Читать книгу Aurelie in der Welt der Wesentlichen - Bernadette Schmon - Страница 8

Kapitel 6 - Der Abschied

Оглавление

Es war dunkel geworden. Dichte Nebelschwaden hüllten die Häuser in Bredhurst in ein mystisch weißes Kleid. Alice Bell und Aurelie saßen – in eine flauschige senfgelbe Decke eingekuschelt – auf dem gemütlichen grauen Doppelsofa vor dem kleinen Holzofen, in dessen Innerem rötliche Flammen wie ein hämisches Grinsen hinter der kleinen Gitterluke hervorlugten. Sie steckten ihre Nasen tief in zwei dicke Bücher, als ein dumpfes Klopfen an der alten grün lackierten Holztüre des Backsteinhäuschens die idyllische Ruhe just unterbrach. Alice Bell blickte erstaunt auf die dekorative Wanduhr über dem Esstisch. Die zwei filigranen Zeiger zeigten auf der aus einem Eisenrahm geformten Umlaufbahn mit zwölf unterschiedlich gefärbten Ziffernkreisen 20:30 Uhr an.

„Wer besucht uns denn noch um diese Zeit?“, fragte sie in Richtung ihrer Tochter, die sich vom pochenden Geräusch gar nicht erst von ihrem fesselnden Roman ablenken ließ.

Mühevoll schälte sich die schlanke Blondine aus ihrer Deckenumhüllung, zuppelte den schlabbrigen Jogginganzug so gut es ging zu Recht und eilte in Richtung des Hauseinganges, wo das immer lauter und energischer werdende Klopfen auf einen ungeduldigen Gast hindeutete. Als sie die schwerfällige Türe öffnete, blickte ihr das pausbackige Gesicht von Agatha Bell entgegen.

„Na endlich. Ich dachte schon, ich muss hier draußen übernachten“, stöhnte die alte Dame, während sie ihren rundlichen Körper durch den geöffneten Türspalt presste.

Sie schob Alice Bell frech zur Seite und marschierte zielstrebig in die Wohnküche. Völlig überrumpelt starrte die sonst so toughe Frau dem Eindringling hinterher. Nachdem die kurze Schrecksekunde verflogen war, folgte sie dem in einen dunkelbraunen Ledermantel mit grauer Wollfütterung gehüllten ungebetenen Gast mit schnellen Schritten.

„Was fällt Ihnen ein, Sie können doch nicht einfach so in meine Wohnung stürmen. Wer sind Sie überhaupt?“

„Oh, entschuldige, Liebes. Ich hatte ja völlig vergessen, dass ihr mich nur in meiner Katzengestalt kennt“, kicherte die Besucherin mit dem wilden weiß-rötlichen Lockenkopf.

„Mein Name ist Agatha Bell und ich bin hier, um meine Enkelin zu besuchen“, sprach sie weiter, zog dabei die Zipfel ihrer rotkarierten Schürze mit den Fingerspitzen leicht nach oben und bog ihre kurzen Beine zu einem demütigen Knicks.

Alice Bell stand wie angewurzelt da. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das faltige Gesicht und versuchte in ihrem staubtrockenen Hals Worte zu formen. Doch sie brachte nicht mehr als ein nuscheliges Stammeln hervor. Durch das Treiben im Hintergrund in ihrer Lesekonzentration gestört, erhob nun auch Aurelie ihren Kopf aus dem dicken Wälzer, der auf ihrem Bauch abgestützt war. Sofort erkannte sie die Retterin aus dem Wald wieder. Völlig schockiert glitt dem rothaarigen Mädchen das dicke Buch aus den Fingern und landete fast lautlos auf dem Sofa. Auch sie starrte nun mit weit geöffnetem Mund in Richtung der klein gewachsenen Frau, als ob sie gerade einem Geist begegnen würde.

„Ach Kinder, jetzt hat es euch doch glatt die Sprache verschlagen. Ich mache uns drei Hübschen einen heißen Tee, dann wird das schon wieder“, verkündete Agatha Bell in verständnisvollem Ton und begann prompt in der Küche zu werken.

Zielsicher kramte sie Teekanne, Tassen und Teebeutel aus den in unterschiedlichen Grüntönen gefärbten Oberschränken der minimalistischen Küchenzeile, als ob sie dies schon unzählige Male zuvorgetan hätte.

Alice Bell war hin- und hergerissen. In all den Jahren, die sie mit ihrem verstorbenen Mann verbracht hatte, hatte sie ihre Schwiegermutter nie kennengelernt. Sie hatte Marlon Bells Wunsch, nicht über seine Familie zu sprechen, stets respektiert. Nachdem sich auch nach seinem Tod niemand mit ihr oder Aurelie in Verbindung gesetzt hatte, hatte sie dieses Kapitel ad acta gelegt und war davon ausgegangen, dass es keine Familienmitglieder mehr gab.

