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Erstes Kapitel.

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Inhaltsverzeichnis

In der Dämmerung eines Oktoberabends trat eine nervös aussehende Frau von etwa vierzig Jahren durch eine Eichenholztür auf einen breiten Flur, der sich im ersten Stockwerk eines alten englischen Landhauses befand. Eine Haarlocke war über ihre Stirne gefallen, als ob sie tiefgebückt beim Lesen oder Schreiben gesessen hätte, und sie stand jetzt einen Augenblick still, um sie zurückzustreichen, und starrte nachdenklich — aber durchaus nicht träumerisch — durch das hohe, schmale Fenster. Von der Pracht des Sonnenuntergangs konnte sie nichts sehen, denn dieses Fenster ging nach Osten zu, wo die Landschaft mit ihren Schaftriften und Weidegründen langsam in dem trüben, grauen Dunkel versank.

Die Dame blieb eine Zeitlang unschlüssig auf dem Flur stehen, wie jemand, der nur selten Ruhe und Frieden genießen kann. Dann ging sie auf eine andere Tür zu, auf der in weißen Buchstaben „Klassenzimmer Nr. 6“ geschrieben stand. An der Schwelle machte sie aber wieder halt, da sie im oberen Stockwerk eine flüsternde Stimme hörte, und blickte vorsichtig an dem breiten, runden Geländer hinauf, das in einer ununterbrochenen Kurve und in gleichmäßiger Neigung durch alle Stockwerke des Hauses lief.

Eine jugendliche Stimme, die offenbar jemand nachäffte, erscholl jetzt von oben. „Bitte, meine Damen, wir gehen nunmehr zu den Etudes de la vélocité über.“

In demselben Augenblick schoß ein Mädchen in einem Leinenkleid an dem Geländer herunter. Sie wirbelte in furchtlosem Schwung um die Kurve und verschwand unten in der Dunkelheit. Ein stattliches Mädchen in Grün, das beim Abwärtsgleiten ängstlich den Atem anhielt, folgte ihr, und dann kam eine schon fast erwachsene Dame in Schwarz, die mit den Zähnen auf ihre Unterlippe biß und entsetzt ihre schönen braunen Augen aufriß. Ihr Flug erregte einen Miniatursturmwind, der die Haare der Dame auf dem Flur von neuem in Unordnung brachte. In atemloser Aufregung wartete sie, bis ein zweimaliges leichtes Aufspringen und ein schwereres Hinplumpsen des großen Mädchens ihr zeigten, daß die Luftschifferinnen glücklich im Hausflur gelandet waren.

„Himmel!“ rief die Stimme, die auch vorhin gesprochen hatte. „Da ist Susanna.“

„Sie können Gott danken, daß Sie nicht den Hals gebrochen haben,“ entgegnete eine aufgeregte Stimme. „Diesmal erzähl ich es Miß Wylie! Wirklich, ich tu es. Und Sie, Miß Carpenter: ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem Alter und Ihrer Größe nicht mehr Vernunft haben! Miß Wilson muß Sie ja hören, wenn Sie so aufplumpsen. Das ganze Haus zittert.“

„Ach, Unsinn!“ sagte Miß Wylie. „Die Lady Abbeß hütet sich, uns jedes Geräusch zu verbieten. Jetzt wollen wir —“

„Mädchen,“ sagte die Dame oben mit ruhiger, aber unheilvoll fester Stimme.

Schweigen und äußerste Bestürzung folgten. Dann antwortete Miß Wylie in honigsüßem Tone. „Riefen Sie uns, liebe Miß Wilson?“

