Читать книгу Der Amateursozialist - Bernard Shaw - Страница 6

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Der Himmel war bewölkt. Agatha, die nichts auf schmutzige Schuhe gab, watete durch die Haufen gefallener Blätter mit dem Entzücken eines Kindes, das im Wasser herumpatscht. Gertrude setzte ihre Füße sorgfältig hin, und die andern gingen leise plaudernd des Weges, höchstens, daß sie hier und da einmal in lauterem Tone eine wissenschaftliche oder philosophische Bemerkung machten, damit Miß Wilson sie hörte und auch eine Freude hatte. Außer einem Viehtreiber, der etwas von dem Wesen und Ausdruck der Rinder, die er leitete, angenommen zu haben schien, trafen sie keinen Menschen, bis sie sich dem Dorfe näherten. Hier aber tauchten hinter einer Anhöhe zwei Personen männlichen Geschlechts in der Gestalt zweier Geistlichen auf. Einer war groß und mager, hatte ein glatt rasiertes Gesicht, ein Buch unter dem Arm und einen lang herausgereckten Hals. Der andere war von mittlerer Größe, kräftigem Körper und grader Haltung. Er sah unternehmungslustig aus mit seinem schwarzen Backenbart, und auf seinem Gesicht lag ein energischer Protest gegen alle solche Ansichten, als ob ein Geistlicher nicht heiraten, jagen, Kricketspielen oder sonst an einem anständigen, weltlichen Sport teilnehmen dürfte. Der Geschorene war Mr. Josephs und sein Begleiter Mr. Fairholme. Agatha hatte eine böse biblische Veränderung dieser beiden Namen erfunden.

„Da kommen Pharao und Joseph,“ sagte sie zu Jane. „Joseph wird erröten, wenn du ihn ansiehst. Pharao errötet erst, wenn er an Gertrude vorbeikommt, obgleich wir das heute nicht sehen können.“

„Wahrhaftig, Josephs!“ sagte Jane verächtlich.

„Er liebt dich, Jane. Magere Männer wollen dicke Frauen haben. Pharao, der ein Bauer ist, liebt blaues Blut, weil Gegensätze sich anziehen. Deshalb fesselt ihn Gertrudes aristokratische Miene.“

„Wenn er nur wüßte, wie sehr sie ihn verachtet!“

„Er ist zu eitel, um das zu vermuten. Übrigens verachtet Gertrude jeden Menschen, auch uns beide. Oder vielmehr, sie verachtet niemand im besondern, sie ist nur hochmütig von Natur wie du dick bist.“

„Pah! Ich will lieber dick als eingebildet sein. Sollen wir uns verneigen?“

„Ich tu es sicher. Ich will doch Pharao erröten machen.“

Die zwei Geistlichen taten so, als betrachteten sie mit Interesse den wolkigen Himmel, und blickten erst auf die Mädchen, als sie dicht bei ihnen waren. Jane warf Josephs mit solcher Verschlagenheit einen Blick zu, daß an ihrer Lieblingsversicherung, sie sei nicht so dumm, wie die Leute meinten, doch etwas Wahres sein mußte. Er errötete und zog seinen niedrigen, weichen Filzhut. Fairholme grüßte sehr feierlich, denn Agatha verneigte sich vor ihm in ausgeprägter Würde. Aber als seine Ernsthaftigkeit und sein vornehmer Zylinderhut sich in ihrem höchsten Glanze zeigten, warf sie ihm schnell ein spöttisches Lächeln zu, und auch er errötete, und zwar um so tiefer, weil er über sein Erröten wütend wurde.

„Hast du schon einmal zwei solche Narren gesehen?“ flüsterte Jane kichernd.