Aber da waren diese Augen. Diese stechend blauen Augen mit den gelben Punkten am rechten und linken äußeren Rand der Pupillen. Es war als würde sie in das Gesicht ihres geliebten Mannes blicken. Das konnte kein Zufall sein. Rückwärts, ohne ihren Blick auch nur eine Sekunde von der rundlichen Frau, die in der Küche gerade Wasser am Herd erhitzte, abzuwenden, schlich Alice Bell zu der antiquarischen weißen Holzkommode, die gegenüber der Couch stand und kramte aus der untersten Schublade ein verstaubtes Fotoalbum in beigem Leinen-Einband hervor. Vorsichtig durchblätterte sie die lädierten Seiten. Es musste hier irgendwo sein. Sie konnte sich genau daran erinnern. Da.

Wie in Trance ließ Alice Bell das dicke Album noch aufgeschlagen vor sich auf den wackligen viereckigen Sofatisch mit den nach außen geschwungenen metallenen Beinen gleiten.

Nun gelang es auch Aurelie ihren versteinerten Blick von der in der Küche hantierenden Dame abzuwenden. Mit einem Auge lugte sie auf die aufgeschlagene Seite des Fotoalbums, auf der sie auf einem schwarzweißen Polaroid Bild das auf dem Kopf stehende heitere Lachen der großmütterlichen Frau wiedererkennen konnte. Diese war zwar deutlich schlanker und viele Jahre jünger, aber die Augen-Mundpartie war unverkennbar jene der mysteriösen Schürzenfrau. Ein junger Bub mit wildem Haar und unzähligen Sommersprossen im Gesicht schlang seine Arme um die Hüfte der Frau. Unter dem Foto stand in geschwungenen Buchstaben aus schwarzer Tinte kaum leserlich gekritzelt: Marlon und Mama, Sommer 1978.

Aurelie brauchte einen Moment, um zu begreifen. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die wunderliche Frau, die sie an jenem Morgen im Wald davor bewahrt hatte ihr Leben zu lassen und nun vergnügt in der Küche Tee zubereitete, musste tatsächlich ihre Großmutter sein.

Agatha Bell hatte inzwischen den kleinen, in die Jahre gekommenen Esstisch mit geblümten Tellern und Tassen eingedeckt und stellte eine Kanne mit frisch aufgebrühten nach Pfefferminze duftenden Tee in dessen Mitte. Dann zauberte sie kleine Cupcakes aus Schokolade mit rosa Zuckerguss aus ihrer Tasche, die sie liebevoll auf die Teller, deren Keramik die zarten Blätter gelber Gerbera zierten, drapierte.

Aurelie sprang wie von der Tarantel gestochen von ihrem wohligen Kuschelplatz auf und hüpfte flummiartig in Richtung ihrer Mutter, die noch immer regungslos vor der weißen Kommode ausharrte. Sie zog die blass gewordene zierliche Frau unsanft am Arm.

„Mama, Mama, ist das wahr? Kann es sein? Ist das meine Großmutter?“

„Aber natürlich bin ich deine Großmutter, Liebes. Wer denn sonst?“, Agatha Bell wurde langsam ungeduldig.

Sie hatte nicht ewig Zeit das melodramatische Schauspiel zu beobachten. Es konnten schließlich in jeder Ecke Gefahren lauern.

„Was willst du hier?“, endlich gelang es Alice Bell wieder einen klaren Satz zu formulieren.

„Ich weiß, ihr glaubt, ich hätte euch all die Jahre im Stich gelassen. Aber das Wohl meiner Enkelin war stets mein größtes Anliegen. Ihr habt mich zwar nicht bemerkt, aber ich habe mit Argusaugen über euch gewacht. Wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich euch in Ruhe alles erklären. Aber wir müssen dringend handeln. Alice, deine Tochter schwebt in großer Gefahr. Und ich bin die Einzige, die sie vor dem nahenden Unheil schützen kann.“

„Was soll das heißen? Welche Gefahr?“, die unheilvollen Worte lösten große Skepsis bei Alice Bell aus.

„Deine Tochter hat ganz besondere Fähigkeiten. Da draußen lauern böse Gestalten, die sich diese Macht zu Nutzen machen wollen. Ihr beide seid nur sicher, wenn Aurelie mit mir geht. Und du musst fort von diesem Ort, weit weg, wo sie dich nicht finden können.“

Noch bevor die ominöse alte Dame ihren Satz beendet hatte, zog die schöne Blonde ihre Tochter an den Schultern zu sich und presste sie schützend ganz nah an ihren Körper.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Aurelie und ich kommen gut zu Recht. Wir brauchen deine Hilfe nicht.“

„Du musst mir glauben, mein Kind“, flehte Agatha Bell und ging dabei ein paar Schritte auf Mutter und Tochter zu, merkte aber rasch, dass diese ängstlich zurückwichen.

Sie hielt inne. Es brach ihr das Herz, dass die beiden sich vor ihr fürchteten. Sie wollte schließlich nur das Beste für ihre Familie. Aurelie war doch ihr einziges Enkelkind. Ihre einzige Verbindung zu ihrem geliebten verstorbenen Sohn.

„Es gibt Dinge auf dieser Welt, die ihr noch nicht versteht. Aber das werdet ihr noch“, Agatha Bell erkannte, dass die beiden Frauen die Geschehnisse erst einmal verarbeiten mussten.

