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Kapitel 5 - Der Rat
ОглавлениеEs war nur einige Stunden später als Dr. Marvelus am oberen Ende einer langgezogenen Tafel aus rotbraunem Mahagoniholz stand und seine Hände mit den Handflächen nach oben einladend zu beiden Seiten ausstreckte. Er sprach laut zu den Anwesenden.
„Meine lieben Freunde. Ich danke euch, dass sich der Rat so schnell zu dieser Sondersitzung eingefunden hat. Es war mir leider vorab nicht möglich den Grund dieses dringenden Treffens bekannt zu geben, denn die Angelegenheit erfordert äußerste Diskretion.“
Gebannt blickten die acht Gestalten, die rund um die Tafel Platz genommen hatten, in Richtung des alten Mannes, der locker 2,5 Meter hoch war. Die buschigen Augenbrauen ließen die kleinen mandelförmigen Augen besonders weise wirken. Das schneeweiße Haar, das er wie einen Schleier noch gut einen Meter hinter den dünnen Beinen herzog, war so seidig als ob es stundenlang gekämmt worden war. Nicht eine Strähne klebte an der anderen, nicht eine Locke wagte sich zu kräuseln. So wie auch die anderen Anwesenden trug der Vorsitzende des Wesentlichenrats einen bodenlangen schwarzen Talar.
An der Längsseite der Tafel saß gleich zu Dr. Marvelus Rechten eine Frau mit zart glänzender gelber Haut. Das symmetrische Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den weit geöffneten Augen, der kleinen Stupsnase und den prallen Lippen erschien irreal perfekt, als wäre es für das Cover eines Hochglanzmagazins entworfen worden. Ihre Pupillen leuchteten giftgrün, während sich die Augenlider nicht von oben nach unten, sondern von außen nach innen zusammenfügten, wenn sie blinzelte. Von ihrem Kopf hingen unzählige dicke gelbe Strähnen nach unten. Erst bei näherem Betrachten war zu erkennen, dass es sich dabei nicht um geflochtene Zöpfe handelte. Es waren vielmehr lederne Schlangenkörper, die aus ihrem Schädel wuchsen. Die Köpfe der giftigen Reptilien schliefen tief und fest auf den zarten Schultern ihrer Besitzerin. Nur hin und wieder zischten rosa Zungen peitschend aus den spitzen Mäulern hervor.
Einen Platz weiter ragte neben der wohlgeformt weiblichen Gestalt der Medusa ein meterhoher Oberkörper fast bis zur Decke des Raumes. In seinem Schatten wirkte sogar Dr. Marvelus verschwindend winzig. Die prankenartigen beharrten Hände lagen wie Schaufeln auf den Oberschenkeln. Während die anderen Ratsmitglieder auf rotbraunen Stühlen saßen, die aus dem gleichen Holz wie die edle Tafel geschnitzt waren, war auf dem Platz des Riesen eine massive metallene Bank aufgestellt. Da die baumstammartigen Beine des Ungetüms unmöglich unter der Tischplatte genügend Raum gefunden hätten, musste der Mann mit dem zotteligen braunen Haupthaar, welches mit dem dicken gekräuselten Vollbart, in dem sich Laub und Äste verfangen hatten, verwachsen war, etwas abseits sitzen. Es machte den Anschein, als ob sich in dem wilden Wuchs regelmäßig Vögel einnisten würden. In den riesigen Nasenlöchern der dicken Knollennase hätte problemlos der Kopf der Medusa Platz finden können. Rund um die grimmigen Augen zogen Sorgenfalten tiefe Kerben. Der Riese war nicht sehr kontaktfreudig und wenig begeistert von den Sitzungen des hohen Rats. Weder sprach er gern mit jemandem, noch hörte er gerne zu. Doch er wusste, dass ein friedliches Zusammenleben aller Wesentlichen und Unwesentlichen für die Bewahrung seines einsamen Einsiedlerlebens unabdingbar war. Dr. Marvelus hatte stets dafür gesorgt, dass er sein Land frei von den Einflüssen Dritter bewohnen konnte. Für diese unbezahlbare Freiheit war die Teilnahme am Wesentlichenrat ein nicht allzu hoher Preis.