„Sie sind einmal Männer. Sie sagen immer, Frauen seien Narren, und sie haben recht. Aber so schlimm wie die Männer sind wir Gott sei Dank doch noch nicht! Ich möchte mich nach Pharao umsehen, wie er an Gertrude vorbeigeht. Aber, wenn er das bemerkt, denkt er, ich bewundere ihn. Er ist so schon eingebildet genug.“

Die beiden Geistlichen erröteten immer mehr, als sie an der Prozession junger Mädchen vorbeischritten. Miß Lindsay blickte nach der andern Seite der Straße, und Miß Wilsons Nicken und Lächeln waren nicht ganz aufrichtig. Sie sprach nie mit den Geistlichen und unterhielt auch mit dem Vikar nicht mehr Verkehr, als unbedingt notwendig war. Er hatte sie im Verdacht, eine Ungläubige zu sein, obgleich weder er, noch sonst ein Sterblicher in Lyvern je ein Wort über ihre religiösen Ansichten von ihr gehört hatte. Aber er wußte, daß eine weltliche ‚Moralwissenschaft‘ in der Anstalt gelehrt wurde, und hatte das Gefühl, wenn erst die Moral zu einer Sache der Wissenschaft gemacht würde, daß dann das Interesse für Religion entsprechend sinken werde.

„Welch ein Leben ist das, und welch eine Gegend!“ rief Agatha aus. „Wir treffen zwei Kreaturen, die mehr wandelnden schwarzen Kostümen als Menschen gleichen, und das ist ein Ereignis — ein aufregendes Ereignis in unserm Leben!“

„Ich denke, sie sind schrecklich komisch,“ sagte Jane, „schon, daß Josephs solche großen Ohren hat.“

Sie kamen jetzt an eine Stelle, wo der Weg durch eine Anpflanzung von dunklen Maulbeerbäumen und Roßkastanien ging. Als sie hineinschritten, erhob sich ein Wind, die welken Blätter wurden vom Boden aufgewirbelt, und durch die Zweige strich eine lange, rauschende Bewegung.

„Diesen Teil vom Wege hasse ich,“ sagte Jane und eilte weiter. „Grade an solchen Stellen werden Leute ausgeplündert und ermordet.“

„Es ist gar kein schlechter Platz, um uns vor dem Regen zu schützen, denn der kommt sicher, bevor wir zurück sind,“ sagte Agatha, die bei den Windstößen, die ihr ins Gesicht jagten, Angst bekam. „Ich werde schön eingeweicht werden, besonders mit diesen leichten Schuhen. Ich wollte, ich hätte meine schweren Stiefel angezogen. Wenn es arg regnet, lauf ich in die alte Hütte.“

„Miß Wilson wird es nicht gestatten, es ist verboten.“

„Was schadet das? Es wohnt doch niemand darin, und das Tor ist aus den Angeln. Ich will mich nur unter die Veranda stellen — in das elende Haus dringe ich gar nicht ein. Übrigens kennt der Eigentümer Miß Wilson, und er macht sich nichts daraus. Da fällt ein Tropfen.“

Miß Carpenter blickte auf und bekam sofort einen schweren Regentropfen in ihr Auge.

„Oh!“ schrie sie. „Es gießt! Wir werden durch und durch naß.“

Agatha blieb stehen, und der Zug sammelte sich um sie in einer Gruppe.

„Miß Wilson,“ sagte sie, „es wird in Strömen regnen, und Jane und ich haben nur unsere Schuhe an.“

Miß Wilson schwieg, um die Lage zu überlegen. Ein Mädchen meinte, wenn sie liefen, könnten sie noch Lyvern erreichen, bevor der Regen einsetzte.

„Über zwanzig Minuten,“ sagte Agatha verächtlich, „und es regnet doch schon!“

Ein anderes Mädchen riet, nach Hause zurückzukehren.

„Das sind dreiviertel Stunden,“ sagte Agatha. „Wir würden inzwischen ertränkt werden.“

„Es bleibt uns nichts übrig, als hier unter den Bäumen zu warten,“ sagte Miß Wilson.

„Die Zweige sind ganz kahl,“ sagte Gertrude ängstlich. „Wenn es richtig regnet, tropfen sie schlimmer als der Regen selbst.“

„Viel schlimmer,“ sagte Agatha. „Ich denke, wir gehen am besten unter die Veranda vor dem alten Landhaus. Es ist nur eine halbe Minute von hier.“

„Aber wir haben kein Recht —“ Jetzt wurde der Himmel bedrohlich dunkel. Miß Wilson unterbrach sich selbst: „Ich denke, es wird noch unbewohnt sein.“

„Natürlich,“ antwortete Agatha voller Ungeduld, fort zu kommen. „Es ist ja eine halbe Ruine.“

„Dann laßt uns in Gottes Namen hingehen,“ sagte Miß Wilson, die nicht auf die Gefahr hin, naß zu werden, an ihren Bedenken festhalten wollte.

