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Kapitel 4 - Zwei Welten

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Zeitgleich im 20. Geschoss eines gigantischen Gebäudekomplexes am Südufer der Themse in London. In einem langgezogenen Büroraum, in dem mindestens 100 durch Sichtblenden voneinander getrennte, in einem monotonen Grauton gehaltene Schreibtische gänzlich idente Arbeitsplätze bildeten, blinkte auf einem der silbernen Computermonitore plötzlich ein großer roter Punkt auf der dort eingeblendeten Landkarte auf.

„Na, was haben wir denn da?“, murmelte die kleine Gestalt mit den hoch emporstehenden Ohren, die sie problemlos in alle Richtungen drehen und wenden konnte und stellte dabei einen vollgefüllten Kaffeebecher so unsanft ab, dass das braune Gesöff fast auf die makellos staubfreie Tischplatte überschwappte.

Das Wesen, das nicht höher als 50 cm sein konnte, steckte in einem grauen Baumwollanzug, der es zwischen den gleichfarbigen Schreibtischen fast unsichtbar werden ließ und trug eine winzige schwarze Krawatte um den Hals. Die Haut war leicht grünlich gefärbt, als ob es etwas Verdorbenes gegessen hätte. Auf dem Kopf und aus den Ohren wucherte gekräuseltes borstiges Haar. Die strengen nachtschwarzen Augen und die tiefe Falte zwischen den wuscheligen grauen Augenbrauen ließen die Gestalt verbittert wirken. Die Mundwinkel waren weit nach unten gezogen, als ob der kleine Herr noch nie in seinem Leben gelacht hätte. Durch die spitzzulaufenden dunkelgrünen Fingernägel erschienen die dünnen knochigen Finger unendlich lang.

Der Winzling zog sich mit den zum Körper unproportional langen Armen an den Lehnen des schwarzen, rollbaren Schreibtischstuhles nach oben. Die kurzen Beine baumelten frei in der Luft, als er sich mit rüttelnden Bewegungen in eine bequeme Sitzhaltung manövrierte.

„Sieh an, sieh an, ein Verstoß in Bredhurst“, hörte man den grimmigen Kobold leise mit sich selbst sprechen, während er mit dem Zeigefinger das kleine schwarze Rädchen auf seiner Computermaus hinunterschnellen ließ, wodurch sich die Landkarte auf dem Computerschirm vergrößerte.

“Bredhurst Primary School. Na, wen haben wir denn da?“, setzte er sein Selbstgespräch fort und hämmerte dabei wild in die Touchscreen-Tasten der silbernen Tastatur.

Prompt öffnete sich eine Unzahl von Fenstern mit Eingabemasken, in die der Kobold unleserlichen Quellcode eingab. Plötzlich zog er seine wild wuchernden Brauen soweit nach oben, dass der tiefe Krater seiner Stirnfalte fast völlig glattgebügelt wurde. Das zartgrüne Gesicht erstarrte.

„Das ist doch nicht möglich!“, er tippte mit festem Druck auf die Taste seiner Tastatur, auf der ein Telefonhörer abgebildet war.

Sowohl auf der Taste als auch auf dem funkverbundenen Ohrhörer, der tief in der rechten, spitz anlaufenden Ohrmuschel der Gestalt steckte, blinkte sogleich im Sekundentakt ein weißes Licht auf. Mit den langen Fingernägeln schlug der Kobold die Zahlenfolge 3643 im Nummernblock an. Das Blinken wandelte sich in ein dauerhaftes oranges Leuchten. Eine hohe piepsende Frauenstimme meldete sich auf der anderen Leitung.

„Ja, bitte?“

„Ich habe hier einen nicht registrierten Wesentlichen auf dem Schirm“, meldete der Kobold kurz und knapp, ohne sich anmerken zu lassen, dass er die soeben ausgesprochenen Worte selbst nicht glauben konnte.