Im Vergleich zu seinen seltsamen Sitznachbarn wirkte der ältere Herr, dessen dürre Finger unruhig auf die knochigen Oberschenkel pochten, völlig unscheinbar. Er trug eine klapprige alte Brille, deren Gläser nur mehr mit einem dicken Stück schwarzem Klebeband zusammengehalten wurden, der ergraute Haarkranz wuchs gleichmäßig um die polierte Halbglatze. In den Mundwinkeln klebten noch Brösel seiner Frühstückssemmel, aus den Augenbrauen ragten vereinzelt lange Härchen weit empor. Die Optik hätte nie vermuten lassen, dass es sich bei dem schmächtigen Mann um den berühmten Wissenschaftler Dr. Dr. Marcelus Omnisciens handelte, der mit seinen unzähligen Publikationen auf den Gebieten der Neurowissenschaften und der Quantenphysik weltweit Anerkennung genoss. Die unstillbare Wissbegierde und der Erfindergeist rührten von seiner Abstammung von einem uralten Druidengeschlecht. Sein Urgroßvater, der legendäre Dr. Ponentius, lehrte ihm bereits in jungen Jahren die hohe Kunst der Zaubersprüche in all ihren Facetten. Es fiel dem Wissenschaftler sichtlich schwer ruhig auf seinem Stuhl zu verharren und zuzuhören, während doch hunderte Gedanken, die wie Puzzleteile zu neuen Thesen und Formeln zusammengefügt werden wollten, durch seinen Kopf schossen.
Den nächsten Platz nahm ein Mann mit feinen Gesichtszügen, lieblichen Augen und einem sanften Lächeln ein. Zwischen den seidigen strohblonden Locken traten an den seitlichen Stirnlappen stattliche nach unten gebogene Hörner mit tiefen Rillen hervor. Unter der weit geschnittenen schwarzen Kutte konnte man die stählernen Muskeln des jungen Kerls nur erahnen. Der Talar verbarg auch, dass sich die gesund rosa strahlende Haut des Mannes ab dem Bauchnabel in lockiges graues Fell wandelte, welches schließlich in stahlharten Paarhufen mündete. Die Pans waren eine äußerst friedliebende Gattung, die ihre naturgegebene Bewaffnung aus harten Hornspitzen und trittsicheren Hufen stets nur zur Verteidigung einsetzten. Sie begegneten jedermann mit Hilfsbereitschaft, ihr Glaube an das Gute brachte eine gewisse Naivität mit sich, ließ sich jedoch durch nichts und niemanden erschüttern. So galt es als besonders schwere Sünde einen Pan zu schinden.
Dem Gehörnten gegenüber saß eine pummelige Frau, die nach ihrem Alter befragt stets die Zahl 43 angab, obwohl sie bestimmt schon um die 60 Jahre auf dem Buckel hatte. Seit jeher stellte sie sich mit dem Namen Lady Mc Grath vor. Es floss auch tatsächlich adeliges Blut durch ihre Adern. Der bei genauem Hinsehen erkennbare ergraute Haaransatz offenbarte, dass die rotbraune Farbe des stilvoll zu einer eleganten Hochsteckfrisur nach hinten gesteckten Haares chemisch erzeugt worden war. Über dem schwarzen Talar, der ihr fast bis zu den Zehenspitzen reichte, baumelte eine dreireihige, aus unzähligen knallpinken Perlen bestehende Kette. Lady Mc Grath hätte viel lieber ihr zartviolettes Designerkostüm präsentiert, als es unter dem wenig figurbetonten farblosen Talar zu verstecken. Aus diesem Grund ließ sie es sich nicht nehmen zumindest durch ihre auf jeden einzelnen Finger gesteckten prunkvollen hochkarätigen Ringe aus Gold und Silber, die allesamt mit Diamanten, Rubinen und Smaragden von unschätzbarem Wert gespickt waren, aufzufallen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die vor ihrem Ableben den Ratssitz innehatte, wusste Lady Mc Grath nicht viel über die Welt der Wesentlichen und noch weniger über jene der Unwesentlichen. Aus Respekt zu ihrer hoch geschätzten Mutter hätte es keiner der übrigen Ratsmitglieder laut ausgesprochen, aber Lady Mc Grath war mangels Intellektes keine wirkliche Bereicherung für die sonst so elitäre Runde. Doch ihre wohlhabende Familie war schon seit Jahrhunderten der größte Gönner der Agency. Erst durch deren großzügige finanzielle Unterstützung war der Londoner Stützpunkt zum weltweiten Flaggschiff herangewachsen. Aus diesem Grund kam der Rat nicht umhin, Lady Mc Grath den heiß ersehnten Wunsch den Platz ihrer Mutter an der Tafel einzunehmen zu erfüllen.
