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Drittes Kapitel.
ОглавлениеEine der Lehrerinnen in Alton College war eine Mrs. Miller, eine altmodische Schulmeisterin, die nicht an Miß Wilsons System, die Mädchen durch moralische Überredung zu erziehen, glaubte und sich nur unter Protest danach richtete. Sie war zwar nicht bösartig, aber doch engherzig genug, um manchmal kleinlich zu handeln, und sie hatte alle Welt im Verdacht, sie gering zu schätzen. Besonders glaubte sie das von Agatha und behandelte sie, wenn sie mit ihr zu tun hatte, was glücklicherweise selten war, mit verächtlicher Höflichkeit. Agatha fühlte sich dadurch nicht verletzt, denn Mrs. Miller war eine unsympathische Frau, die unter den Mädchen wenig Freundinnen hatte und alle ihre Herzensgefühle auf einen großen Kater namens Gracchus übertrug, den man meistens Bacchus nannte, indem man die harten Anfangsbuchstaben milderte.
Eines Nachmittags saß Mrs. Miller mit Miß Wilson im Arbeitszimmer und korrigierte einige Prüfungsarbeiten. Plötzlich hörte sie einen entfernten Schrei, der wie das Klagen einer Katze klang. Sie eilte an die Türe und lauschte. Gleich darauf erhob sich ein langgezogener Klagelaut, der durch zwei Oktaven hinaufging und dann langsam wieder abnahm. Es war wirklich das Schreien einer Katze, obgleich sie nicht bestimmen konnte, woher es kam. Aber jetzt folgte ein Kreischen und Fauchen, ein wütendes Spucken und Raufen, das ohne Zweifel aus einem Zimmer im unteren Stockwerk herausdrang, in welchem die älteren Mädchen zu studieren pflegten.
„Mein armer Gracchus!“ rief Mrs. Miller und lief so schnell die Treppe hinunter, wie sie konnte. Sie fand das Zimmer ungewöhnlich still. Jedes Mädchen war in das Lernen vertieft, nur Miß Carpenter, die so tat, als ob sie ein hingefallenes Buch aufhebe, saß da keuchend vor unterdrücktem Lachen, und alles Blut war ihr durch das Bücken in den Kopf gestiegen.
„Wo ist Miß Ward?“ fragte Mrs. Miller.
„Miß Ward holt einige astronomische Zeichnungen, die wir brauchen,“ sagte Agatha mit ernstem Blick. Grade jetzt kam Miß Ward mit den Zeichnungen in der Hand zurück.
„Ist dieser Kater hier gewesen?“ fragte sie, ohne Mrs. Miller zu bemerken, und in ihrem Ton lag ein starker Widerwillen gegen Gracchus.
Agatha fuhr auf und zog ihre Füße an sich, als fürchtete sie gebissen zu werden. Sie schaute aufmerksam unter das Pult und sagte dann: „Es ist kein Kater hier, Miß Ward.“
„Er muß aber irgendwo stecken, ich habe ihn gehört,“ sagte Miß Ward gleichgültig, indem sie ihre Zeichnungen aufrollte und sie ohne weiteres zu erklären begann.
Mrs. Miller, die um ihren Liebling besorgt war, beeilte sich, ihn anderswo zu suchen. Im Flur traf sie eins von den Hausmädchen.
„Susanna,“ sagte sie, „haben Sie Gracchus gesehen?“
„Er schläft vor dem Kamin in Ihrem Zimmer, Madame.“
„Aber ich hörte ihn doch vorhin hier unten schreien. Es ist sicher eine andere Katze eingedrungen, und sie haben sich gebissen.“
Susanna lächelte mitleidig. „Aber, Madame,“ sagte sie, „das war doch Miß Wylie. Sie spielt nur Theater. Sie macht die Biene an der Fensterscheibe, den Soldat im Kamin, die Katze unter dem Küchentisch. Alles ist so natürlich wie in der Wirklichkeit.“
„Den Soldat im Kamin!“ wiederholte Mrs. Miller entsetzt.