Während wundersame Dinge und magische Wesen schon immer Teil ihres Lebens gewesen waren, waren die Unwesentlichen der Überzeugung alles rational erklären zu können. Was über ihre Gedankenkraft hinausging, wurde als Lüge abgetan und für immer in einer geistigen Schublade weggesperrt. Personen mit besonderen Fähigkeiten wurden als Sonderlinge ausgegrenzt oder gar weggesperrt und mit Psychopharmaka mundtot gemacht.

Sie konnte das Mädchen nicht gewaltsam ihrer Mutter entreißen. Sie musste erst ihr Vertrauen gewinnen. Abwarten, bis sie ihren Geist für das Unerklärliche öffneten. In Aurelies Adern pochte das Blut einer respektablen Zaubererfamilie. Auch wenn es nicht mehr lange dauern konnte, bis Det Ondas Anhänger das kleine Backsteinhäuschen in Bredhurst ausfindig machen würden, entschied die alte Frau ihr Vorhaben noch ein paar Tage aufzuschieben. Vielleicht würde Aurelie die Dinge ja morgen schon klarer sehen.

„Ich komme wieder“, ohne eine Reaktion abzuwarten, machte Agatha Bell kehrt und stapfte mit ihren klobigen Lederstiefeln zurück zur Eingangstüre.

So schnell, wie sie gekommen war, war sie auch schon wieder verschwunden. Alice und Aurelie verharrten noch einige Minuten in ihrer klammernden Position, bis sie schließlich ans Fenster eilten und suchend in die trübe Nacht hinausblickten. Trotz des hellen Mondenscheins war nichts zu erkennen.

„Ich habe Großmutter im Wald gesehen. Sie hat mit ihrem Zauberstab einen riesigen abstürzenden Ast aufgehalten, der mich sonst zerquetscht hätte“, sprudelte es mit einem Mal aus Aurelie heraus.

Es fühlte sich an, als ob ihr ein vollbepackter Rucksack von den Schultern genommen worden wäre. Solange hatte sie sich gewünscht jemandem von ihren unerklärlichen Erlebnissen erzählen zu können. Doch wer hätte ihr diese wahnwitzige Geschichte schon geglaubt? Man hätte sie bestimmt für verrückt gehalten. Sie war sich doch selbst nicht einmal sicher, ob die merkwürdige Begegnung nicht bloß ihrer Fantasie entsprungen war. Doch das Geheimnis hatte wie ein Geschwür tief in ihrer Magengegend gewuchert. Jetzt, wo sie die Sicherheit hatte, dass sie sich die alte Frau nicht bloß eingebildet hatte, fühlte sie sich wie geheilt.

„Großmutter ist bestimmt eine Hexe, sowie Bibi Blocksberg“, Aurelie sprach diese Worte mit für ihre Mutter völlig absurdem Selbstverständnis.

„Aurelie, du bist doch kein kleines Kind mehr. Du weißt doch, dass es keine Hexen gibt. Das sind doch alles nur erfundene Geschichten“, Alice Bell schüttelte den Kopf.

„Deine Großmutter ist ganz eindeutig nicht mehr ganz bei Trost. All die Jahre hielt sie es nicht für notwendig sich blicken zu lassen und nun taucht sie mit irgendwelchen Horrorgeschichten auf. Dein Vater hatte bestimmt einen guten Grund keinen Kontakt zu ihr zu haben. So und jetzt ab ins Bett mit dir“, die anmutige Blondine zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung des Kinderzimmers.

Es war zwar noch nicht spät, doch sie brauchte eine ruhige Minute für sich, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Aurelies wilde Erzählungen hatten sie nur noch mehr verwirrt.

Nachdem sie ihre Tochter zugedeckt und mit einem Gutenachtkuss in das Land der Träume verabschiedet hatte, verriegelte sie die massive Eingangstüre mit dem stabilen metallenen Balken, der sonst nur unberührt in einer Nische im Eingangsbereich verstaubte. Noch nie zuvor hatte sie sich in dem kleinen idyllischen Örtchen unsicher gefühlt. Doch die drohenden Worte ihrer Schwiegermutter riefen ein mulmiges Gefühl in ihr hervor. Es kam ihr plötzlich alles stiller vor als sonst. Es fühlte sich an, wie die Ruhe vor einem gewaltigen Sturm. Als würden jede Sekunde Blitz und Donner über einen hereinbrechen. Anstatt sich wie gewohnt auf die Couch zu legen, schlich die aufgewühlte Frau auf Zehenspitzen in Aurelies Zimmer und kroch zu ihr unter die Bettdecke, wie sie es früher, als ihre Tochter noch klein war, oft getan hatte.