Immer wieder warf die hochnäsige Dame auffällig bissige Blick in Richtung ihrer Sitznachbarin, die mit ihren vollen dunklen Wimpern und Augenbrauen, den schöngeformten Lippen und dem leicht spitzen Kinn so atemberaubend schön war, dass man vor Neid erblassen konnte. Die rehbraunen Augen blickten aufmerksam und wach in Richtung von Dr. Marvelus. An ihren Händen trug die Anführerin der berittenen Amazonenarmee des verborgenen Waldes fingerlose Handschuhe aus dunklem Leder, unter der schwarzen Kutte waren deutlich die Konturen eines massiven Schwertes zu erkennen. Dieses hatte die Hüterin des Waldes mit Namen Akra bereits in unzähligen Kämpfen erprobt. Die Amazonen waren für ihre Stärke bekannt und wegen ihrer unerbittlichen Kampfeskunst gefürchtet. Einmal in den Kreis der Amazonen aufgenommen, war man sich der lebenslangen Loyalität aller Mitstreiterinnen sicher und konnte darauf zählen, dass jede der herkulischen Frauen bedingungslos ihr Leben für die andere opfern würde.
Neben Akra nahm eine kleine Gestalt, die von einem hellen Glanz umgeben war, ihren Platz ein. Der junge Elf hatte stechende eisblaue Augen und helle samtige Haut, die im richtigen Lichtwinkel golden strahlte. Das schneeweiße schulterlange Haar war hinter den spitz anlaufenden Ohren mit einer silbernen, alt anmutenden Spange zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Elfen waren ein uraltes Volk, das in magischer Weise mit der Natur und den Elementen verbunden war. Durch wegen ihres unverblümten Gemüts und der neugierigen Gutgläubigkeit war es ein Leichtes die zierlichen Wesen in die Irre zu führen. In der Vergangenheit hatten sich so manche niederträchtigen Gestalten dies zu Nutze gemacht und beuteten das Elfenvolk schamlos aus. So war es nicht verwunderlich, dass die faszinierenden geflügelten Wesen über die Jahre ein Misstrauen zu anderen Gattungen entwickelt hatten. Sie lebten zurückgezogen im verborgenen Wald und scheuten den Kontakt zur Außenwelt. Es hatte Dr. Marvelus intensive Überzeugungskraft gekostet Prinz Efonijus als Ratsmitglied zu gewinnen. Als Gegenleistung für das unsagbare Wissen über die alten Künste der Magie erhielt das Elfenvolk den Schutz der Armee des Rates und wird seither von den Amazonen behütet.