Die Dame am anderen Ende erkannte die Dringlichkeit der ungewöhnlichen Meldung sofort. Mit einem aufgeregten „Ich schicke jemanden“, wurde das Gespräch ohne Verabschiedung beendet, was sich dem Kobold nur durch das Erlöschen des kleinen LED-Leuchtpunktes auf der Tastatur bemerkbar machte.

Nur wenige Augenblicke später hastete ein groß gewachsener, gutaussehender Mann mit an den Seiten graumeliertem Haar in den mit einer meterhohen Fensterfront ausgestatteten Büroraum. Er eilte an den unzähligen identen Arbeitsplätzen, an denen Tisch für Tisch kleine grünliche Gestalten mit ihren langen dünnen Fingern unbeirrt in rasanter Geschwindigkeit in die Tasten schlugen, vorbei. Allesamt trugen sie schmucklose graue Anzüge mit winzigen schwarzen Krawatten. Keiner von ihnen wagte es den Blick vom Bildschirm abzuwenden, doch die langen spitzen Ohren drehten sich neugierig in Richtung des impulsiv durch den Raum schreitenden Mannes. Dieser trug einen klassischen fast bodenlangen schwarzen Mantel, darunter einen schicken graumelierten Mohair-Anzug, ein weißes Hemd aus Baumwolltwill und eine schmale schwarze Krawatte. Sämtliche Kleidungsstücke saßen bei jeder Bewegung so faltenfrei, dass sie ihm nur auf den Leib geschneidert sein konnten. Hinter ihm eilte eine zierliche junge Frau in einer enganliegenden weißen Rüschenbluse und einem geradegeschnittenen knielangen beigen Rock nach, die trotz der hohen farblich zum Rock passenden Pumps nur 160 cm groß sein konnte. Während sie dem stattlichen Herrn wie ein Schatten durch den Raum folgte, schob sie immer wieder ihre große schwarze Hornbrille nach oben, die ihr bei jedem zweiten Schritt wieder auf die Nase rutschte. Eng vor der Brust hielt sie eine dick gefüllte dunkelblaue Mappe fest umschlungen, als befände sich darin ein Schatz verborgen.

„Und hier, Miss Butterpopp, sehen Sie das Herzstück unserer Agentur“, sprach der attraktive Mann, ohne seinen nach vorne gerichteten Blick auch nur eine Sekunde zu seiner Gesprächspartnerin abzuwenden.

„Keine wesentliche Tätigkeit entgeht unseren Satelliten. Wir werden sofort darüber informiert, wenn gegen das oberste Prinzip der Wesentlichenverfassung verstoßen wird, dass da lautet?“, der Anzugträger stoppte mitten im Satz, blieb abrupt stehen, drehte sich um die eigene Achse und starrte der Blondine mit dem adretten Pferdschwanz und den schmal gezupften Augenbrauen erwartungsvoll in die großen bernsteinfarbenen Augen.

„Die Wesentlichen haben ihre Erscheinung und Tätigkeit vor den Unwesentlichen stets verborgen zu halten“, antworte Miss Butterpopp wie aus der Pistole geschossen.

„Sehr gut, wie ich sehe haben Sie sich gut vorbereitet“, der großgewachsene Mann lächelte eine Sekunde so breit, dass seine strahlend weißen Zähne zum Vorschein kamen.

Schon schien es um Miss Butterpopp geschehen zu sein. Die perlweißen Wangen färbten sich in ein gesundes Pink, als die junge Frau merkte, dass ihre Unterschenkel sich wie Pudding anfühlten und sie sich mit einem Mal der Ohnmacht nahe fühlte. Doch noch bevor sie ihre Schnappatmung wieder regulieren und eine Antwort, die gleichermaßen verführerisch wie distanziert sein sollte, formulieren konnte, drehte sich das Objekt ihrer Begierde wieder um und wanderte schnellen Schrittes weiter zu jenem Computermonitor, auf welchem das rote Licht noch immer unaufhaltsam aufblinkte. Daneben tänzelte der grünliche Kobold, der es nur schwer ertragen konnte aus seiner üblichen Routine entrissen zu werden, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

„Mr. Williams, Sir, ich habe hier eine Meldung aus Bredhurst. Die Anwendung von Magie vor einer Vielzahl von Unwesentlichen wurde registriert. Doch die besagte Person ist nicht in unserer Wesentlichendatenbank erfasst“, strömte es aus der grünlichen Gestalt, die es sichtlich nicht gewohnt war wortvolle Gespräche zu führen, so schnell heraus, dass sie sich fast verschluckte.