Sie eilten weiter und kamen gleich darauf an eine grüne Anhöhe neben dem Wege. Auf ihrer Höhe stand ein zerfallenes Schweizerhaus, umgeben von einer Veranda, die auf schlanken Holzsäulen ruhte. Ein paar Ranken von verwelkten Schlinggewächsen hingen daran, und die äußersten Spitzen, die noch bebten von den Stößen des Windes, wurden jetzt still, als lauschten sie auf das Kommen des Regens. Ein Tor von rohem Holz, das sich in der Hecke befand, führte von der Landstraße in das Haus. Zu ihrem Erstaunen fand Agatha, daß das Tor nicht mehr aus den Angeln war, wie das letztemal, als es nur noch durch eine rostige Kette und ein Schloß an dem Pfosten befestigt war; man hatte es jetzt wieder eingehängt und mit neuen Haken befestigt. Aber das Wetter erlaubte keine langen Betrachtungen über diese Ausbesserungen. Sie öffnete das Tor und eilte den Hügel hinauf, gefolgt von dem Trupp der andern Mädchen. Ihr Hinaufsteigen endete in einem Rennen, denn der Regen kam plötzlich in Strömen herunter.

Als sie sicher unter der Veranda waren, die einen keuchend und murrend, die andern lachend und froh, weil sie einen solchen Zufluchtsort gefunden hatten, bemerkte Miß Wilson etwas beunruhigt einen Spaten, der neu war wie die Haken am Tor und aufrecht in einem Stück frisch umgegrabener Erde steckte. Sie wollte grade etwas über dieses Anzeichen, daß hier Leute wohnten, sagen, als die Türe der Hütte aufgestoßen wurde und Jane einen lauten Schrei ausstieß. Ein Mann trat heraus und ging auf den Spaten los, den er offenbar nicht im Regen stehen lassen wollte. Dann bemerkte er die Gesellschaft unter der Veranda und stand vor Erstaunen still. Er war ein junger Arbeiter mit rötlichbraunem Bart, der kaum eine Woche gewachsen war. Er trug Manchesterhosen und eine Manchesterweste mit Leinenärmel, alles neu wie der Spaten und die Haken. Ein grobes, blaues Hemd mit einem gewöhnlichen, rot und orangefarbenen Halstuch, die ebenfalls neu waren, vervollständigten seine Kleidung. Und um sich vor dem Regen zu schützen, hatte er einen seidenen Schirm mit silberbeschlagenem Ebenholzgriff aufgespannt, zu dem er kaum auf ehrliche Weise gekommen sein konnte. Miß Wilson war es wie einem Knaben zumute, den man im Obstgarten erwischt hat, aber sie nahm trotzdem eine kühne Miene an und sagte:

„Gestatten Sie uns, daß wir hier untertreten, bis der Regen vorbei ist?“

„Selbstverständlich, Eure Gnaden,“ antwortete er, indem er respektvoll mit dem Handgriff seines Spatens sein Haar zurückstrich, das bis zu den Augenbrauen heruntergekämmt war. „Eure Gnaden machen mich stolz, daß Sie vor der Unbarmherzigkeit der Stürme in meiner armseligen Hütte Zuflucht nehmen.“ Seine Worte waren seltsam, seine Aussprache war barbarisch, und wie ein schlechter Schauspieler schien er grade daran Gefallen zu finden. Während er sprach, trat er ebenfalls unter die Veranda und lehnte den Spaten gegen die Wand, indem er den Lehm von seinen schweren, genagelten Schuhen trat, die ebenfalls neu waren.

„Ich kam heraus, geehrte Dame,“ fuhr er sehr mit sich selbst zufrieden fort, „um meinen Spaten zu holen, durch den ich mir ja meinen Unterhalt gewinne. Was die Feder für den Dichter, das ist der Spaten für den Arbeiter.“ Er nahm das Halstuch von seinem Nacken, wischte sich die Schläfen, als ob der Schweiß ehrlicher Arbeit daran klebte, und legte es sich ruhig wieder um.