Es war gerade erst kurz nach Mitternacht, als Aurelie aus ihrem traumreichen Schlaf gerissen wurde. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Mutter zu ihr in das viel zu kleine lichtbraune Rattanbett gelegt hatte. Das gleichmäßig knurrende Geräusch, das an die Startversuche eines alten Mopeds erinnerte, deutete darauf hin, dass Alice Bell tief und fest schlief. Aurelie fröstelte. Es war plötzlich so kalt in dem kleinen farbenfrohen Zimmer, dass ihre Atemzüge sich vor ihr als weißer Rauch aufbäumten. Zitternd zog sie die prall gefüllte Daunendecke, die mit einer rotgetupften Leinenbettwäsche überzogen war, weit über die Schultern und versuchte wieder in ihrem letzten Traum zu versinken, als plötzlich ein lautes Heulen ertönte. Neugierig kletterte das rothaarige Mädchen, bekleidet mit einem riesigen weißen Baumvollshirt, das ihr bis zu den Knien reichte, aus dem Bett. In schnellen Auf- und Abbewegungen rieb sie mit den Handflächen ihre Oberarme entlang, um sich aufzuwärmen. Der Blick aus dem Holzkastenfenster brachte keine neuen Erkenntnisse, der dichte Nebel war viel zu trüb, um etwas zu erkennen. Wieder schrillte ein langgezogenes Heulen durch die Nacht. Aurelie öffnete vorsichtig den rechten Fensterflügel und leuchtete, in der Hoffnung den Ursprung des Geräusches eruieren zu können, mit ihrer treuen kleinen Taschenlampe in die Nebelschwaden, als plötzlich eine bedrohliche dunkle Gestalt am Ende des Lichtstrahls auftauchte. Erst als der Schatten nähertrat, war zu erkennen, dass es sich um das zottelige schwarze Fell eines monströsen Wolfs handelte. Die knallgelben Augen starrten unbarmherzig in Aurelies Richtung. Die Nasenlöcher des Tieres waren weit gebläht, die nach oben gezogene Oberlippe gewährte Einblicke zu den messerscharfen, nach hinten geschwungenen Fangzähnen. Weißer Schaum tropfte aus dem Maul. Die spitzen Ohren waren dicht an den Körper angelegt. Erneut warf der Wolf seinen Kopf in den Nacken und gab ein ohrenbetäubendes Sirenenheulen von sich. Aurelie schob panisch den Seitenflügel ihres Fensters nach vorne und verschloss es fest mit dem silbernen Drehhebel. Noch nie zuvor hatte sie so ein wutentbranntes Tier gesehen. Auf Zehenspitzen schlich sie rückwärts zurück zu ihrem Bett und rüttelte am Rücken ihrer Mutter, bis diese endlich die Augen öffnete und Aurelie mit fragender Miene verschlafen anblickte.

„Mama, da draußen ist ein riesiger Wolf!“, schrie das Mädchen mit dem roten gewellten Haar so laut, dass Alice Bell ihren gerade erst erhobenen Kopf erschrocken zurückriss.

„Das war bestimmt nur ein böser Traum, mein Schatz“, noch bevor sie ihre Tochter beruhigen konnte, drang wieder ein lautes Heulen durch die Nacht.

Ohne zu zögern erhob sie sich aus dem engen Bett und marschierte zielstrebig zu dem deckenhohen Holzkastenfenster, das in Richtung der Straße zeigte. Als sie den gewaltigen schwarzen Wolfskopf auftauchen sah, traute sie ihren Augen zunächst nicht. Das Tier stand in geduckter Haltung nur wenige Meter vom Fenster des Kinderzimmers entfernt und schnappte mit gefletschten Zähnen immer wieder in ihre Richtung. Das konnte kein normaler Wolf sein. Das konnte noch nicht einmal ein normales Tier sein. So stellte man sich ein Monster vor.

„Wir müssen sofort hier raus!“, befahl die besorgte Mutter. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie ihrer Tochter die purpurne Überdecke, die sorgfältig zusammengerollt am unteren Bettende lag, um den Hals, packte sie am Arm und zerrte sie aus dem Zimmer.

Im Vorbeigegehen ergriff sie ihre Autoschlüssel aus der kleinen ovalen Holzschale im dunkelgrün lackierten Bücherregal an der Seitenwand des Wohnzimmers und eilte zur Hauseingangstüre. Mit beiden Händen hob sie den schweren Metallbalken aus seiner Verankerung und stellte ihn unsanft zurück in die Ecke des Vorzimmers. Noch bevor sie den Schlüssel im rostigen Schloss drehen konnte, ertönte ein lautes Kratzen entlang der Holzfaserung. Erschrocken wichen Mutter und Tochter von der Türe zurück. Während sie Aurelie mit einem Arm schützend hinter ihren Körper schob, führte Alice Bell mit angehaltenem Atem ihr rechtes Auge immer näher an die runde Öffnung des Türspions heran, bis sie schließlich durch das Glas lugen konnte. Durch das weit geöffnete Maul des boshaft knurrenden Tieres blickte sie weit in dessen roten Rachen hinein, bis die weißen nadelspitzen Zähne sich wieder ineinander schlossen und nur mehr die feuchte schwarze Nase, die zornig weißen Dampf ausprustete, zu sehen war. Alice Bell taumelte zurück. In der nächsten Sekunde polterte die alte Eingangstüre, als ob sich etwas Monströses mit voller Wucht dagegen werfen würde. Panisch rannten Mutter und Tochter wieder zurück in das Kinderzimmer. In gemeinsamer Anstrengung schoben sie den sperrigen Fichtenschrank als Barriere vor die Zimmertüre. Angstschweiß tropfte auf den Boden, als sie hörten, wie draußen die Eingangstüre mit einem lauten Knacken aus ihrer Verankerung gerissen wurde. Aurelie und ihre Mutter hockten sich bangerfüllt in die letzte Ecke des Zimmers, hielten sich gegenseitig im Arm und starrten zitternd zum Eingangsportal. Schritt für Schritt schleifte das Untier seine schweren Tatzen über den Wohnzimmerboden und zog dabei tiefe Kerben in die Dielen. Aurelie schloss ihre tränenerfüllten Augen. Immer wieder flüsterte sie flehend: „Bitte, komm nicht hier rein. Bitte, komm nicht hier rein.“