„Ja, Madame. Wie ein Liebhaber, der sich im Kamin verbirgt, weil er die Hausfrau kommen hört.“
Mrs. Millers Gesicht bekam einen entschlossenen Zug. Sie kehrte in das Arbeitszimmer zurück und berichtete, was grade geschehen war. Dabei machte sie einige spöttische Bemerkungen darüber, wie großartig die moralische Überredung die Disziplin in der Anstalt fördere. Miß Wilson machte ein ernstes Gesicht, überlegte eine Zeitlang und sagte schließlich: „Ich muß darüber nachdenken. Wollen Sie für den Augenblick die Sache in meine Hände legen?“
Mrs. Miller antwortete, es sei ihr gleichgültig, in wessen Händen sie bliebe, vorausgesetzt, daß sie selbst damit nicht mehr behelligt würde, und nahm ihre Korrekturarbeit wieder auf. Miß Wilson, die allein sein wollte, ging in das leere Klassenzimmer auf der andern Seite des Flurs. Sie nahm das Sündenbuch von dem Gestell und legte es vor sich hin. Seine Bekenntnisse schlossen mit einem Absatz in Agathas Handschrift.
„Miß Wilson nannte mich unverschämt und schrieb meinem Onkel, ich gehorchte nicht den Vorschriften. Aber ich war nicht unverschämt, und ich habe mich niemals geweigert, den Vorschriften zu gehorchen. Das nennt man moralische Überredung!“
Miß Wilson erhob sich zornig und rief: „Sie soll erfahren, ob —“ Sie stockte plötzlich und sah sich schnell um. Es überkam sie die schreckliche Idee, Agatha könnte sich unbemerkt in das Zimmer eingeschlichen haben. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß sie allein war, prüfte sie ihr Gewissen, ob sie nicht doch Unrecht getan hätte, als sie Agatha unverschämt nannte, und kam zu dem beruhigenden Beschluß, Agatha sei in der Tat unverschämt gewesen. Aber sie erinnerte sich auch, daß sie vor kurzem Jane Carpenter, die eine Mitschülerin eine Lügnerin genannt hatte, es nicht gestattet hatte, sich auf gleiche Weise zu rechtfertigen. War sie nun damals ungerecht gegen Jane gewesen oder jetzt rücksichtslos gegen Agatha?
Ihre Kasuistik wurde durch jemand unterbrochen, der leise eine Stelle aus der Ouvertüre des ‚Masaniello‘ pfiff, die in dem Pensionat beliebt war, weil man sie auf sechs Klavieren zwölfhändig spielen konnte. Nun gab es nur eine Schülerin, die unweiblich und musikalisch genug war, zu pfeifen, und Miß Wilson schämte sich, weil sie bei der Aussicht, mit Agatha zusammenzutreffen, nervös wurde. Agatha kam in trüber Stimmung und noch immer pfeifend herein. Als sie sah, in wessen Gegenwart sie sich befand, bat sie höflich um Verzeihung und wollte sich gerade wieder entfernen, als Miß Wilson, indem sie alle ihre Autorität und Sicherheit zusammennahm und hoffte, sie würde ihre anfängliche Verlegenheit schon überwinden, sagte:
„Agatha, kommen Sie einmal her. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“
Agatha preßte ihre Lippen zusammen, atmete tief durch die Nasenflügel ein und trat bis auf einen Schritt an Miß Wilson heran, wo sie mit gefalteten Händen stehen blieb.
„Setzen Sie sich.“
Agatha setzte sich mit einer einzigen Bewegung hin, wie eine Puppe.
„Ich verstehe das nicht, Agatha,“ sagte sie, indem sie auf die Eintragung im Sündenbuch hinwies. „Was meinen Sie damit?“
„Ich werde ungerecht behandelt,“ sagte Agatha mit Anzeichen beginnender Erregung.