„Ja. Bitte, kommen Sie alle drei herauf.“

Sie zauderten eine Weile, da jede der andern den Vortritt anbot. Zuletzt kamen sie alle drei herauf, in derselben Reihenfolge, in der sie heruntergeflogen waren, nur nicht in derselben Schnelligkeit. Sie folgten Miß Wilson in das Klassenzimmer und standen in einer Reihe vor ihr, während vom Westen her aus den drei Fenstern sie ein orangerotes Licht überstrahlte. Miß Carpenter, die größte von den dreien, glühte vor Verwirrung. Sie ließ die Arme herunterhängen und spielte mit den Fingern an den Falten ihres Kleides. Miß Gertrude Lindsay, die in blasses Seegrün gekleidet war, hatte einen kleinen Kopf, eine zarte Figur und perlenfeine Zähne. Sie stand aufrecht da, mit dem Ausdruck kühler Verachtung für Vorwürfe jeder Art. Das Leinenkleid der dritten Sünderin, das in dem grauen Zwielicht des Treppenhauses gelb gewesen war, sah jetzt im Zimmer in der warmen Abendglut weiß aus. Ihr Gesicht hatte einen glänzenden, olivenfarbenen Ton und schien wie von einem goldenen Flimmer überzogen. Ihre Augen und Haare waren nußbraun, und ihre Zähne, deren obere Reihe sie offen zeigte, waren wie aus feinem Marmor. Sie standen übrigens ziemlich nach außen und hätten ihren Mund verunziert, wären sie nicht von einer vollen Unterlippe und einem fein geschwungenen, etwas dreisten Kinn getragen worden. Ihrem halb schmeichelnden und halb spöttischen Gesicht und ihrem schnellen Lächeln konnte man nicht leicht ernst entgegentreten. Miß Wilson wußte das, und sie wollte sie nicht ansehen, selbst als sie ein krampfhaftes Auffahren und einen ärgerlichen Seitenblick Miß Lindsays bemerkte, die von ihrer Nachbarin gezwickt worden war.

„Sie wissen, daß Sie die Regeln übertreten haben,“ sagte Miß Wilson ruhig.

„Es war nicht unsere Absicht. Wirklich nicht“, sagte das Mädchen in dem Leinenkleid in schmeichelndem Tone.

„Bitte, Miß Wylie, was war denn Ihre Absicht?“

Miß Wylie nahm dies unerwarteterweise als eine witzige Entgegnung und nicht als einen Vorwurf auf. Sie stieß einen komischen Schrei aus, der in einen langen Ausbruch von Gelächter überging.

„Agatha, wollen Sie wohl still sein!“ sagte Miß Wilson streng. Agatha machte ein zerknirschtes Gesicht, und Miß Wilson wandte sich hastig zu der ältesten von den dreien. „Über Sie, Miß Carpenter, bin ich am meisten erstaunt. Sie scheinen keine Lust zu haben, mir Ihr Wort zu halten und sich nach den Regeln zu richten, obgleich Sie alt genug sind, um deren Notwendigkeit einzusehen. Ich werde Sie nicht mit Vorwürfen oder Bitten belästigen, denn ich bin jetzt überzeugt, daß Sie sich doch nichts daraus machen“ — hier brach Miß Carpenter nach einem stummen Protest in Tränen aus — „aber Sie sollten wenigstens die Gefahr bedenken, in die Sie die jüngeren Mädchen durch Ihre Kinderei bringen. Was würden Sie sagen, wenn Agatha ihr Genick gebrochen hätte?“

„Oh!“ rief Agatha und faßte sich schnell mit der Hand nach ihrem Nacken.

„Ich glaubte nicht, daß eine Gefahr dabei sei,“ sagte Miß Carpenter, mit ihren Tränen kämpfend. „Agatha hat es schon so oft getan — oh, mein Gott, du hast mir das Kleid zerrissen!“ Miß Wylie hatte ihre Mitschülerin am Rock gezogen, und der Ruck war zu stark gewesen.

„Miß Wylie“, sagte Miß Wilson leicht errötend, „ich muß Sie bitten, das Zimmer zu verlassen.“

„O nein,“ schrie Agatha und faltete betrübt die Hände. „Bitte, tun Sie es nicht, liebe Miß Wilson. Es tut mir so leid. Ich bitte Sie um Verzeihung.“

„Da Sie nicht tun wollen, um was ich Sie bitte, muß ich selbst gehen,“ sagte Miß Wilson streng. „Kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer,“ fügte sie, zu den beiden andern gewendet, hinzu. „Wenn Sie versuchen sollten, mir zu folgen, Miß Wylie, werde ich das als eine Zudringlichkeit ansehen.“

„Aber ich will ja gehen, wenn Sie es wünschen. Ich wollte Ihnen nicht ungehorsam —“

„Ich werde Sie jetzt nicht stören. Kommen Sie beide!“

Die drei gingen hinaus, und Miß Wylie, die in Ungnade zurückblieb, schnitt Miß Lindsay ein grimmiges Gesicht, als diese sich noch einmal nach ihr umsah. Als sie allein war, ließ ihre Lebhaftigkeit nach. Sie ging langsam zu dem Fenster und blickte verzweiflungsvoll auf die Landschaft. Einmal, als von oben der Klang der Stimmen zu ihr herunterdrang, leuchteten ihre Augen auf und ihre flinke Lippe bewegte sich. Aber dann wurde es wieder still, und sie versank in eine verdrießliche Gleichgültigkeit, bis ihre zwei Genossinnen mit sehr ernsten Gesichtern wieder hereinkamen.