Alice Bell drückte ihre Tochter fest an sich. Kurze Stille. Dann ein Knall. Die Zimmertüre bebte. Mit jedem Donnern seines kolossalen Körpers an die Holzbarrikade rückte der Wolf den hölzernen Kasten weiter in den Raum hinein. Alice Bell ging alle Fluchtmöglichkeiten in ihrem Kopf durch. Wenn sie weiter hier ausharrten, würde das tollwütige Tür sie gewiss zerfleischen. Sie mussten alles auf eine Karte setzen. Die Flucht durch das Zimmerfenster war ihre einzige Chance. Vielleicht konnten sie es bis zum Auto schaffen.

Wie von der Tarantel gestochen sprang Alice Bell auf und rannte zur anderen Seite des Zimmers. Mit zittrigen Händen öffnete sie die zwei Fensterflügel des Holzkastenfensters, durch das heller Mondschein ins Zimmer drang.

„Komm schnell! Du musst hinausspringen“, sie streckte die Hand zu ihrer Tochter aus, die noch immer in der Zimmerecke am Boden kauerte.

Just in diesem Moment gelang es dem pechschwarzen Tier mit einem weiteren gezielten Sprung den alten Bauernschrank so weit nach vorne zu schieben, dass es sein imposantes Haupt durch den Türrahmen pressen konnte. Knurrend baute sich der muskelbepackte Körper vor Aurelie auf. Obgleich noch einige Meter zwischen ihnen lagen, drang dem kreidebleichen Mädchen der abstoßende Verwesungsgestank aus dem Rachen des Wolfs in die Nase. In völliger Verzweiflung ergriff Alice Bell die kreuz und quer am Boden liegenden Lexika und warf sie mit aller Kraft auf den Hinterkopf des Angreifers, der sogleich zornig den Kopf schüttelte, sodass der schneeweiße Schaum rund um die Lefzen durch den Raum geschleudert wurde. Er riss sein kräftiges Maul weit auf und ließ ein ohrenbetäubendes Knurren erklingen, bevor er die schmächtige blonde Frau mit seiner rechten Vorderpfote wie eine Feder durch den Raum warf. Schmerzhaft schlug Alice Bells Kopf gegen die harte Ziegelwand. Ihr regungsloser Körper fiel polternd zu Boden.

„Mama!“, Aurelie schrie laut auf.

Salzige Tränen bildeten ein dünnes Rinnsal über die farblosen eiskalten Wangen und landeten als dicke Tränen auf den Holzbrettern des Bodens. Die Hilflosigkeit fühlte sich wie Blei in den Gliedern des Mädchens an. Es war als hätte man ihr die gesamte Kraft ausgesaugt. Als würde nur mehr eine blutleere Hülle ihren Geist umschließen.

Die Zeit schien eine Sekunde still zu stehen, als eine kleine schwarze Katze mit lang gestrecktem Körper durch das geöffnete Fenster sprang und zielgenau zwischen dem pelzigen Ungetüm und dem verzweifelten Mädchen mit den langen rötlichen Locken landete. Noch ehe der Wolf die tapfere Samtpfote, die ihm kaum weiter als zum Knie reichte, wahrnahm, löste sich die Katzengestalt in undurchsichtigen schwarzen Nebel auf. Die Schwaden verformten sich nach und nach in eine menschliche Silhouette, bis schließlich der propere Körper von Agatha Bell im Raum stand.

Unerschrocken starrte die alte Dame dem Tier in die zornig zusammengekniffenen Augen. Sie stellte einen Fuß vor den anderen und lehnte ihren Oberkörper leicht nach vorne, um einen sicheren Stand zu bekommen.

„Mittendum Fulgur“, brüllte sie, während sie ihren hölzernen Zauberstab, den sie in Sekundenschnelle aus ihrer Schürzentasche gezogen hatte, ruckartig nach oben riss.

Eine grelle Lichtkugel bildete sich um die Spitze des sorgfältig gehobelten und versiegelten Holzstückes und ließ das Zimmer wie durch den Strahl einer Taschenlampe erleuchten. Mit einer schwungvollen Drehbewegung lenkte Agatha Bell den Zauberstab in Richtung des pechschwarzen Angreifers, der sich wutentbrannt auf die Hinterbeine stellte und gerade im Begriff war, auf die kleine rundliche Frau nieder zu prasseln. Ein glühender Blitz feuerte aus der Lichtkugel und traf mit heißer Wucht auf die pelzige Brust des Tieres, das sogleich nach hinten geworfen wurde und unsanft auf dem Rücken aufkam. Das zornige Knurren wandelte sich mit einem Mal in ein herzzerreißendes Winseln. Mit wilden Beinbewegungen ruderte sich der Wolf in Bauchlage und robbte fluchtartig aus dem Zimmer, wobei die langen schwarzen Krallen tiefe Kerben in den Boden rissen. Dann verschwand er in die mondhelle Nacht.