„In welcher Weise?“
„In jeder Weise. Man erwartet von mir, daß ich etwas mehr bin als andere Sterbliche. Jeder darf sich beklagen und schwach und töricht sein. Aber ich soll keine Gefühle haben. Ich muß immer in richtiger Verfassung sein. Alle andern können Heimweh haben, zornig werden oder niedergeschlagen sein. Ich darf keine Nerven haben und muß die andern den ganzen Tag am Lachen halten. Alle dürfen mürrisch werden, wenn man ein Wort des Vorwurfs an sie richtet, so daß die Lehrerinnen Angst haben, sie zu tadeln. Ich muß die Beschimpfung meiner Lehrerinnen ertragen, obgleich sie weniger Selbstbeherrschung haben als ich, ein Mädchen von siebzehn Jahren, und ich muß ihnen schmeicheln, bis ihre schlechte Laune, in die sie sich selbst gebracht haben, verschwunden ist.“
„Aber, Agatha —“
„Oh, ich weiß, ich rede Unsinn, Miß Wilson, aber können Sie von mir erwarten, daß ich immer vernünftig — daß ich unfehlbar bin?“
„Ja, Agatha, ich glaube, es ist nicht zu viel von Ihnen verlangt, immer vernünftig zu sein und —“
„Dann haben Sie selbst weder Vernunft noch Gefühl,“ sagte Agatha.
Es entstand eine peinliche Pause. Sie wußten beide nicht, wie lange sie dauerte. Agatha fühlte, sie müßte etwas Verzweifeltes tun oder sagen, oder sie müßte fliehen. Sie machte eine verstörte Bewegung und rannte aus dem Zimmer.
Sie traf ihre Kolleginnen in dem großen Saal des Hauses, in dem sie sich nach ihren Schulstunden zur ‚Erholung‘ versammelten. Diese Erholung war ein sehr geräuschvoller Vorgang, der stets sofort begann, wenn die Lehrerinnen gegangen waren. Agatha saß gewöhnlich mit ihren zwei besten Freundinnen auf einer hohen Fensterbank nahe am Herd. Diesen Platz hatte jetzt ein kleines Mädchen mit flachsgelbem Haar eingenommen, aber Agatha packte sie, ohne an das Prinzip der moralischen Überredung zu denken, bei den Schultern und setzte sie auf den Boden. Dann nahm sie ihren Platz ein und sagte:
„Kinder, ich weiß etwas ganz Neues!“
Miß Carpenter riß begierig ihre Augen auf. Gertrude Lindsay stellte sich gleichgültig.
„Jemand wird fortgejagt,“ sagte Agatha.
„Fortgejagt! Wer?“
„Du wirst es bald genug erfahren, Jane,“ entgegnete Agatha und wurde plötzlich ernst. „Es ist jemand, der eine unverschämte Eintragung in das Sündenbuch gemacht hat.“
Jane bekam plötzlich Angst, und sie wurde ganz rot. „Agatha,“ sagte sie, „Du hast mir gesagt, was ich schreiben sollte. Du weißt das und kannst es nicht leugnen.“
„Ich kann das nicht leugnen? Ich bin bereit, es zu beschwören, daß ich dir nie in meinem Leben ein Wort diktiert habe.“
„Gertrude weiß, daß du es getan hast,“ sagte Jane erbleichend und fast in Tränen.
„Ach, das Kind,“ sagte Agatha und streichelte sie, als ob sie ein Riesenbaby wäre. „Nein, es wird nicht weggejagt werden. Hat schon jemand in den letzten Tagen das Sündenbuch gesehen?“
„Seit unserer letzten Eintragung nicht mehr,“ sagte Gertrude.
„Knirps,“ sagte Agatha zu dem flachshaarigen Mädchen, „geh hinauf auf Numero 6, und wenn Miß Wilson nicht da ist, dann hol mir das Sündenbuch.“
Das kleine Mädchen knurrte etwas Undeutliches und rührte sich nicht.
„Knirps,“ fuhr Agatha fort, „hast du schon einmal gewünscht, nie geboren zu sein?“
„Warum gehst du nicht selbst?“ fragte das Kind eigensinnig, aber offenbar schon etwas in Angst.