Als letztes sehr umstrittenes Ratsmitglied fand sich links neben Dr. Marvelus ein buckliger Mann mit schwarzem aalglattem Haar ein. Sein Gesicht wirkte kränklich bleich, als ob es noch nie Tageslicht gesehen hätte. Unter seinen furchteinflößenden Augen bohrten sich tiefe dunkle Ringe in die Haut. Auf den trockenen Lippen bildeten sich fransige blutleere Risse. Die jämmerlich anmutende Gestalt wusste, dass sein voller Name Misstrauen und Furcht hervorrief, weshalb er sich stets nur mit seinem Vornamen vorstellte. Alexander Nox hatte viele Jahre lang der dunklen Seite gedient. Geblendet und machthungrig verfolgte er das Ziel wie eine Plage über die Unwesentlichen hereinzubrechen. Doch das große Leid und die unzähligen Morde zerrten an ihm, raubten ihm den Schlaf und zerrissen sein Inneres. Als er es nicht mehr ertragen konnte, fasste er den Mut sich vom Anführer des Bösen, der sich selbst Det Onda nannte, abzuwenden. So wandte er sich hilfesuchend an Dr. Marvelus. Als Gegenleistung für dessen Gunst und den Schutz vor todbringenden Racheakten offerierte er dem Rat sein Insiderwissen und trug dazu bei, den mächtigen schwarzen Magier auf ewig in ein Verlies im verborgenen Wald einzusperren. Es gab viele, die davon überzeugt waren, dass Alexander Nox nur aus Furcht vor dem bevorstehenden Fall seines Herrschers auf die andere Seite gewechselt war und verhöhnten ihn als Feigling. Andere glaubten, dass es Det Onda selbst war, der ihm im Bewusstsein des nahenden Unterliegens im Kampf befohlen hatte sich seinen Feinden anzuschließen, um als Spion seine Befreiung und Wiederkehr zu planen. Eines hatten sie jedoch gemein, sie alle straften Alexander Nox bei jeder Begegnung mit angewiderten Blicken. Dr. Marvelus hingegen hatte keine Bedenken dem düsteren Mann zu vertrauen.
„Wie ihr alle wisst, hat unser tapferer Marlon Bell vor acht Jahren im Kampf gegen Det Onda sein Leben gelassen“, Dr. Marvelus schluckte.
Seine Worte wühlten längst verdrängte Erinnerungen an einen grausamen Krieg auf.
„Aber es gibt etwas, was er all die Jahre vor uns allen geheim hielt. Er war verheiratet. Mit der wunderschönen Alice Bell. Einer Unwesentlichen.“
Lady Mc Grath fasste sich mit der rechten Hand stöhnend auf die Brust, als ob sie just in diesem Moment einen Herzinfarkt erleiden würde.
„Aus dieser Beziehung ging ein Kind hervor. Ein kleines Mädchen mit Namen Aurelie“, sprach der Ratsvorsitzende weiter.
„Vor wenigen Stunden zeichneten die Satelliten der Agency verbotene magische Aktivität im Antlitz Unwesentlicher auf“, Dr. Marvelus unterbrach seinen Vortrag kurz und überlegte, wie er die unglaubliche Botschaft am besten überbringen sollte.
„Wie es scheint, meine Freunde, ist Marlon Bells Tochter eine Zauberin.“
Ungläubig starrten die Ratsmitglieder in die Augen des kolossalen Mannes.
„Das ist absolut ausgeschlossen“, empörte sich Lady Mc Grath.
Die pompöse Frau schüttelte ihren Kopf so wild, dass sich die rotbraunen Haarsträhnen aus dem strengen Gefängnis ihrer gesteckten Frisur lösten. Dass aus einer Verbindung eines Wesentlichen mit einer Unwesentlichen niemals ein Spross magischer Natur hervorgehen konnte, wusste schließlich jedes Kind.
„Die Agency ist doch wirklich für nichts zu gebrauchen. Ich frage mich, wofür meine Familie Unmengen an Geldern investiert, wenn offensichtlich nur unfähigen Mitarbeiter beschäftigt werden“, die Stimme der schimpfenden Frau wurde bei jeder Silbe lauter und schriller.
„Ich kann Ihnen versichern, dass kein Fehler vorliegt, Teuerste. Ich habe mich höchstpersönlich davon überzeugt“, versuchte Dr. Marvelus die hyperventilierende Dame zu beschwichtigen.
„Das ist erstaunlich“, murmelte Dr. Dr. Marcelus Omnisciens unverständlich in sein faltiges Kinn.
Er blätterte wild in dem quadratischen Notizbuch, das er unter seinem Talar hervorgezaubert hatte. Der schwarze Einband war abgewetzt und mit klebrigen Essensrückständen übersäht. Auf den weißen Seiten fanden sich kreuz und quer gezeichnete Skizzen, Formeln und Anmerkungen in unleserlicher krakeliger Schrift.
„Es muss so sein, sie ist die Rettung oder das Verderben.“
„Marcelus, willst du uns etwas sagen?“, fragte Dr. Marvelus in Richtung seines alten Freundes, der ohne den Kopf nur eine Sekunde zu erheben, seine Gedanken mit den Anwesenden teilte.