„Geht es dir gut, mein Kind?“, fragte Agatha Bell besorgt und ergriff ihre Enkelin dabei an beiden Schultern.

Das Mädchen nickte verstört, während es angestrengt versuchte das soeben Gesehene zu verarbeiten. Agatha Bell versicherte sich mit einem kurzen musternden Blick, dass das erstarrte Kind unverletzt war und eilte sodann zu Alice Bell, die stöhnend in gekrümmter Haltung am Boden lag und sich mit beiden Armen die Magengegend hielt. Das von den Händen tropfende dunkelrotes Blut hatte das khakigrüne Seidentop an ihrem Leib bereits dunkel eingefärbt.

„Lass mich mal sehen“, Agatha Bell drehte ihre Schwiegertochter vorsichtig auf den Rücken.

Tiefe Kratzwunden zogen sich quer über den Bauch. Eine trübe Blutlache füllte die Fugen der Bodenbretter unterhalb des nur mehr schwach atmenden Körpers.

„Das wird schon wieder. Halte durch. Das haben wir gleich“, während sie der verwundeten Frau tröstend über die schweißnasse Stirn streichelte, zückte die kleine Dame ein durchsichtiges Glasfläschchen mit einer blasenbildenden dunkelvioletten Flüssigkeit aus der rotkarierten Schürzentasche.

Zügig ließ sie den Großteil der dickflüssigen Tinktur auf die pulsierenden Fleischwunden tropfen. Nach nur wenigen Sekunden begann sich die klaffende Hautöffnung wie von Zauberhand Millimeter für Millimeter zu verschließen, bis nur mehr eine bräunliche Kruste an die Kratzspuren erinnerte. Um Alice Bell wurde es dunkler und dunkler, als ein grauer Schleier von den Außenseiten der Pupillen nach innen drang.

„Das ist doch unmöglich“, kam noch über die trockenen blassen Lippen, bevor der Kopf der erschöpften Frau schließlich ohnmächtig zur Seite sackte.

Als die Blondine ihre Augen wieder öffnete, lag sie in eine wärmende marinefarbene Wolldecke gehüllt auf dem gemütlichen Rattanbett ihrer Tochter. Panisch blickte sie auf den Boden vor dem Holzkastenfenster. Sie hätte schwören können, dort gerade noch schmerzverzerrt gelegen zu haben. Doch da war nichts. Kein Blut. Erleichtert atmete sie durch. Es war wohl nur ein bitterböser Traum gewesen. Ein grausamer Traum. Noch nie zuvor hatten sich ihre Träume derart real angefühlt. Dieser Schmerz. Diese Angst. Als sich die geräderte Frau langsam im Bett aufrichtete, um nach ihrer Tochter Ausschau zu halten, spürte sie ein leichtes Stechen oberhalb ihres Bauchnabels. Ungläubig zog sie das dünne beige Seidenshirt, welches sie ihrer Erinnerung nach beim Zubettgehen noch nicht getragen hatte, nach oben. Vier deutlich abhebende Narben zierten die blasse Haut. Alice Bell rang nach Luft, ihr Hals schnürte sich zu. Der Puls schnellte in die Höhe. Es war kein Traum gewesen. Der monströse Wolf war nicht bloß ein Gespinst ihrer Fantasie.

„Aurelie, Aurelie“, ihre Rufe kamen ungewollt leise aus ihrem Hals.

Verstört drehte sie sich zur Seite und ließ sich angestrengt aus dem Bett gleiten. Ihre Glieder schmerzten, als ob sie gerade einen Marathon absolviert hätte. Der Weg zur nur einen Spalt breit geöffneten Zimmertüre kam ihr endlos vor.

„Reich mir doch bitte das Mehl“, klang es durch den Raum, als sie durch die schmale Öffnung in das Wohnzimmer lugte.

Sie war mehr als überrascht von dem Bild, das sich ihr offenbarte. Agatha Bell und Aurelie standen Seite an Seite vor der wild zusammengeschusterten Einbauküche. Beide trugen eine rotkarierte Schürze und werkten munter und lustig mit Rührbesen und Kochlöffel.

Als Aurelie den Kopf ihrer Mutter vorsichtig in das Zimmer ragen sah, rannte sie Freude strahlend in deren Richtung und fiel ihr liebevoll um den Hals.

„Mama, du bist wach. Es geht dir gut“, erleichtert rieb das rothaarige Mädchen ihre mehlbedeckte Nase in den Hals der verwunderten Blondine.

„Was ist hier los? Was ist passiert?“, Alice Bell war völlig irritiert.

Ihr Gehirn versuchte verzweifelt die Bruchstücke ihrer Erinnerung zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen.

„Ich hatte euch ja gewarnt. Ihr wurdet von einem Höllenwolf angegriffen. Und diejenigen, die ihn geschickt haben, werden euch mit Sicherheit noch andere derart unbehagliche Besucher auf den Hals hetzen“, Agatha Bell schonte die Nerven ihre Schwiegertochter nicht.

„Aber das ist nicht möglich“, die geschwächte Schönheit taumelte zu dem kleinen Sofa in der Mitte des Raumes und lehnte sich an dessen Armlehne.