„Denn du wirst den Wunsch haben,“ fuhr Agatha fort, ohne die Frage zu beachten, „daß du tot und begraben unter den schwärzesten Fliesen im Kohlenkeller liegst, wenn du mir das Buch nicht bringst, bevor ich sechzehn zähle. Eins — zwei —“
„Geh sofort und tu, was dir befohlen ist, du abscheuliches kleines Geschöpf,“ sagte Gertrude scharf. „Wie kannst du es wagen, ungehorsam zu sein?“
„— neun — zehn — elf —“ fuhr Agatha fort.
Das Kind bekam Angst. Es ging hinaus und kam gleich darauf wieder, das Sündenbuch mit den Armen umspannend.
„Du bist ein liebes, prächtiges Kind, sobald man deine besseren Eigenschaften durch strenge Anwendung der moralischen Überredung zum Vorschein bringt,“ sagte Agatha lustig. „Erinnere mich daran, daß ich dir morgen abend die Rosinen aus meinem Pudding aufhebe. Und jetzt, Jane, sollst du die Eintragung sehen, wegen derer das gutherzigste Mädchen aus der ganzen Schule weggejagt wird. Voilà!“
Die beiden Mädchen lasen es und waren entsetzt. Jane öffnete ihren Mund und schnappte nach Luft, Gertrude schloß ihre Lippen und sah sehr ernst drein.
„Du willst doch nicht sagen, du hast den schrecklichen Mut gehabt, das der Lady Abbeß zu zeigen?“ fragte Jane.
„Pah, das hätte sie mir schon vergeben. Aber ihr hättet hören sollen, was ich ihr gesagt habe! Sie wurde dreimal ohnmächtig.“
„Das ist ein Märchen,“ sagte Gertrude ernst.
„Was sagtest du?“ fragte Agatha, indem sie schnell nach Gertrudes Knie griff.
„Nichts,“ schrie Gertrude und wand sich krampfhaft. „Tu es nicht, Agatha.“
„Wie oft ist Miß Wilson in Ohnmacht gefallen?“
„Dreimal. Ich schreie, Agatha, ich schreie wirklich.“
„Dreimal, wie du sagtest. Und ich wundere mich, wie ein Mädchen, das, wie ihr, durch moralische Überredung erzogen wurde, solch eine Unwahrheit wiederholen kann. Aber wir hatten wirklich und wahrhaftig einen schrecklichen Streit. Sie verlor ihre Fassung. Glücklicherweise verliere ich die meine nie.“
„Den Teufel glaub ich das!“ rief Jane zweifelnd. „Aber nur weiter.“
„Du willst aus einer alten Familie stammen und bist überaus gewöhnlich. Ich weiß nicht, was ich ihr sagte, aber die Entweihung ihres teuren Buches wird sie mir nicht vergeben. Ich werde so sicher fortgejagt, wie ich hier sitze.“
„Was, du meinst, du gehst wirklich weg?“ fragte Jane und bekam Angst, als sie an die Folgen dieses Fortgehens dachte.