„Vor acht Jahren gelang es uns mit Müh und Not Det Onda mit dem Excilium-Zauber an die Gitter des uneinnehmbaren Verlieses im verborgenen Wald zu fesseln. Fast hätten wir den Kampf verloren. Noch nie zuvor hatten wir uns solchen Kräften stellen müssen. Um so mächtig zu werden, muss sich ein Zauberer gänzlich der schwarzen Magie hingeben. Durch den Corrupta-Zauber verschließt sich das Herz für immer vor der Liebe und die Seele verfällt zu einer dunklen leeren Hülle. Der Corrupta erfordert den Verzehr von sieben Herzen unschuldiger Wesen und gilt als der grausamste Zauber überhaupt. Wie der Excilium ist er unumkehrbar. Einmal ausgesprochen, kann er nicht mehr zurückgenommen werden.“
„Wir sind ja alle sehr dankbar für die Aufklärung, mein Freund. Aber das ist doch nichts Neues. Was hat das alles mit Marlon Bell zu tun?“, versuchte Dr. Marvelus den Professor, der für seine langspurigen, oft in unverständliche Theorien ausufernden Vorträge bekannt war, anzuspornen endlich zum Punkt zu kommen.
„Natürlich, natürlich, Constantin“, Dr. Dr. Marcelus Omnisciens kritzelte während er sprach mit einem schwarzen Kugelschreiber Pfeile und Symbole in sein Notizbuch.
„Der Legende nach wird eines Tages ein besonderer Unwesentlicher geboren. Er allein soll in der Lage sein das Unumkehrbare aufzuheben.“
„Wollen Sie damit sagen, dass dieses unwesentliche Kind Det Onda kampfunfähig machen kann? Dass die Welt endlich von dieser abscheulichen Kreatur befreit wird?“, Prinz Efonijus eisblaue Augen funkelten wie kleine Sterne während er seine hoffnungsvollen Worte hinausposaunte.
„Oder das Kind befreit Det Onda aus dem Verlies und er wird uns alle elendig zu Grunde gehen lassen“, zischte die Medusa zornig und pochte dabei so laut mit den Fäusten auf die glatt polierte Tischplatte, dass die zitronengelben Schlangenköpfe aus ihrem tiefen Schlaf gerissen wurden.
Sie rissen ihre feuerroten runden Augen weit auf, erhoben sich von den Schultern ihrer Herrin empor und peitschten neben deren Kopf wild in alle Richtungen.
Auf Lady Mc Graths Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen. Sie zog ein bunt besticktes Hermes-Seidentuch aus der kleinen Seitentasche des schwarzen Talars hervor und fächerte sich damit keuchend Luft zu.
„Was sollen wir nur tun? Was sollen wir nur tun? Diese Unreine ist ganz bestimmt unser Untergang“, wimmerte sie und wippte dabei verstört immer wieder vor und zurück.
„Zerquetschen“, grummelte der Riese aus windiger Höhe seinen Genossen, die er nur aus der Vogelperspektive betrachten konnte, zu.
Dabei stampfte er mit seinen verdreckten schweren Lederstiefeln so fest auf den spiegelnd-glänzenden Marmorboden, dass dieser zu beben begann.
Eine wilde Diskussion entbrannte zwischen den ungleichen Ratsmitgliedern. Sie sprachen ungesittet durcheinander, fielen sich gegenseitig ins Wort und warfen sich unschöne Dinge an den Kopf. Dr. Marvelus beobachtete einen Moment lang das Schauspiel, das ihn eher an einen Pausenhofkonflikt erinnerte, als an eine lösungsorientierte Gesprächsrunde der Regierenden. Er verschränkte die Arme nachdenklich vor der Brust. Gerade als der großgewachsene Mann beginnen wollte Ruhe zu stiften, wurde das hitzige Wortgefecht durch das laute Kreischen einer kleinen Dame mit weißrotem Lockenschopf, die auf einmal in die hohe Halle gestürmt kam, übertönt.