„Entschuldigen Sie eine Bemerkung von einem gewöhnlichen Mann,“ sagte er, „Eure Gnaden haben da eine nette Familie von Töchtern.“

„Es sind nicht meine Töchter,“ sagte Miß Wilson sehr kurz.

„Vielleicht Schwestern?“

„Nein.“

„Ich dachte — vielleicht — weil ich selbst ne Schwester hab. Nicht als ob ich auch in Gedanken sie damit vergleiche — sie ist nur ein gewöhnliches Weib — so gewöhnlich, wie Sie nie keine gesehen haben. Aber die Weiber erheben sich selten über das Gewöhnliche. Letzten Sonntag, da unten in der Dorfkirche, hörte ich den Pfarrer sagen, daß er einen Mann unter Tausend gefunden hat. ‚Doch ein Weib unter all diesen‘, sagte er, ‚habe ich nicht gefunden,‘ und ich denke so bei mir: ‚Recht hast du!‘ Aber der Henker holt mich, wenn er je Eure Gnaden gesehen hat.“

Ein Lachen, das ganz fein wie ein Husten herauskam, entschlüpfte Miß Carpenter.

„Die junge Lady hat sich erkältet,“ sagte er mit respektvoller Besorgtheit.

„Glauben Sie, daß der Regen noch lange andauert?“ fragte Agatha in höflichem Tone.

Der Mann betrachtete einige Augenblicke mit wetterkundigem Blick den Himmel. Dann wandte er sich zu Agatha und antwortete demütig: „Nur der Herr weiß es, Miß. Einem gewöhnlichen Mann, wie mir, ist es nicht gegeben, das zu sagen.“

Ein Schweigen folgte jetzt, und Agatha, die verstohlen den Bewohner der Hütte beobachtete, bemerkte, daß sein Gesicht und sein Hals sauberer und weniger sonnenverbrannt waren, als man es sonst bei den gewöhnlichen Arbeitern von Lyvern fand. Seine Hände steckten in weiten Gartenhandschuhen, die mit Kohlenflecken beschmutzt waren. Gewöhnlich machten sich Lyverner Arbeiter wenig daraus, ihre Hände zu beschmutzen; sie trugen nie Handschuhe. Doch sie dachte, warum sollte nicht ein überspannter Arbeiter, der unerträglich geschwätzig war und eine Anspielung auf die Feder des Dichters machen konnte, sich mit billigen Handschuhen vergnügen. Aber dann der seidene, silberbeschlagene Schirm —

„Die junge Lady hier,“ sagte er plötzlich und streckte den Schirm vor, „sieht das Ding hier an. Ich weiß wohl, daß es nicht für den Geringsten unter den Geringen paßt, den Schirm eines Gentleman zu tragen, und ich bitte Eure Gnaden um Verzeihung. Ich hab ihn durch Zufall gekriegt, und wäre froh, wenn ein Gentleman, der einen solchen Artikel braucht, mir einen annehmbaren Preis machte.“

Während er das sagte, rannten zwei Gentlemen, die, nach ihren triefenden Kleidern zu urteilen, sogar dringend einen solchen Artikel brauchten, durch das Tor und kamen auf das Landhaus zu. Fairholme langte zuerst an und rief: „Furchtbarer Schauer!“ Dann wandte er sich schnell von den Damen ab, stellte sich an den Rand der Veranda und schüttelte den Regen von seinem Hute ab. Josephs, der hinter ihm herkam, wandt sich schaudernd vor der feuchten Berührung mit seinen eigenen Kleidern. Er machte Miß Wilson eine Verbeugung und sagte, sie sei hoffentlich nicht naß geworden.