„Natürlich. Aber was aus dir werden soll, wenn ich dir nicht mehr bei deinen Aufgaben helfe, oder aus Gertrude, wenn ich ihr nicht mehr diese eingefleischte Vornehmtuerei austreibe, das weiß ich selber nicht.“
„Ich bin nicht vornehmtuerisch,“ sagte Gertrude, „obgleich ich mich nicht mit jedem gemein mache. Aber gegen dich habe ich nie etwas eingewendet, Agatha.“
„Nein, ich würde es dir auch nicht geraten haben. Hallo, Jane!“ rief sie, als diese plötzlich in Tränen ausbrach. „Was ist denn los? Hoffentlich erlaubst du dir nicht die Freiheit, meinetwegen zu weinen.“
„Ja, Agatha,“ schluchzte Jane unwillig. „Ich weiß, ich mache mich durch mein Mitgefühl lächerlich. Aber du hast kein Herz.“
„Gewiß machst du dich lächerlich, indem du das bei jeder Gelegenheit zeigst,“ sagte Agatha und schlang ihre Arme um Jane, ohne auf deren ärgerliches Sträuben zu achten. „Aber wenn ich wirklich etwas Herz hätte, würde ich jetzt durch diesen Beweis deiner Zuneigung gerührt sein.“
„Nie habe ich gesagt, du hättest kein Herz,“ widersprach Jane. „Ich kann nur nicht leiden, wenn du wie ein Buch sprichst.“
„Du kannst nicht leiden, wenn ich wie ein Buch spreche? Meine liebe, närrische alte Jane! Ich werde dich sehr vermissen.“
„Jawohl, das wirst du,“ sagte Jane mit bitterer Ironie. „Wenigstens wird dich jetzt mein Schnarchen nicht mehr im Schlafe stören.“
„Du schnarchst ja gar nicht, Jane. Wir haben uns nur verschworen, dir das einzureden. Ist es nicht schön von mir, daß ich dir das erzähle?“
Jane war überwältigt von dieser Aufklärung. Nach einer langen Pause sagte sie in tiefer Überzeugung, „das wußte ich schon immer, daß ihr das tatet. Aber die Art, wie ihr es durchführtet! Ich erkläre hiermit feierlich, daß ich von jetzt ab niemand mehr glauben will.“
„Nun, und was denkst du über die ganze Sache?“ fragte Agatha, indem sie ihre Aufmerksamkeit Gertrude zuwandte, die sehr ernst geworden war.
„Ich denke — und ich meine es wirklich so, Agatha — daß du vollständig im Unrecht bist.“
„Bitte, warum denkst du das?“ fragte Agatha etwas erregt.
„Du mußt es sein, sonst wäre Miß Wilson nicht böse über dich! Natürlich, nach deiner eigenen Darstellung bist du immer im Recht, und alle andern haben unrecht. Aber du hättest das nicht in das Buch hineinschreiben sollen. Du weißt, ich spreche als deine Freundin.“
„Bitte, was weiß deine armselige kleine Seele von meinen Gedanken und Gefühlen?“
„So schwer ist das nicht, dich zu verstehen,“ entgegnete Gertrude gereizt. „Eigendünkel ist keine solche seltene Sache, daß man ihn nicht erkennen könnte. Und denke daran, Agatha Wylie,“ fuhr sie, wie von einer unerträglichen Erinnerung angestachelt, fort, „wenn du wirklich fortgehst, dann ist es mir gleich, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht. Ich hab den Tag nicht vergessen, da du mich eine boshafte Katze nanntest.“
„Ich habe es bereut,“ sagte Agatha ruhig. „Ich habe mich einmal hingesetzt und Bacchus beobachtet, der auf dem Feuerplatz saß. Er blickte mit seinen träumerischen Augen so gedankenvoll und geduldig in die Ferne, daß ich ihn um Verzeihung bat, weil ich ihn mit dir verglichen habe. Wenn ich ihn eine boshafte Katze nannte, er würde es mir einfach nicht glauben.“
„Weil er wirklich eine Katze ist,“ sagte Jane mit dem Lächeln, das meist so schnell auf Tränen folgt.
„Nein, aber weil er nicht boshaft ist. Gertrude bewahrt ein Sündenbuch in ihrem eigenen kleinen Kopf, und es ist so voll von andrer Leute Sünde — alle in großen Buchstaben hineingeschrieben und durch ein Vergrößerungsglas zu lesen — daß sie keinen Platz hat, ihre eigenen einzutragen.“
„Du drückst dich sehr poetisch aus,“ sagte Gertrude. „Aber ich verstehe, was du meinst, und ich werde es nicht vergessen.“
„Du undankbarer Wicht,“ schrie Agatha, indem sie sich so plötzlich und heftig gegen sie wandte, daß sie unwillkürlich zur Seite wich. „Wie oft habe ich nicht, wenn du unverschämt und falsch gegen mich sein wolltest, deinen bösen Engel vertrieben, indem ich dich kitzelte? Hattest du, bevor ich hierher kam, eine Freundin in der Anstalt, außer einem halben Dutzend Bauernmädchen? Und jetzt, weil ich dich manchmal zu deinem eigenen Nutzen auf deine Fehler aufmerksam gemacht habe, hegst du Groll gegen mich und sagst, es sei dir gleichgültig, ob wir als Freundinnen scheiden oder nicht!“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Oh, Gertrude, du weißt ganz gut, daß du es gesagt hast,“ bemerkte Jane.
