Читать книгу Der Amateursozialist - Bernard Shaw - Страница 4
Zweites Kapitel.
ОглавлениеAn einem sonnigen Nachmittag trieb ein Hansom mit großer Schnelligkeit die Belsize Avenue, St. Johns Wood, hinunter und hielt vor einem großen, vornehmen Hause. Eine junge Dame sprang heraus, rannte die Stufen hinauf und klingelte ungeduldig. Sie hatte einen bräunlichen Teint und scharfgeschnittene Gesichtszüge, dunkle Augen mit langen Wimpern, einen feinen Kopf, kleine Füße, Hände mit langen, spitzen Fingern und einen geschmeidigen und sehr schlanken Körper, der sich mit schlangenartiger Anmut bewegte. Ein orientalischer Geschmack schien die Farben ihrer Kleidung zusammengestellt zu haben. Sie trug ein weißes, eng anschließendes Kleid, das mit kunstvollen chinablauen Mustern bedruckt war, ferner einen gelben Strohhut, der mit künstlichem Weißdorn und roten Beeren bedeckt war. Die lohgelben Handschuhe reichten bis an die Ellbogen und waren mit einer Überfülle von goldenen Armbändern behangen.
Da die Türe nicht sofort geöffnet wurde, klingelte sie in heftiger Weise noch einmal und wurde gleich darauf von einem Mädchen hereingelassen, das erstaunt schien, sie zu sehen. Ohne sich mit einer Frage aufzuhalten, stürzte sie die Treppen hinauf in das Gesellschaftszimmer, wo eine gesundaussehende Matrone, deren Züge den feinsten jüdischen Typus zeigten, beim Lesen saß. Ein hübscher Knabe in schwarzem Samtanzug war noch im Zimmer.
„Mama,“ rief er, „da ist Henrietta!“
„Arthur,“ sagte die junge Dame erregt, „geh sofort hinaus. Und du brauchst nicht wiederzukommen, bis du Erlaubnis bekommst.“
Die gute Laune des Knaben verschwand, und er ging mürrisch hinaus, ohne ein Wort zu sprechen.
„Ist etwas passiert?“ fragte die Matrone und legte das Buch hin mit der sorglosen Gleichgültigkeit eines erfahrenen Menschen, der einen Sturm in einem Wasserglase voraussieht. „Wo ist Sidney?“
„Fort ist er — fort! Er hat mich verlassen! Ich —“ Der jungen Dame versagten plötzlich die Worte, und sie ließ sich mit leidenschaftlichem Schluchzen auf eine Ottomane hinsinken.
„Unsinn! Ich glaubte, Sidney hätte mehr Vernunft. Henrietta, sei nicht so töricht. Ihr habt euch natürlich gezankt.“
„Nein! Nein!! Nein!!!“ schrie Henrietta und stampfte auf den Teppich. „Nicht ein Wort haben wir uns gesagt. Seit meiner Verheiratung habe ich nicht ein einziges Mal meine gute Laune verloren — ich schwör es dir feierlich. Ich werde Selbstmord begehen, es gibt keinen andern Weg. Auf mir liegt ein Fluch. Ich bin bestimmt, unglücklich zu sein. Er —“
„Schweig still! Was ist denn geschehen, Henrietta? Du bist doch jetzt schon sechs Wochen verheiratet und darfst dich nicht wundern, wenn einmal ein kleiner Zwist ausbricht. Du bist so leicht erregbar! Du kannst aber nicht erwarten, daß der Himmel immer wolkenlos ist. Wahrscheinlich trägst du die Schuld, denn Sidney ist viel vernünftiger als du. Hör mit Weinen auf und benimm dich wie eine verständige Frau. Ich werde selbst zu Sidney hingehen und alles wieder in Ordnung bringen.“
„Aber er ist fortgegangen, und ich weiß gar nicht, wohin. Oh, was soll ich tun?“
„Was ist denn geschehen?“
Henrietta machte eine ungeduldige Bewegung. Dann zwang sie sich dazu, ihre Geschichte zu erzählen, und sagte: „Wir verabredeten am Montag, ich sollte auf zwei Tage zu Tante Judith auf Besuch gehen, anstatt ihn nach Birmingham auf diesen schrecklichen Gewerkschaftskongreß zu begleiten. Wir schieden im besten Einvernehmen voneinander. Er konnte nicht herzlicher sein. Aber ich gehe in den Tod, mir ist jetzt alles gleich. Und als ich Mittwoch zurückkam, da war er fort, und dieser Brief —“ Sie zog einen Brief aus der Tasche und weinte noch bitterlicher als vorher.