„Nun,“ sagte sie plötzlich munter, „hat sie moralische Überredung angewandt? Müßt ihr euch in das Sündenbuch eintragen?“

„Still, Agatha,“ sagte Miß Carpenter. „Du solltest dich über dich selber schämen.“

„Nein, du solltest es, du Gans. Du hast mich in eine hübsche Patsche gebracht!“

„Du warst es selbst schuld. Du hast mein Kleid zerrissen.“

„Ja, als du mich verklatschtest, weil ich manchmal das Geländer heruntergleite.“

„Oh!“ sagte Miß Carpenter langsam, als ob sie daran noch gar nicht gedacht hatte. „Deshalb hast du mich am Kleid gezogen?“

„Mein Gott! Das wird dir jetzt erst klar? Du bist ein schrecklich blödsinniges Mädchen, Jane. Was hat die Lady Abbeß gesagt?“

Miß Carpenter begann wieder zu weinen und konnte nicht antworten.

„Sie ist natürlich entrüstet über uns,“ sagte Miß Lindsay.

„Sie sagte, du wärest an allem schuld,“ schluchzte Miß Carpenter.

„Oh, Liebste, das macht nichts,“ sagte Agatha begütigend. „Schreib es in das Sündenbuch.“

„Ich schreibe kein Wort in das Sündenbuch, wenn du es nicht zuerst tust,“ sagte Miß Lindsay ärgerlich. „Du hast mehr Schuld als wir.“

„Gewiß, Liebste,“ entgegnete Agatha. „Meinetwegen eine ganze Seite.“

„Ich — ich glaube, du schreibst gern in das Sündenbuch,“ sagte Miß Carpenter hämisch.

„Ja, Jane. Das ist der beste Spaß, den man hier in diesem Loch hat.“

„Es mag dir Spaß machen,“ sagte Miß Lindsay scharf, „aber für mich ist es nicht sehr rühmlich, wie Miß Wilson grade sagte, daß ich in der Moralphilosophie einen Preis bekommen habe und dann einschreiben muß, ich wüßte mich selbst nicht zu benehmen. Außerdem laß ich mir nicht gerne sagen, ich sei schlecht erzogen.“

Agatha lachte. „Was für eine kluge, alte Person sie ist! Sie weiß uns stets bei unseren kleinen Schwächen zu fassen, die sie genau kennt. Meinst du, sie würde jemals mir oder Jane erzählen, wir wären schlecht erzogen!“

„Ich verstehe dich nicht,“ sagte Miß Lindsay stolz.

„Natürlich nicht. Du verstehst aber von der Moralphilosophie nicht soviel wie ich, trotzdem ich niemals einen Preis darin bekam.“

„Du hast überhaupt noch keinen Preis bekommen,“ sagte Miß Carpenter.

„Und hoffentlich bekomm ich auch in Zukunft keinen,“ sagte Agatha. „Lieber würde ich mich wie die Straßenjungens im Schnee um heißgemachte Pfennige herumbalgen, als mich darum streiten, wer die meisten Fragen beantworten kann. Ich habe genug Moralphilosophie an Doktor Watts. Aber jetzt wollen wir uns das Sündenbuch holen.“

Sie ging an ein Gestell und holte ein schweres, in schwarzes Leder gebundenes Buch in Quartformat herunter, auf dem in roten Buchstaben die Inschrift Meine Vergehen stand. Sie warf es unehrerbietig auf ein Pult und blätterte die Seiten um, bis sie an eine kam, die erst zum Teil mit Bekenntnissen ausgefüllt war.

