, weil ich mich unsterblich in dich verliebt habe.

Ich habe schon seit Wochen mit meinem Hund das Zungenküssen geübt und bin mittlerweile schon richtig gut.

Willst du mein erster menschlicher Kusspartner sein?

In Liebe

deine Susan Riedel

Das Klassenzimmer bebte vor lauter Gelächter. Selbst die Mundwinkel der strengen Miss Sweeney entgleisten für einen kurzen Moment nach oben, bevor sie wieder in gewohnt militärischem Ton für ordentliches Benehmen sorgte.

„Ruhe! Was soll denn das Affentheater? Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr!“, sie klopfte mit dem hölzernen Zeigestab mahnend auf die vollgeschriebene Tafel.

Susan war indes mit weit geöffnetem Mund auf ihrem Platz in der ersten Reihe gesessen und hatte minutenlang versucht das Weinen zurückzuhalten. Als Amys boshafter Blick in ihre Richtung blitzte und sie an dem hämischen Grinsen erkannte, wem sie diese Blamage zuzuschreiben hatte, brach der salzige Tränendamm. Susan rannte – die Hände schützend vors zornig rote Gesicht gehalten – aus dem Klassenzimmer. Danach war sie eine ganze Woche lang krankgemeldet gewesen.

Es gab also guten Grund für Aurelie nichts Gutes zu ahnen, als Amy Gritzwoods Handlanger Sarah Alastair und Mindy Shaw die boshafte Mädchenrunde verließen und schnurstracks auf sie zu kamen. Beide Mädchen trugen gerillte Einwegplastikbecher, randvoll mit Wasser gefüllt, in ihren Händen. Aurelie erkannte schnell, dass ihr wohl eine kalte Dusche bevorstand und blickte hoffnungsvoll auf die andere Seite des Pausenraumes, wo sich Miss Sweeney angeregt mit Mr. Griffiths unterhielt. Die zierliche Lehrerin dachte aber gar nicht erst daran, ihre Augen auch nur eine Sekunde von ihrem Gesprächspartner abzuwenden.

„Feuer muss gelöscht werden“, riefen die beiden Widersacherinnen in kicherndem Ton und hoben dabei ihre Arme hoch in die Luft, um die glasklare Flüssigkeit genüsslich auf die rote Haarpracht zu ergießen.

Die blonde Drahtzieherin stand wie gewohnt in sicherer Entfernung und gab bloß durch das schadenfrohe Grinsen zu erkennen, dass dieser Streich aus ihrer Feder stammte.

Aurelie überkam ein unbändiger Zorn. Der Gedanke daran, dass Amy Gritzwood erneut ungeschoren davonkommen würde, stach wie ein spitzer Gegenstand in ihre Magengegend. Es war einfach nicht fair, dass jeder sich von dem scheinheiligen Lächeln blenden ließ. War denn keiner in der Lage die hinter der Lipglossfassade versteckte hässliche Boshaftigkeit zu erkennen?

Als die runden Wasserperlen gerade dabei waren der Schwerkraft folgend auf sie herabzuregnen, riss Aurelie reflexgesteuert blitzartig ihre Arme nach oben und schirmte ihren Kopf schützend mit den Handflächen ab. Die kaltnassen Tropfen wechselten mit einem Mal die Richtung, als ob sie von einem unsichtbaren Schutzschild abprallen und zurückfedern würden. Anstatt sich auf das rothaarige Mädchen zu ergießen, formte das Wasser einen Strahl, suchte sich seinen Weg zwischen den Köpfen der beiden Ausgießer hindurch und traf schließlich mit voller Wucht mitten in das Gesicht der völlig verdutzten Amy Gritzwood. Die zierliche Blondine blickte fassungslos an sich hinunter. Das klatschnasse Haar klebte wie Kaugummi an der hellrosa Seidenbluse, aus der nach und nach die Farbe entwich, bis sich durch den feuchten Stoff die Bügel des weißen BHs deutlich abzeichneten. Ein gellender Schrei hallte durch den Pausenraum, so laut, dass selbst Miss Sweeney ihn nicht ignorieren konnte. Wütend stapfte sie mit ihren Absatzstiefeln aus grünem Veloursleder, die bei jeder Berührung mit dem Boden laut klackerten, in Richtung der Mädchen, um die sich mittlerweile eine Schar lachender Mitschüler gebildet hatte. Es gab niemandem im Raum, der Amy Gritzwood diese Schmach nicht wenigstens ein bisschen gegönnt hätte. Selbst Sarah Alastair und Mindy Shaw, die sich zwar überhaupt nicht erklären konnten, was soeben passiert war, aber auch keinen Gedanken daran verschwendeten es herauszufinden, gelang es nur schwer sich das schelmische Grinsen zu verkneifen. Schließlich waren sie schon oft genug für Amys Streiche bestraft worden.

„Könnt ihr euch denn nicht ein einziges Mal ordentlich benehmen? Amy Gritzwood, von dir hätte ich so ein Verhalten wirklich nicht erwartet!“, zischte Miss Sweeney, während sie ihren kurzen marineblauen Rock, den sie während ihres Gespräches mit Mr. Griffiths ungeniert etwas nach oben hatte rutschen lassen, wieder in Richtung Knie zupfte.

Die sonst so schlagfertige Amy brachte indes kein Wort heraus, so erschüttert war sie darüber, dass sie nun selbst zur Lachnummer geworden war. Noch bevor sie Sarah Alastair und Mindy Shaw, die versuchten ihre leeren Plastikbecher möglichst unauffällig hinter dem Rücken zu verstecken, „Das werdet ihr mir noch büßen“ ins Ohr flüstern konnte, tauchte das Gesicht von Ryan Mac Dubh im Hintergrund der Schülertraube auf. Nicht nur er, die gesamte Basketballclique hatte sich zum lachenden Mob gesellt. Amys zartes Gesicht färbte sich nach und nach in einen satten Rotton, bis ihr Kopf eher einer Tomate glich. Schüchtern verschränkte sie die Hände vor der Brust, um Einblicke der Jungenschar in ihre transparente Bluse zu verhindern. Gefolgt von den Augen der gesamten Schülerschaft schritt die gefallene Königin sodann hastigen Ganges, den Kopf tief nach unten gebeugt, wortlos aus dem Pausenraum in Richtung Mädchentoilette.

Sarah Alastair und Mindy Shaw genossen noch einen kurzen Moment die unverdiente Anerkennung für die mutige Tat, bis sich die Schüler wieder genüsslich ihrem Mittagessen widmeten. Aurelie stand indes noch immer wie angewurzelt mit erhobenen Händen im Raum und versuchte zu begreifen, was soeben passiert war. Hatte sie denn als einzige gesehen, wie das Wasser auf unerklärliche Weise die Richtung gewechselt hatte? Oder war es nur schon wieder ein Tagtraum gewesen?

Das Klingeln der Pausenglocke riss Aurelie aus ihren Gedankenkreisen, die zwischen echter Magie und ersten Anzeichen einer Geisteskrankheit hin und her wanderten. Grübelnd folgte sie ihren Mitschülern in den Klassenraum und nahm ihren Platz ein. Amy Gritzwoods Schulbank blieb in dieser Stunde leer.

Aurelie in der Welt der Wesentlichen

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