„Du denkst wohl, ich hätte kein Gewissen,“ sagte Gertrude jammernd.
„Ich wollte, du hättest keins,“ sagte Agatha. „Sieh mich an! Ich habe kein Gewissen und weiß, wieviel vergnügter ich dabei bin.“
„Du kümmerst dich nur um dich selbst,“ sagte Gertrude. „Nie glaubst du, daß andere Leute auch Gefühle haben. Auf mich nimmt überhaupt niemand Rücksicht.“
„Oh, so hör ich dich gerne reden,“ rief Jane ironisch. „Auf dich wird überhaupt viel mehr Rücksicht genommen, als dir gut tut. Und je mehr man auf dich Rücksicht nimmt, desto größere Ansprüche stellst du.“
„Der Appetit,“ deklamierte Agatha theatralisch, „kommt mit dem Essen. Das wußte auch schon Shakespeare.“
„Zum Henker mit Shakespeare!“ sagte Jane ungestüm. „Der alte Narr bildet sich etwas darauf ein, daß er abgedroschene Redensarten vorträgt. Aber wenn du dich beklagst, Gertrude, weil auf dich keine Rücksicht genommen wird, was soll ich denn sagen, die von allen zum Narren gehalten wird? Aber ich bin nicht so närrisch wie —“
„Wie du aussiehst,“ warf Agatha dazwischen. „Ich hab es dir unendlich oft gesagt, Jane, und es freut mich, daß du dich endlich zu meiner Meinung bekehrt hast. Was möchtest du lieber sein, ein größerer Narr als du —“
„Oh, halt ein,“ sagte Jane ungeduldig, „du hast mich das diese Woche schon zweimal gefragt.“
Die drei schwiegen hierauf eine kurze Zeit. Agatha überlegte, Gertrude war verdrießlich, Jane gedankenlos und unruhig. Schließlich sagte Agatha:
„Dann leidet ihr zwei wohl auch unter der Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht der andern, die euch mißverstehen, die alles von euch erlangen und nie Entschuldigungen für euch gelten lassen?“
„Ich weiß nicht, was du damit meinst, daß wir zwei darunter auch leiden!“ sagte Gertrude kühl.
„Ich ebenfalls nicht,“ sagte Jane ärgerlich. „Das ist doch grade die Art, wie alle mich behandeln. Du kannst lachen, Agatha, und sie mag ihre Nase rümpfen, wie sie will, du weißt, daß es wahr ist. Gertrudes Idee, uns einzureden, es würde nicht genug Rücksicht auf sie genommen, ist weiter nichts als Gefühlsduselei, Eitelkeit und Blödsinn.“
„Sie sind außerordentlich roh, Miß Carpenter,“ sagte Gertrude.
„Meine Manieren sind so gut wie die Ihrigen und vielleicht besser,“ entgegnete Jane. „Meine Familie ist sicher so gut.“
„Kinder, Kinder,“ sagte Agatha in ermahnendem Tone, „vergeßt nicht, daß Ihr geschworene Freundinnen seid.“
„Wir haben nicht geschworen,“ sagte Jane. „Wir wollten drei geschworene Freundinnen werden, und Gertrude und ich waren auch dabei, aber du wolltest nicht schwören, und so wurde nichts aus der Sache.“
„So ist es,“ sagte Agatha. „Und jetzt verschwende ich all meine Zeit, um zwischen euch Frieden zu halten. Aber, um auf unser Thema zurückzukommen, ist es einer von euch schon einmal in den Sinn gekommen, daß niemand auf mich Rücksicht nimmt?“
„Ich glaube, du hältst das für etwas Spaßhaftes. Du handelst wirklich danach, daß man auf dich Rücksicht nimmt,“ sagte Jane spöttisch.