„Das schon nicht,“ entgegnete sie. „Aber die Frage ist, wie wir von hier wieder nach Hause kommen?“

„Oh, es ist nur ein Regenschauer,“ sagte Josephs und schaute hoffnungsfroh nach dem wolkenschweren Himmel. „Es wird sich gleich aufklären.“

„Es paßt sich nicht für einen gewöhnlichen Mann, eine andere Meinung zu haben als ein Gentleman, dessen Geschäft es ist, den Himmel zu kennen, wie man wohl sagen kann,“ bemerkte hier der Mann, „sonst möchte ich meinen Schirm gegen Ihren Schlapphut verwetten, daß es vor sieben Uhr nicht aufhört zu regnen.“

„Dieser Mann wohnt hier,“ flüsterte Miß Wilson, „und ich glaube, er will uns los werden.“

„Hm!“ sagte Fairholme. Dann wandte er sich an den seltsamen Arbeiter mit der Miene eines Mannes, der keinen Spaß versteht, und sagte mit erhobener Stimme: „Sie wohnen hier, lieber Mann?“

„Ja, Herr, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, wenn ich so kühn sein darf.“

„Wie heißen Sie?“

„Jeff Smilasch, Herr, empfehle mich.“

„Wo kommen Sie her?“

„Von Brixtonbury, Herr.“

„Von Brixtonbury! Wo liegt das?“

„Ja, Herr, das weiß ich selbst nicht genau. Wenn ein Gentleman wie Sie, der Jographie und so was kennt, das nicht sagen kann, wie soll ich?“

„Sie sollten doch wissen, wo Sie geboren sind, Mann. Haben Sie keinen gesunden Menschenverstand?“

„Wie soll so einer wie ich Menschenverstand haben, Herr? Übrigens, ich war nur ein Findling. Vielleicht bin ich überhaupt nicht geboren.“

„Habe ich Sie letzten Sonntag in der Kirche gesehen?“

„Nein, Herr. Ich kam erst Mittwoch.“

„Schön, dann kommen Sie nächsten Sonntag hin,“ sagte Fairholme kurz, indem er sich von ihm abwandte.

Miß Wilson blickte auf die Wolken, dann auf Josephs, der sich mit Jane unterhielt, und schließlich auf Smilasch, der sich mit den Knöcheln gegen die Stirne schlug, ohne zu erwarten, daß man ihn anrede.

„Haben Sie einen Jungen, den Sie nach Lyvern schicken können, um uns eine Fahrgelegenheit — einen Wagen zu verschaffen? Ich will ihm einen Schilling für seine Mühe geben.“

„Einen Schilling!“ sagte Smilasch fröhlich. „Eure Gnaden sind eine noble Dame. Zwei vierrädrige Wagen. Acht sollen Sie haben.“

„Es gibt nur einen Wagen in Lyvern,“ sagte Miß Wilson. „Bringen Sie diese Karte zu Mr. Marsch, dem Wagenverleiher, und erzählen Sie ihm, in welcher Verlegenheit wir hier sind. Er wird das Gespann hersenden.“

Smilasch nahm die Karte und las sie mit einem flüchtigen Blick. Dann ging er in das Haus, um gleich darauf in einem Ölrock und einen Südwester auf dem Kopf wieder zu erscheinen. Er rannte durch den Regen davon und schwang sich mit etwas komischer Eleganz über das Tor. Kaum war er verschwunden, so wurde er, wie das öfter bei merkwürdigen Menschen ist, der Gegenstand der Unterhaltung.

„Ein bescheidener Arbeiter,“ sagte Josephs. „Und von guten Manieren in Anbetracht seines Standes.“

„Und ein geborener Narr,“ sagte Fairholme.

„Oder ein Spitzbube,“ bemerkte Agatha, indem sie die Augen aufriß und die Zähne zeigte, während ihre Mitschülerinnen ganz entsetzt über ihre Kühnheit in starrer Bestürzung dastanden. „Er sagte Miß Wilson, er habe eine Schwester, und er sei letzten Sonntag in der Kirche gewesen. Ihnen aber hat er grade erzählt, er sei ein Findling und sei erst am Mittwoch angekommen. Seine Aussprache ist nur angenommen, er kann lesen, und ich glaube überhaupt nicht, daß er ein Arbeiter ist. Vielleicht ist er ein Räuber und will das Silbergeschirr in der Anstalt stehlen.“