„Es ist möglich und es passiert. Das Universum hat mehr zu bieten, als du mit deinem Tunnelblick zu sehen vermagst. Magie existiert. Ihr wollt sie nicht wahrhaben, sie macht euch Angst. Deshalb lassen wir euch in dem Glauben, alles Übernatürliche sei Einbildung, Wahnsinn oder Fantasie. Diejenigen, die mit unserer Welt in Berührung kamen, lassen ihre kreativen Ideen in Märchenbücher und Science-Fiction Filme münden. Doch wer könnte solche Geschichten erfinden, wenn nicht das Leben selbst. Ob du es nun begreifen kannst oder nicht. Ich muss deine schützende Luftblase heute platzen lassen. Aurelie ist eine von uns. Sie ist eine Zauberin. Ihr könnt davor nicht weglaufen“, Agatha Bells Worte erzeugten in ihr selbst ein starkes Gefühl von Wut.

Sie war wütend auf sich selbst. Sie hatte zu lange zugewartet. Sie hätte schon den Abend davor alles daransetzen müssen, Aurelie von der Wahrheit zu überzeugen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie nur eine Sekunde später gekommen wäre, um nach den beiden zu sehen. Hätte ihre innere Unruhe sie nicht dazu gezwungen in ihrer nachtaktiven Katzengestalt durch die Straßen zu pirschen, wäre Alice Bell mit Sicherheit vom Höllenwolf zerfleischt worden.

„Aber ich kann doch gar nicht zaubern“, es schien als hätte Aurelie nur diesen Teil er Ansprache ihrer Großmutter gehört.

„Und wie erklärst du dir dein Wassertropfenmalheur in der Schule?“, Agatha Bell stemmte beide Hände in die Hüften, zog ihre wildgewachsenen buschigen Brauen nach oben und blickte ihre Enkelin fragend an.

Das rothaarige Mädchen verstand sofort auf was die ergraute Dame anspielte.

„Das ist doch alles Wahnsinn, du bist doch verrückt geworden!“, jede erzürnte Silbe, die Alice Bell hervorpresste, brannte in ihrem Hals wie Feuer.

„Ich, ich …“, Aurelie stammelte während sie angestrengt versuchte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, zu einem Satz zu verbinden.

Nur langsam fügten sich die Puzzleteile in Reih und Glied. Sie fasste ihre Mutter sanft an der Hand und blickte ihr tief in die Augen.

„Ich glaube, Großmutter hat Recht. Unerklärliche Dinge sind passiert. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Ich habe Magie gesehen. Es ist wahr.“

Alice Bells Kopf schmerzte. Realität und Fantasie trugen ein erbarmungsloses Gefecht in ihrem Gehirn aus. Sie zerrten aneinander. Sie wälzten sich am Boden, bis sich ihre zähen Körper so ineinander verkeilten, dass sie sich ununterscheidbar vermengten. Der innere Drang eine rationale Erklärung zu finden wurde von der Erinnerung an den wildgewordenen Wolf Stück für Stück in Fetzen gerissen. Was, wenn alles, was sie bisher geglaubt hatte zu wissen, eine Illusion war? Wie konnte sie sich sicher sein, dass Agatha Bell nicht die Wahrheit sprach?

„Was sollen wir jetzt nur tun?“

„Mein Kind. Ihr seid hier nicht mehr sicher. Vor dem, was da draußen lauert, kannst du deine Tochter nicht beschützen.“

„Dann lass uns doch mit Großmutter gehen“, Aurelie wusste selbst nicht, warum sie der beunruhigten kleingewachsenen Frau vertraute.

Doch tief in ihrem Inneren spürte sie eine enge Verbundenheit zu ihr. Es war als ob sie sich schon ewig kennen würden. Da waren keine Zweifel. Keine Angst. Alle Abzweigungen und Kreuzungen auf ihrer geistigen Landkarte verblassten. Es gab nur einen einzigen Weg. Sie mussten Agatha Bell folgen, wo auch immer sie sie hinführen würde.

„Aurelie. Ich sorge dafür, dass deine Mutter in Sicherheit ist. Aber sie kann nicht mit uns gehen. Sie ist keine Wesentliche. Es ist zu gefährlich für sie in unserer Welt.“

Das erschütterte Mädchen drückte die kalten Finger ihrer Mutter fest zusammen. Sie konnte nicht glauben, was ihre Großmutter von sich gab. Nichts und niemand würde sie dazu bringen ihre Mutter zu verlassen.

„Entweder wir beide begleiten dich oder niemand“, während Aurelie die trotzigen Worte hervorprustete, blähten sich ihre Nasenflügel vor Erzürnung.

Alice Bell hingegen hatte Tränen in den Augen. Sie strich ihrer geliebten Tochter die feuerroten Strähnen aus dem Gesicht und küsste sie sanft auf die Stirn. Sie hatte schon längst eine Entscheidung getroffen. Sie hatte zwar keine Ahnung, was hier vor sich ging, doch wenn nur der Hauch einer Chance bestand, dass ihre Schwiegermutter die Wahrheit sprach, musste sie alles tun, um ihre Tochter zu schützen. Selbst wenn sie an einem gebrochenen Herz qualvoll verenden würde, zählte nichts mehr als das Wohlsein ihres Kindes.