„Merkwürdig,“ sagte sie, „hier sind ja zwei Eintragungen, die nicht von mir herstammen. Sarah Gerram! Was hat sie gebeichtet?“

„Lies es nicht,“ sagte Miß Lindsay schnell. „Du weißt, das ist das Schändlichste, was eine von uns tun kann.“

„Puh! Wegen unserer kleinen Sünden braucht man nicht solches Geschrei zu machen. Ich habe es immer gern, wenn andere meine Eintragungen lesen, ich komme mir dann wie eine Schriftstellerin vor. Natürlich lese ich dann aus christlicher Nächstenliebe auch das von den andern. Also das Schuldbekenntnis der armen Sarah. ‚1. Oktober. Es tut mir sehr leid, daß ich heute morgen im Badezimmer Miß Chambers einen Klaps gab und ihr dabei einen Zahn ausschlug. Es war sehr häßlich, aber er fiel schon von selbst aus, und sie hat mir verziehen, weil ein neuer kommt. Sie hat auch nur geschwindelt, als sie sagte, sie hätte ihn heruntergeschluckt. Sarah Gerram.‘“

„So ein Schaf!“ sagte Miß Lindsay. „Und mit solchen kleinen Kindern muß man sich in dasselbe Buch einschreiben!“

„Hier ist ein rührendes Bekenntnis. ‚4. Oktober. Helen Plantagenet tut es sehr leid, daß sie gestehen muß, sie hat den ersten Platz in Algebra gestern mit Unrecht erhalten. Miß Lindsay sagte mir vor, und —‘“

„Oh!“ rief Miß Lindsay errötend aus. „So dankt sie mir für das Vorsagen? Wie darf sie meine Vergehen in das Sündenbuch eintragen?“

„Das geschieht dir recht, weil du ihr vorgesagt hast,“ sagte Miß Carpenter. „Sie war immer eine falsche Katze, und du hättest sie besser kennen sollen.“

„Oh, du kannst mir glauben, ich tat es nicht um ihretwillen,“ entgegnete Miß Lindsay. „Ich wollte nur verhindern, daß das Jackson-Mädchen den ersten Platz bekam. Helen Plantagenet kann ich nicht ausstehen, aber sie ist wenigstens eine Dame.“

„Unsinn, Gertrude,“ sagte Agatha mit etwas Ernst in ihrer Stimme. „Wenn man dich hört, glaubt man, deine Großmutter ist eine Köchin gewesen. Sei doch nicht so albern.“

„Miß Wylie,“ sagte Gertrude heftig errötend, „Sie sind sehr — oh! oh! Halt Ag— oh! Ich werde es Miß W— oh!“ Agatha hatte einen Finger zwischen ihre Rippen gesteckt und kitzelte sie unerträglich.

„Sst,“ flüsterte Miß Carpenter ängstlich. „Die Tür ist offen.“

„Bin ich Miß Wylie?“ fragte Agatha, indem sie unbarmherzig mit ihrer Folterung fortfuhr. „Bin ich wirklich — was du da sagen wolltest? Bin ich —? bin ich —? bin ich?“

„Nein, nein,“ keuchte Gertrude und sank fast in Krämpfen in einen Stuhl. „Du bist sehr böse, Agatha. Du hast mir weh getan.“

„Du verdienst es. Wenn du mir noch einmal zürnst oder mich Miß Wylie nennst, werde ich dich töten. Ich werde dir die Fußsohlen mit einer Feder kitzeln“ — Miß Lindsay schüttelte sich und verbarg ihre Füße unter dem Stuhl — „bis deine Haare weiß werden. Und jetzt, wenn du wirklich solche Reue fühlst, schreibe dich in das Buch ein.“

„Du mußt es zuerst tun. Du warst an allem schuld.“

„Aber ich bin die jüngste,“ sagte Agatha.

„Nun gut,“ sagte Gertrude in dem Bestreben, die Sache zu beschleunigen, aber entschlossen, nicht zuerst zu schreiben, „dann laß Jane Carpenter beginnen. Sie ist die älteste.“

„Oh, natürlich,“ sagte Jane mit kläglicher Ironie. „Laß Jane alle häßlichen Sachen zuerst tun. Ich halte das für sehr unfreundlich. Ihr bildet euch ein, Jane sei euer Narr, aber ihr irrt euch.“

„Du bist sicher nicht so närrisch, wie du aussiehst, Jane,“ sagte Agatha ernst. „Aber wenn ihr wollt, will ich zuerst schreiben.“

„Nein, du sollst nicht,“ schrie Jane und riß ihr die Feder aus den Händen. „Ich bin die älteste, und ich laß mich nicht von meinem Platz verdrängen.“

Sie tauchte entschlossen die Feder in die Tinte und schickte sich an, zu schreiben. Dann hielt sie inne, überlegte und machte ein verwirrtes Gesicht. Schließlich wandte sie sich flehend an Agatha.