„Agatha,“ sagte Miß Wilson ernst, „Sie sollten sich in acht nehmen, so etwas zu sagen.“

„Aber es ist so verdächtig. Seine Erklärung über den Schirm gab er nur, um mein Mißtrauen zu entkräftigen. An der Art, wie er ihn benutzte und sich auf ihn stützte, sah man, daß er viel vertrauter damit war als mit dem Spaten, um den er so besorgt tat. Und all seine Kleider sind neu.“

„Das ist wahr,“ sagte Fairholme, „aber das hat nicht viel zu besagen. Arbeiter sind heutzutage die reinen Gentlemen. Doch ich will ihn im Auge behalten.“

„Oh, ich danke Ihnen sehr,“ sagte Agatha.

Fairholme, der Verdacht schöpfte, daß sie sich über ihn lustig mache, runzelte die Stirne, und Miß Wilson warf der Spötterin einen strengen Blick zu. Es wurde jetzt wenig mehr gesprochen — nur ein paar Bemerkungen über die Dauer des Regens fielen, bis das Dach einer Droschke, eine alte Trauerkutsche, und drei triefende Hüte über der Hecke sichtbar wurden. Smilasch saß auf dem Bock neben dem Kutscher. Als der Wagen hielt, sprang er herab, ging ohne ein Wort zu sprechen wieder in das Haus und erschien mit dem Regenschirm. Er spannte ihn über Miß Wilsons Haupt auf und sagte:

„Nun, Eure Gnaden, wenn Sie mitkommen wollen, ich werde Sie trocken in den Wagen bringen, und Ihre geehrten Nichten werde ich eine nach der andern abliefern.“

„Ich komme zuletzt,“ sagte Miß Wilson, verwirrt durch seine Annahme, die Gesellschaft sei eine Familie. „Gertrude, du gehst am besten vor.“

„Gestatten Sie mir,“ sagte Fairholme, indem er vortrat und den Schirm zu nehmen versuchte.

„Danke sehr, ich will Sie nicht bemühen,“ sagte sie sehr kühl und trippelte mit Smilasch, der mit großer Besorgtheit den Schirm über ihr hielt, durch das schlammige Feld. Auf dieselbe Art geleitete er auch die andern zu dem Fahrzeug, in das sie sich mit einiger Schwierigkeit zurechtsetzten. Agatha, die als vorletzte kam, gab ihm drei Pence.

„Sie haben ein nobles Herz und einen mutigen Blick, Miß,“ sagte er und schien sehr bewegt. „Gott segne Sie!“

Er holte dann Jane, die auf dem schlüpfrigen Gras ausglitt und hinfiel. Er brauchte seine ganze Kraft, um ihr wieder aufzuhelfen.

„Ich hoffe, Sie sind nicht so naß geworden von dem Regen, Miß,“ sagte er. „Sie sind ein feines Mädel für Ihr Alter. Hundertzwanzig bis hundertfünfzig Pfund schwer, glaube ich.“

Sie errötete und eilte nach der Droschke, in der Agatha saß. Aber sie war voll, und Jane mußte sehr gegen ihren Willen in die Kutsche, wo sie beträchtlich den Platz verminderte, der für Miß Wilson freigelassen war.

Smilasch kehrte inzwischen zu dieser zurück. „Nun, teure Lady,“ sagte er, „nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht fallen. Kommen Sie mit.“

Miß Wilson, die die Einladung nicht beachtete, nahm einen Schilling aus ihrer Börse.

„Nein, Lady,“ sagte Smilasch mit tugendhafter Miene. „Ich bin ein ehrlicher Mann und habe noch nie mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht, außer viermal, wovon aber nur zweimal für Stehlen waren. Ihre jüngste Tochter — die mit dem mutigen Blick — hat mich mehr als anständig bezahlt.“

„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß diese jungen Damen nicht meine Töchter sind,“ sagte Miß Wilson scharf. „Warum hören Sie nicht auf das, was ich Ihnen sage?“

„Seien Sie nicht so streng gegen einen gewöhnlichen Mann, Lady,“ sagte Smilasch unterwürfig. „Die junge Dame hat mir grade drei halbe Kronen gegeben.“

„Drei halbe Kronen!“ rief Miß Wilson aus, sehr zornig über solch eine Verschwendung.