„Laß mich ihn lesen.“
Henrietta zauderte, aber ihre Mutter nahm ihr den Brief ab, setzte sich nahe ans Fenster und begann ihn zu lesen, ohne den heftigen Schmerz ihrer Tochter im geringsten zu beachten. Der Brief lautete folgendermaßen:
Montag abend.
Meine einzig Geliebte,
ich bin fortgegangen, übersättigt von Liebe, und will mein eigenes Leben leben und meine eigene Arbeit tun. Ich hätte Dich auf diese Absicht nur durch Kälte oder Vernachlässigung vorbereiten können. Aber das war mir unmöglich, solange der Zauber Deiner Anwesenheit auf mich wirkte. Darum mußte ich fliehen, um mich selbst zu retten.
Ich fürchte, ich kann Dir für meinen Schritt keine genügenden und verständlichen Gründe angeben. Du bist ein schönes und kostbares Geschöpf, das Leben gibt Dir nur dann volle Befriedigung, wenn es ein Karneval der Liebe ist. Mein Fall liegt grade umgekehrt. Bevor mir drei zärtliche Worte entschlüpft sind, mache ich mir schon Vorwürfe wegen meiner Torheit und Unaufrichtigkeit. Bevor eine Liebkosung erkalten kann, regt sich schon in mir in stärkster Weise das entgegengesetzte Gefühl. Ich muß wieder zu meinem alten, einsam strengen Einsiedlerleben zurückkehren, zu meinen trocknen Büchern, meiner Agitation für den Sozialismus, meinen Entdeckungsreisen durch die Wildnis des Gedankens. Ich heiratete Dich in dem unsinnigen Glauben, ich hätte auch jene natürliche Zuneigung, die andere Männer eine lebenslange Ehe ertragen läßt. Aber ich habe meinen Irrtum eingesehen. Du bist für mich die lieblichste Frau von der Welt. Nun habe ich fünf Wochen lang mit der lieblichsten Frau von der Welt zusammengelebt, ich habe mit ihr geplaudert und gescherzt, und das Ende ist, daß ich von ihr fliehe und in eine Einsiedelei gehe, bis ich sterbe. Die Liebe kann mich nicht beherrschen. Alles, was stark ist in mir, lehnt sich gegen sie auf und schüttelt sie ab. Vergib mir, daß ich Dir Unsinn schreibe, den Du nicht verstehst, und urteile nicht zu hart über mich. Ich war gegen Dich so gut, wie ich es mit meinem selbstsüchtigen Wesen sein konnte. Suche mich nicht aus meiner Verborgenheit aufzustören, in der ich bleiben will und bleiben muß. Mein Anwalt wird Deinem Vater schreiben und alle geschäftlichen Angelegenheiten in Ordnung bringen. Du sollst so glücklich sein, wie Wohlstand und Freiheit Dich machen können. Wir werden uns wiedersehen — später einmal.
Leb wohl, meine letzte Liebe.
Sidney Trefusis.
„Nun?“ fragte Mrs. Trefusis, die durch ihre Trauen bemerkte, daß ihre Mutter den Brief gelesen hatte und voll Verwirrung nachdachte.
„Wahrhaftig!“ sagte Mrs. Jansenius mit erregter Stimme. „Glaubst du, daß er ganz richtig im Kopf ist, Henrietta? Oder hast du zuviel Aufmerksamkeit von ihm verlangt. Die Männer widmen nicht gerne ihr ganzes Wesen ihren Frauen, selbst in den Flitterwochen nicht.“
„Er sagte, er sei nur in meiner Nähe glücklich,“ schluchzte Henrietta. „Noch nie hat es so etwas Grausames gegeben. Ich habe oft selbst nach einer Veränderung verlangt, aber ich fürchtete, seine Gefühle zu verletzen, wenn ich es sagte. Und jetzt hat er gar keine Gefühle. Aber er muß zu mir zurückkommen. Nicht wahr, Mama?“
„Natürlich müßte er. Hoffentlich ist er nicht mit einer andern davongelaufen?“
Henrietta sprang auf, und ihre Wangen wurden rot. „Wenn ich das dächte, ich würde ihn bis an das Ende der Welt verfolgen und sie ermorden. Aber nein, er ist nicht wie die andern. Er haßt mich. Alle hassen sie mich. Du machst dir auch nichts daraus, ob ich verlassen bin oder nicht, und Papa nicht und niemand hier im Hause.“
Mrs. Jansenius blieb noch immer gleichgültig bei der Aufregung ihrer Tochter. Sie überlegte einen Augenblick und sagte dann friedlich:
„Du kannst nichts tun, bis wir Nachricht von dem Anwalt bekommen. Inzwischen kannst du hier bei uns wohnen, wenn du es willst. Ich habe nicht erwartet, daß du mich sobald besuchen würdest, aber dein Zimmer ist, seit du fortgegangen, noch nicht benutzt worden.“
Mrs. Trefusis hörte auf zu weinen. Diese erste Andeutung, daß ihres Vaters Haus nicht mehr das ihrige sei, kühlte sie ab. Ein wirkliches Gefühl von Verlassenheit kam über sie. Unter seinem kalten Einfluß gewann sie ihre Fassung wieder, und ihr Stolz legte sich wie eine Schranke zwischen sie und ihre Mutter.