„Du kannst nicht sagen, ich nähme keine Rücksicht auf dich,“ sagte Gertrude vorwurfsvoll.
„Ja, weil ich dich kitzle.“
„Ich nehme Rücksicht auf dich und bin nicht kitzlich,“ sagte Jane zärtlich.
„Wirklich! Laß mich einmal versuchen,“ sagte Agatha und schlang ihren Arm um Janes umfangreiche Taille, worauf sie ihr eine durchdringende Mischung von Lachen und Schreien entlockte.
„Sst—sch!“ flüsterte Gertrude schnell. „Da ist die Lady Abbeß.“
Miß Wilson war grade in das Zimmer eingetreten. Agatha tat so, als bemerkte sie ihre Anwesenheit nicht. Sie zog verstohlen ihren Arm zurück und sagte laut:
„Wie kannst du nur so ein Geschrei machen, Jane? Du bringst ja das ganze Haus in Aufruhr.“
Jane wurde rot vor Unwillen, aber sie mußte jetzt still sein, denn die Augen der Vorsteherin ruhten auf ihr. Miß Wilson hatte ihren Hut auf. Sie sagte, sie müßte nach Lyvern gehen, zum nächsten Dorfe. Ob einige Damen aus der sechsten Klasse sie begleiten wollten?
Agatha sprang sofort von ihrem Sitz herunter, und Jane unterdrückte ein Lachen.
„Miß Wilson sagte, die sechste Klasse, Miß Wylie,“ bemerkte Miß Ward, die auch hereingetreten war. „Sie sind nicht in der sechsten Klasse.“
„Nein,“ sagte Agatha sanft, „aber ich möchte mitgehen, wenn ich darf.“
Miß Wilson sah sich um. Die sechste Klasse bestand aus vier lernbegierigen jungen Damen, deren Lebensziel für den Augenblick eine Aufnahmeprüfung an einer Universität, oder wie man auf der Schule sagte, das Cambridgezeugnis war. Keine von ihnen antwortete.
„Dann die fünfte Klasse,“ sagte Miß Wilson.
Jane, Gertrude und vier andere erhoben sich und stellten sich neben Agatha.
„Gut,“ sagte Miß Wilson. „Machen Sie nicht so lange mit dem Anziehen.“
Sie eilten schnell hinaus und stürmten mit Geräusch die Treppen hinauf. Agatha, die für das Cambridgezeugnis gar kein Interesse hatte, strebte voll Ehrgeiz danach, stets am schnellsten die Treppen hinauf- oder hinunterzueilen.
Sie kamen bald zum Spaziergang gekleidet zurück und verließen zwei und zwei in einer Prozession das Institut. Jane und Agatha gingen voran, Gertrude und Miß Wilson kamen zuletzt. Die Landstraße nach Lyvern führte über Weideland, das früher urbar gewesen war, aber jetzt dem Vieh überlassen wurde, weil dieses dem Eigentümer mehr Geld einbrachte als die Pächter, denen er es weggenommen hatte. Miß Wilsons junge Damen hatten auch Unterricht in der Volkswirtschaft. Sie wußten, daß jeder Gegenstand zu dem Zweck benutzt wurde, der am notwendigsten war, und wenn hier der ganze Ertrag nur dem Eigentümer zufiel, so war das ganz natürlich, weil er der vornehmste Gentleman in der Gegend war. Zwar hatte dieser Zustand auch seine unangenehme Seite. Es gab da eine Menge Rinder, so daß sie Angst hatten, die Felder zu überschreiten, es gab eine Menge Vagabonden, so daß sie sich fürchteten, über die Landstraße zu gehen, und es waren viel zu wenig Gentlemen da, die Verständnis für den Zauber weiblicher Reize hatten.