„Gott segne ihre Unschuld, sie weiß nicht, was man so einem Menschen wie mir geben muß? Aber ich will die junge Lady nicht bestehlen. Eine halbe Krone ist anständig genug bezahlt für den Gang, und eine halbe Krone will ich behalten, wenn es eure vornehme Gnaden gestatten. Aber die andern fünf Schillinge will ich Ihnen für sie anvertrauen. Haben Sie auch schon einmal ihr mutiges Wesen bemerkt?“

„Unsinn, mein Herr. Behalten Sie lieber das Geld, das Sie bekommen haben.“

„Was! Für fünf Schilling soll ich die hohe Meinung, die Eure Gnaden von mir haben, aufs Spiel setzen! Nein, teure Lady, das können Sie nicht von mir erwarten. Die letzten Worte meines seligen Vaters waren —“

„Sie erzählten doch vorhin, Sie wären ein Findling,“ sagte Fairholme. „Was soll man nun glauben, he!“

„Das war ich auch, Herr, aber nur von Mutters Seite. Eure Gnaden wollen bitte das Geld zurücknehmen, denn ich behalte es nicht. Ich gehöre mal zur niederen Klasse und bin daher kein Mann von Wort. Aber wenn ich schon einmal daran festhalte, halte ich auch wie Pech daran fest.“

„Nehmen Sie es,“ sagte Fairholme zu Miß Wilson. „Nehmen Sie es ruhig. Es war lächerlich, ihm für das, was er getan hatte, sieben und einen halben Schilling zu geben. Es würde ihn nur zum Trinken verleiten.“

„Seine Ehrwürden sagen die Wahrheit, Lady. Die eine halbe Krone hält mich vollständig betrunken bis Sonntag morgen, und mehr will ich gar nicht.“

„Zähmen Sie ein bißchen Ihre Zunge, mein Mann,“ sagte Fairholme, indem er ihm die beiden Silberstücke abnahm und sie Miß Wilson gab. Diese bot den Geistlichen guten Abend und ging unter dem Schirm zur Kutsche.

„Wenn Eure Gnaden einen gewandten Mann brauchen, um eine außergewöhnliche Arbeit zu besorgen, dann werden Sie hoffentlich an mich denken,“ sagte Smilasch, als sie den Hügel hinabgingen.

„Oh, Sie wissen, wer ich bin?“ fragte Miß Wilson trocken.

„Die ganze Gegend weiß es, Miß, und verehrt Sie. Als Schmied kommt mir keiner gleich, und wenn Sie eine geschlagene Medaille brauchen, um sie für gutes Betragen oder dergleichen zu vergeben, ich glaube, ich würde Sie schon zufriedenstellen. Und wenn Eure Gnaden geschmuggelte Spitzen brauchen —“

„Nehmen Sie sich lieber etwas in acht, damit Sie nicht in Ungelegenheiten kommen,“ sagte Miß Wilson streng. „Sagen Sie dem Kutscher, er sollte abfahren.“

Die Wagen setzten sich in Bewegung, und Smilasch nahm sich die Freiheit, seinen Hut hinter ihnen her zu schwenken. Dann kehrte er zu dem Landhaus zurück, brachte den Schirm hinein und schloß die Türe, als er wieder herausgekommen war. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und schritt durch den Regen über den Hügel davon, ohne von den erstaunten Geistlichen auch die mindeste Notiz zu nehmen.

Inzwischen konnte sich Miß Wilson nicht enthalten, ihrem Unwillen über Agathas Verschwendung Luft zu machen, und sie erzählte es den Mädchen in der Kutsche. Aber Jane erklärte, daß Agatha überhaupt nur drei Pence besäße, und daß sie daher unmöglich dem Mann dreißigmal soviel hätte geben können. Als sie zu Hause waren und Agatha von Miß Wilson befragt wurde, öffnete sie erstaunt die Augen und erklärte lachend: „Ich hab ihm nur drei Pence gegeben. Er hat mir vier Schilling und neun Pence als Geschenk geschickt!“

Der Amateursozialist

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