„Ich will nicht lange hierbleiben,“ sagte sie. „Wenn sein Anwalt mir nicht sagen will, wo er ist, werde ich ganz England nach ihm durchstöbern. Es tut mir leid, daß ich euch hier Störung mache.“
„Oh, du wirst uns keine größere Störung machen, als du es immer getan hast,“ sagte Mrs. Jansenius ruhig und war befriedigt, weil ihre Tochter den Wink verstanden hatte. „Du gehst jetzt am besten hinauf und wäschst dein Gesicht. Es kann Besuch kommen, und du willst doch die Leute nicht in dem Zustand empfangen. Wenn du Arthur auf der Treppe siehst, sag ihm, bitte, er solle hereinkommen.“
Henrietta verzog boshaft ihre Lippen und verließ das Zimmer. Dann kam Arthur herein und stellte sich in mürrischem Schweigen an das Fenster, indem er darüber brütete, warum er wohl vorhin aus dem Zimmer verjagt war. Plötzlich rief er: „Da kommt Papa, und es ist noch nicht fünf Uhr!“, worauf ihn seine Mutter zum zweiten Male hinausschickte.
Mr. Jansenius war ein Mann von würdigem Aussehen. Er war noch keine fünfzig Jahre alt, aber auch nicht weit davon ab. Er bewegte sich mit abgemessener Ruhe und machte ein Gesicht, als ob hinter seinen wulstigen Brauen kostbare Gedanken verborgen lägen. Seine schöne Adlernase und die scharfen, dunklen Augen verrieten seine jüdische Abstammung, deren er sich übrigens schämte. Die Leute, die das nicht wußten, glaubten natürlich, er sei stolz darauf, und begriffen nicht, warum er seine Kinder als Christen erziehen ließ. Er war wohlerfahren in Geschäftsangelegenheiten und hatte außer seiner Liebe zur Familie, seinem Streben nach Ansehen, Behaglichkeit und Wohlhabenheit keine Leidenschaften. So hatte er nicht nur das ererbte väterliche Vermögen bewahrt, sondern es auch beträchtlich vergrößert. Er war Bankier und stand auf dem Standpunkt, die unendlichen Ersparnisse, die das Banksystem mit sich führt, soviel wie möglich aufzufangen und in seine Tasche zu stecken und im übrigen die Welt grade so hart arbeiten zu lassen, wie sie es tat, bevor das Banksystem eingeführt war. Da aber die Welt unter solcher Bedingung überhaupt nicht zur Bank gegangen wäre, so gab er ihr, um sie anzulocken, ein wenig von diesen Ersparnissen ab. So hatten die Leute ihren kleinen Vorteil und er seine Genugtuung, daß er zugleich ein wohlhabender Staatsbürger und ein öffentlicher Wohltäter war, schwer an Geld und leicht im Gewissen.
Er trat schnell in das Zimmer, und seine Frau sah, daß ihn etwas erregt hatte.
„Weißt du, was geschehen ist, Ruth?“ fragte er.
„Ja, sie ist oben.“
Mr. Jansenius starrte sie an. „Was, sie ist schon fortgegangen?“ fragte er. „Welche Veranlassung hat sie, hierher zu kommen?“
„Das ist doch ganz natürlich. Wo sollte sie sonst hingehen?“
Mr. Jansenius, der nie seiner eigenen Ansicht traute, wenn sie von der seiner Frau abwich, entgegnete langsam: „Warum ging sie nicht zu ihrer Mutter?“
Mrs. Jansenius war diesmal daran, erstaunt zu werden. Sie sah ihn mit kühler Verwunderung an und bemerkte: „Ich bin doch ihre Mutter, oder nicht?“
„Ich wußte das nicht. Ich bin erstaunt, es zu hören, Ruth. Hast du auch einen Brief bekommen?“
„Ich habe den Brief gelesen. Aber was wolltest du damit sagen, du wüßtest nicht, daß ich Henriettas Mutter sei? Du willst wohl Witze machen?“
„Henrietta! Ist sie hier? Ist das noch ein Ärger?“
„Ich weiß es nicht. Wovon sprichst du eigentlich?“
„Ich spreche von Agatha Wylie.“
„Oh, und ich sprach von Henrietta.“
„Was ist denn mit Henrietta los?“
„Was ist mit Agatha Wylie los?“
Jetzt geriet Mr. Jansenius in Zorn, und sie hielt es für das beste, ihm Henriettas Bericht mitzuteilen. Als sie ihm Trefusis Brief gab, sagte er etwas ruhiger: „Ein Unglück kommt nie allein. Lies das,“ und gab ihr einen andern Brief, so daß sie beide zu gleicher Zeit zu lesen begannen.