„Du wirst mit ihr gehen, hörst du.“

Aurelie blickte ungläubig in die feuchten Augen ihrer Mutter. Das Atmen fiel ihr schwer. Die gemischten Gefühle in ihrem Inneren erzeugten eine beklemmende Übelkeit. Einerseits war es unvorstellbar ihrer Mutter von der Seite zu weichen. Andererseits tat sich die Möglichkeit auf, zu erfahren, wer ihr Vater wirklich war. In eine unbekannte Welt einzutauchen. All die unerklärlichen Dinge zu begreifen, die seit kurzem Teil ihres Lebens geworden waren. Ihre Großmutter hatte ihr nun schon zum zweiten Mal das Leben gerettet. Noch mehr hätte sie die Lauterkeit ihrer Motive wohl nicht unter Beweis stellen können.

Mutter und Tochter sahen sich lange tief in die Augen. Sie brauchten nicht zu sprechen, um zu wissen, was der andere empfand. Es war ein Abschied. Ein Abschied ins Ungewisse.

„Ich liebe dich, mein Engel“, dicke Tränen kullerten Alice Bells Gesicht entlang und schienen Aurelie wie ein breites Gähnen anzustecken, sodass auch diese bitterlich zu weinen begann.

„Es wird Zeit“, Agatha Bell drängte die beiden, um nicht selbst unter Rührung in Tränen auszubrechen.

Es war schrecklich das Band zwischen Mutter und Tochter so unsanft zu zerreißen. Doch sie musste tun, was der Rat ihr aufgetragen hatte. Es ging nicht nur um den Schutz ihrer Familie alleine, sondern um das Wohl der ganzen Menschheit. Unter den Augen der Unwesentlichen konnte sie Aurelie nicht davor bewahren in die Hände von Det Ondas Anhängern zu fallen.

Während das rothaarige Mädchen schniefend in ihr Zimmer schlich und sichtlich planlos diverse Gegenstände in eine kaminrote Nylonreisetasche mit abgewetzten gelben Tragegurten stopfte, starrte Alice Bell verloren ins Leere.

„Es wird alles gut werden“, Agatha Bell versuchte ihre Schwiegertochter zu trösten.

Dann zog sie ein beiges zerknittertes Kuvert unter ihrem langen Ledermantel hervor.

„Du musst diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Hier drin sind ausreichend Bargeld und Zugtickets. Du wirst am Bahnhof abgeholt und in Sicherheit gebracht werden.“

„Wie höre ich von ihr? Wie weiß ich, dass es ihr gut geht?“, der Kummer in Alice Bells Stimme traf Agatha Bell wie ein Messer in die Brust.

Nur zu gut konnte sie die Muttergefühle nachempfinden.

Nachdenklich schlich die alte Frau durch den Raum, während ihr Blick auf die vielen gerahmten Fotografien an der Wand fiel, die Aurelie und ihre Mutter ausgelassen lachend zeigten. Da traf sie eine Entscheidung.

„Der Rat der Wesentlichen hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass du all das, was du gesehen hast, wieder vergisst. Damit du uns nicht suchst. Uns nicht verrätst. Damit du Aurelie loslässt. Dein Leben einfach weiterlebst. Ohne sie zu vermissen.“

„Ich könnte sie niemals vergessen“, schockiert über die Worte ihrer Schwiegermutter hielt sich Alice Bell die Innenfläche ihrer rechten Hand vor den Mund.

Nicht nur ihren größten Schatz wollte man ihr nehmen, auch noch ihre Erinnerungen? Da hätte ihr der Höllenwolf auch gleich das Herz aus der Brust reißen können. Sie zitterte am ganzen Leib.

„Ich werde es nicht tun. Ich werde ihre Weisung nicht befolgen. Aber du musst mir etwas versprechen. Du musst es mir schwören. Hörst du? Schwöre, dass du niemanden auch nur eine Silbe davon erzählst. Dass du nicht versuchst Kontakt aufzunehmen. Wenn alles ausgestanden ist, bringe ich sie dir zurück“, Agatha Bell wusste, dass sie diesen Verrat büßen würde.

Doch das war sie ihrem Sohn schuldig. Er hatte sich nun einmal in eine Unwesentliche verliebt. Er hatte sich dafür entschieden ein Leben im Zwiespalt zu führen. Es galt nun beide seiner Welten zu schützen.

„Ich verspreche es. Ich sage kein Wort“, flehend fiel Alice Bell auf die Knie.

Die wohlgenährte Zauberin zog sie noch rechtzeitig wieder auf die Beine, bevor Aurelie mit ihrer alten Reisetasche, die sich durch die Überladung nach außen beulte, als ob sie jeden Moment platzen würde, ins Zimmer trat.

„Ich bin soweit.“

„Alles wird gut werden. Bald sehen wir uns wieder“, mit all ihrer schauspielerischen Kraft gelang es Alice Bell ein kleines Lächeln mit ihren Schmolllippen zu formen.

Sie drückte ihre Tochter fest an ihre Brust.

„Vergiss nie, wie sehr ich dich lieb habe.“

Aurelie in der Welt der Wesentlichen

Подняться наверх