Sie sprang schwungvoll auf den Schreibtischsessel und zoomte die Landkarte in jenem Bereich, in dem der rote Punkt taktvoll vor sich hin blinkte, immer näher heran, bis auf dem Bildschirm schließlich das karge Innere des Pausenraumes der Bredhurst Primary School zu erkennen war.

Der ansehnliche Mann, bei dem es sich um keinen Geringeren als Mr. Sean Claude Williams handelte, der als Vorstandsmitglied der FAB Agency, die unter Aufsicht und Leitung des Wesentlichenrats arbeitete, musste sich tief hinunter beugen, um einen Blick auf den Bildschirm erhaschen zu können.

„Alle Wesentlichen weltweit sind in unserer Datenbank erfasst, es kann sich also nur um einen Fehler handeln“, sprach er ungläubig.

„Ich stimme Ihnen zu, Sir, es sei denn bei der besagten Person handelt es sich um eine Unwesentliche“, der ausschließlich rational denkende Kobold konnte den sinnentleerten Inhalt seiner Worte selbst nicht glauben.

Schließlich waren Unwesentliche nicht in der Lage Magie anzuwenden. Sie waren schlichtweg banal und gewöhnlich.

„Ausgeschlossen!“, Mr. Williams warf dem grünen Wunderling mit den nachtschwarzen Augen einen strafenden Blick für dessen Worte, die er für einen unangebrachten Scherz hielt, zu.

„Daten können nicht lügen. Sehen Sie hier. Der Zauber wurde von Aurelie Bell, Tochter von Marlon und Alice Bell, elf Jahre alt, wohnhaft in der Kemsley Street Road Nummer drei, angewandt“, der Kobold führte mit seiner Maus den Cursor auf eine der Schaltflächen im Hintergrund des Bildschirms, sodass sich die Abbildung eines Reisepasses öffnete, auf dem Aurelies Foto zu erkennen war.

Mr. Williams hielt sich nachdenklich die Hand an das markante Kinn. Tiefe Sorgenfalten bildeten sich auf der sonst so glattgebügelten Stirn. Er war es nicht gewohnt keine Antwort parat zu haben. Schließlich verdankte er seine Position seiner immerwährenden Professionalität und Gelassenheit. Wenn andere in Ratlosigkeit resignierten, liefen seine Synapsen erst zur Hochleistung auf und produzierten unzählige Lösungsvariationen. Doch diesmal herrschte gähnende Leere in seinem Kopf. Es ergab einfach keinen Sinn. Hatte Marlon Bell all die Jahre ein Doppelleben geführt? Ein Kind mit einer Unwesentlichen verheimlicht?

Der großgewachsene Mann spürte den starrenden Blick des ungeduldigen Kobolds in seinem Nacken, der sehnlichst auf eine Arbeitsanweisung wartete. Die unerträgliche Stille trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn. Sein Mund trocknete nach und nach aus. Angestrengt überlegte er, wann er das letzte Mal so sprachlos gewesen war.

„Es wäre wohl das Beste, wenn wir diesen Vorfall Dr. Marvelus höchstpersönlich melden“, Miss Butterpopps liebliche Stimme schien Mr. Williams geistigen Motor wie zuckersüßer Treibstoff wieder in Gang zu setzen.

„Genau das machen wir. Und bis auf weiteres wird strengste Verschwiegenheit über diesen Vorfall bewahrt“, ordnete er in einem solchen Befehlston an, als ob es sich um seinen eigenen Einfall gehandelt hätte.

So eilig wie sie gekommen waren, verließen die beiden Agency Mitarbeiter die Büroräumlichkeiten wieder.

Aurelie in der Welt der Wesentlichen

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