Mrs. Jansenius las folgendes:
An Mrs. Wylie,
Acacia Lodge, Chiswick.
Alton College, Lyvern.
Sehr geehrte, gnädige Frau,
zu meinem großen Bedauern muß ich Sie bitten, sofort Miß Wylie von Alton College zurückzuholen. In einem Institut wie dem meinigen, in dem die Schülerinnen so wenig wie möglich in ihrer Freiheit beschränkt sind, ist es notwendig, daß alle sich ohne Klagen und Widerstreben den wenigen unentbehrlichen Vorschriften fügen. Miß Wylie hat sich diesen Bedingungen nicht unterworfen. Sie erklärt, daß sie fortgehen will, und maßt sich ein Benehmen gegen mich und meine Kolleginnen an, das wir in Rücksicht auf uns selbst und auf ihre Mitschülerinnen nicht so hinnehmen können. Sollte Miß Wylie irgendeinen Grund haben, sich über ihre Behandlung oder über den Schritt, zu dem sie uns gezwungen hat, zu beklagen, so wird sie Ihnen das sicher mitteilen.
Vielleicht sind Sie so freundlich und setzen sich mit Miß Wylies Vormund, Mr. Jansenius, ins Einvernehmen. Ich werde dann mit ihm ein Abkommen treffen, da Sie ja das Schulgeld für das laufende Jahr schon bezahlt haben.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Maria Wilson.
„Das ist ja eine hübsche, junge Dame!“ sagte Mrs. Jansenius.
„Das verstehe ich nicht,“ sagte Mr. Jansenius, der einen roten Kopf bekommen hatte, als er den Brief seines Schwiegersohnes las. „Ich kann das nicht fassen. Was bedeutet das, Ruth?“
„Ich weiß es auch nicht. Sidney ist wahrscheinlich verrückt, die Flitterwochen haben die Krankheit zum Ausbruch gebracht. Aber du darfst nicht dulden, daß er mir Henrietta wieder auf den Hals lädt.“
„Verrückt! Glaubt er vielleicht, er könnte sich seinen Pflichten gegen seine Frau entziehen, weil sie meine Tochter ist? Glaubt er, weil sein Großvater von mütterlicher Seite ein Baron war, er könnte Henrietta an die Seite werfen, sobald er ihrer Gesellschaft überdrüssig geworden ist?“
„Oh, das ist es nicht. An uns hat er gar nicht gedacht.“
„Aber ich werde dafür sorgen, daß er an uns denkt,“ schrie Mr. Jansenius mit lauter, aufgeregter Stimme. „Er soll mir Genugtuung geben.“
Grade jetzt trat Henrietta wieder ins Zimmer und sah ihren Vater wütend auf und ab gehen und mehrmals wiederholen: „Er soll mir Genugtuung dafür geben.“
Mrs. Jansenius winkte ihrer Tochter, daß sie ruhig bleiben sollte, und sagte begütigend: „Rege dich nicht auf, John.“
„Aber ich will mich aufregen. Verdammter Hund! Verfluchter Schurke!“
„Das ist er nicht!“ schluchzte Henrietta, indem sie sich hinsetzte und nach ihrem Taschentuch griff.
„Laß das nun endlich sein!“ sagte Mrs. Jansenius scharf. „Du hast genug geweint, ich will nichts mehr davon hören.“
Henrietta sprang leidenschaftlich auf. „Ich sage und tue, was ich will,“ schrie sie. „Ich bin eine verheiratete Frau und lasse mir nichts befehlen. Und ich will meinen Mann wieder haben, und wenn er sich wer weiß wo versteckt. Papa, kannst du ihn nicht veranlassen, zurückzukehren? Ich sterbe sonst. Versprich mir, daß du ihn zurückbringst.“
Dann warf sie sich ihrem Vater an die Brust und verhinderte jede weitere Auseinandersetzung, indem sie in einen Weinkrampf verfiel und das Haus durch ihr Geschrei in Aufruhr brachte.