„Was soll ich schreiben?“ fragte sie. „Du verstehst dich auszudrücken, ich nicht.“

„Setz zuerst das Datum,“ sagte Agatha.

„Natürlich,“ sagte Jane, indem sie es schnell schrieb. „Ich vergaß das. Und dann?“

„Jetzt schreibe: Es tut mir leid, daß mich Miß Wilson sah, als ich heute abend das Geländer hinunterglitt. Jane Carpenter.“

„Das ist alles?“

„Das ist alles. Oder du kannst auch noch etwas Selbsterfundenes hinzufügen.“

„Hoffentlich ist es nicht unpassend,“ sagte Jane und warf Agatha einen mißtrauischen Blick zu. „Doch es kann nichts Schlimmes dabei sein, denn es ist die einfache Wahrheit. Wenn du mir aber wieder einen Streich spielst, bist du ein häßliches, gemeines Geschöpf, und ich sehe dich nicht mehr an. Jetzt kommst du an die Reihe, Gertrude. Bitte, sieh mal nach, ob ich keinen Fehler gemacht habe.“

„Ich bin nicht dein Orthographielehrer,“ sagte Gertrude, indem sie die Feder in die Hand nahm. Und während Jane etwas über ihre Ungeschliffenheit murmelte, schrieb sie in flotten, großen Buchstaben: „Ich habe die Regeln übertreten, indem ich heute mit Miß Carpenter und Miß Wylie das Geländer herunterglitt. Miß Wylie tat es zuerst.“

„Du Schuft!“ rief Agatha aus, die ihr über die Schultern sah. „Und dein Vater ist ein Admiral!“

„Ich glaube, es ist ganz aufrichtig,“ sagte Miß Lindsay eingeschüchtert, aber doch in dem Ton eines Sittenrichters. „Es ist die reine Wahrheit.“

„All mein Vermögen ist im Handel erworben,“ sagte Agatha, „aber ich würde mich doch vor mir selber schämen, wenn ich meine Schuld auf deine aristokratischen Schultern abwälzte. Du armseliges Ding! Hier, gib mir die Feder.“

„Ich will es ausstreichen, wenn du es wünschst! Aber ich glaube —“

„Nein, es soll da stehen bleiben und gegen dich zeugen. Jetzt paß auf, wie ich meine Sünden bekenne.“ Und sie schrieb in einer feinen, flinken Handschrift: „Heute abend trafen mich Gertrude Lindsay und Jane Carpenter oben auf der Treppe. Sie sagten, sie möchten gerne das Geländer heruntergleiten, und würden es auch tun, wenn ich voranginge. Ich sagte ihnen, es sei gegen die Regeln, aber sie meinten, das machte nichts. Und da sie älter sind als ich, ließ ich mich von ihnen verleiten und glitt hinunter.“ Agatha legte das Buch offen hin. „Nun, was haltet ihr davon?“ fragte sie.

Sie lasen es und erhoben lauten Widerspruch.

„Es ist die reine Wahrheit,“ sagte Agatha feierlich.

„Es ist schmutzig, gemein,“ sagte Jane energisch. „Erst wirfst du Gertrude ihren Fehler vor und dann gehst du hin und handelst selbst zweimal so schlecht! So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.“

„Ja, wer Wind sät, wird Sturm ernten! heißt es in unserm Lesebuch,“ sagte Agatha und fügte ihrer Beichte noch einen weiteren Abschnitt hinzu. „Aber ich war an allem schuld. Ich war auch ungezogen gegen Miß Wilson und weigerte mich, das Zimmer zu verlassen, als sie es mir befahl. Ich war aber nur beim Hinabgleiten mit Vorsatz böse. Ich liebe das Hinabgleiten so sehr, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte.“

„Laß dich warnen, Agatha,“ sagte Jane eindrücklich. „Wenn du unverschämte Bemerkungen in das Buch schreibst, wirst du weggejagt.“

„Allerdings!“ entgegnete Agatha bedeutsam. „Warte nur, bis Miß Wilson sieht, was du geschrieben hast.“

„Gertrude,“ schrie Jane in plötzlicher Besorgnis, „hat sie mich verleitet, etwas Ungehöriges zu schreiben? Agatha, bitte, sag es mir, wenn —“

Eine Glocke ertönte. Die drei Mädchen riefen wie aus einem Munde „Futtern!“ und stürmten aus dem Zimmer.

Der Amateursozialist

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