„Constantin Emil Marvelus, was fällt dir ein, einfach hinter meinem Rücken eine geheime Ratssitzung einzuberufen. Es geht hier schließlich um meine Enkelin!“, keifte die resolute Zauberin, die wenig abwechslungsreich eine rotkarierte Schürze über ihrem knielangen Kleid aus grünem Samt trug.
Sie presste die Hände an die Hüfte und starrte mit zornig zusammengekniffenen Augen in Richtung des Ratsvorsitzenden.
„Agatha, wie schön dich zu sehen“, Dr. Marvelus gab sich wenig Mühe den Sarkasmus in seinen Worten zu verbergen.
Er hatte zwar damit gerechnet, dass Agatha Bell vom Treffen erfahren würde, ein kleiner Teil in ihm hatte jedoch dennoch gehofft, dass die ohnedies besorgniserregende Lage nicht noch durch emotionale Ausbrüche einer Großmutter verkompliziert würde. Er kannte Agatha Bell schon seit so vielen Jahren. Obwohl sie kein Ratsmitglied war, hatte sie sich noch nie den Mund verbieten oder gar ausschließen lassen. Sie steckte ihre kleine gepunktete Nase nur zu gern in Angelegenheiten, die ihre Kompetenzen überschritten.
„Wir dürfen uns in dieser Sache nicht von Emotionen leiten lassen, Agatha. Daher hielt ich es besser, dich vorerst nicht miteinzubeziehen. Das ist eine Entscheidung, die allein der Wesentlichenrat zu fällen hat.“
„Ist das ein schlechter Scherz? Nicht von Emotionen leiten lassen? Ist das etwa der Dank an die Bell Familie? War es nicht mein Sohn, der sich in den Dienst des Rates begab und dort ohne mit der Wimper zu zucken an vorderster Front kämpfte, um Det Onda den Gar auszumachen? Und so wollt ihr ihn ehren? Ihr zieht doch nicht etwa in Erwägung ihm zu rauben, was er mit all seiner Kraft beschützen wollte? Ist euch denn überhaupt nichts mehr heilig?“, Agatha Bell schrie so laut, dass sie am Ende des letzten Satzes die Stimme verlor und keuchend nach Luft schnappen musste.
Die Ratsmitglieder verstummten und blickten beschämt nach unten, als ob man gerade ein Kleinkind beim Stehlen ertappt hätte. Agatha Bell hatte nicht ganz Unrecht. Dieses Kind war das Erbe von Marlon Bell. Einem tapferen Helden, der sich selbst für ein größeres Wohl geopfert hatte. Was hätte sie selbst von den barbarischen Anhängern der bösen Mächte unterschieden, wenn sie das Leben eines Kindes aufgeben würden, obwohl sie es retten konnten. Ob es nun wesentlich war oder unwesentlich. Es blieb ein unschuldiges Kind.
Lady Mac Grath hingegen rümpfte die Nase. Was erlaubte sich diese vorlaute Person? Was fiel ihr nur ein, einfach die Ratssitzung zu unterbrechen. Warum unternahm Dr. Marvelus nichts dagegen?
Doch der Vorsitzende des Rates dachte nicht im Traum daran Agatha Bell das Wort zu entziehen. Für ihn selbst war es genauso wenig eine Option gewesen, der kleinen Bell etwas anzutun. Doch solche Entscheidungen hatte er nicht alleine zu treffen. Dafür gab es das Kollektiv des Rates. Wie jeder andere musste auch er sich den demokratischen Mehrheitsentscheidungen fügen. Agathas unverblümte Art war bestens geeignet die Ratsmitglieder auf den richtigen Weg zu lenken, sodass er sich langwierige vernünftige Ansprachen sparen konnte. Hatte Professor Marvelus etwa genau das vorhergesehen? Oder wie hatte die alte Dame sonst Wind von der geheimen Ratssitzung bekommen?
„Nun Agatha, was schlägst du vor? Wie sollen wir weiter vorgehen?“, er spielte ihr neuerlich den Ball zu.
Agatha Bell, die bereits zu einer weiteren Schreitirade angesetzt hatte, schluckte. Sie hatte nicht damit gerechnet auf so wenig Widerstand zu stoßen. Üblicherweise musste sie erst stundenlang diskutieren, bevor sie ihren Willen durchsetzen konnte. Unzählige Male war sie auch schon bitterböse wieder aus den heiligen hohen Hallen gestürmt, nachdem ihre Anliegen einfach abgewimmelt worden waren. Die sorgenvoll gerunzelte Stirn unter dem gelockten Schopf glättete sich angesichts des schnellen Erfolgs sofort.
„Nun ja …“, stammelte sie und strich dabei mit ihren Handflächen nervös über die karierte Baumwollschürze.
„Am besten sie kommt zu mir. Ich hole das Mädchen zu mir in die Schule“, Agatha Bell versuchte den Gedanken, der ihr gerade eben erst in den Sinn gekommen war, so klingen zu lassen, als hätte sie schon stundenlang darüber gegrübelt.
„Sie muss lernen sich zu verteidigen. Überall lauern Det Ondas Anhänger. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie von der Existenz des Kindes erfahren“, verkündete Akra in unheilvoller Stimme.
„Professor Decidus und ich werden dafür Sorge tragen, dass Aurelie alles lernt, was sie als Wesentliche wissen muss. Sie ist so ein schlaues Kind. Sie wird im Nu alles aufgeholt haben. Und welcher Ort wäre besser geeignet meine Enkelin zu schützen als Maginburgh“, je weiter sie sprach, desto mehr war sie selbst davon überzeugt, dass nur dies allein die richtige Lösung sein konnte.
„Nun gut, wenn es keine weiteren Wortmeldungen mehr gibt, stimmen wir in gewohnt gesitteter Manier …“, Dr. Marvelus unterbrach seinen Satz, zog die Augenbrauen nach oben und brachte mit strengem Blick zum Ausdruck, dass er Contrastimmen nicht gutheißen würde, bevor er weitersprach, „… darüber ab, ob die Tochter von Marlon Bell in den Kreis der Wesentlichen aufgenommen wird. Wer dafür ist, möge sich erheben.“
Akra, Prinz Efonijus und Alexander Nox zögerten keine Sekunde und sprangen von ihren Plätzen. Nur einen Augenblick später stellte sich auch der Riese unter lautem Knarren der metallenen Bank auf die säulenbreiten Beine, sodass sein Kopf bis zum Kristallkronleuchter an der holzgetäfelten Decke reichte. Der Pan und die Medusa blickten sich zunächst fragend an, nach lautem Räuspern von Agatha Bell rückten aber auch sie ihre Stühle nach hinten und richteten ihre Häupter auf.
„Marcelus?“, rief Dr. Marvelus seinem alten Freund, der völlig vertieft das faltige Gesicht in seine Notizen steckte uns so angestrengt nachdachte, dass man die kleinen Rädchen in seinem Kopf förmlich ineinander einrasten hören konnte, beim Namen.
Der Professor wurde mit einem Mal aus seinem Trance-Zustand gerissen und blickte verwirrt in die Runde. Ohne zu wissen, um was es überhaupt gerade ging, erhob sich auch der gebrechlich wirkende Mann von seinem Platz. In gebückter Haltung kritzelte er weiter kreuz und quer auf die weißen Seiten seines Büchleins.
„Gut, dann steht die Entscheidung fest. Aurelie Bell wird mit sofortiger Wirkung in der Schule der hohen Kunst der Magie angenommen. Dort wird sie unter der Aufsicht von Agatha Bell und unserem geschätzten Freund und ehemaligen Ratsmitglied Professor Decidus unterrichtet werden.“
Agatha Bell klatschte freudestrahlend in die Hände.
„Sie machen einen großen Fehler Dr. Marvelus“, ertönte die zornige Stimme der sitzengebliebenen Lady Mc. Grath.
Mit unheilvollem Blick erhob sich die wohlgenährte Frau ruckartig von ihrem Stuhl. Die Nasenflügel der offensichtlich mehrfach korrigierten Nase weit gebläht stöckelte sie mit gewollt lautem Schritt zur bis zur Decke reichenden antiken Tür mit geschnitztem Rahmen, deren Flügel sich von alleine öffneten, als die Dame sich ihnen näherte. Ohne sich zu verabschieden verließ sie wutentbrannt den Raum.