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Viertes Kapitel.

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Inhaltsverzeichnis

Der Samstag, der schon an und für sich ein halber Feiertag ist, war in der Anstalt zu Alton ein vollständiger. Des Morgens gab es nur Unterricht im Turnen, Tanzen, Zeichnen und im Vortrag, und der Nachmittag wurde mit Tennisspielen verbracht. Hierzu waren dann Damen aus der Nachbarschaft eingeladen, die ihre Ehegatten, Brüder oder Väter mitbringen durften, denn Miß Wilson wollte ihre Zöglinge nicht mit der komischen Unbeholfenheit von Schulmädchen, die an keine Gesellschaft gewöhnt sind, in die Welt schicken.

Ende Oktober kam aber ein Samstag, der sich für Miß Wilson durchaus nicht als ein Feiertag erwies. Um halb zwei, als der Lunch vorbei war, ging sie hinaus auf den Rasenplatz, der zwischen der Südseite des Gebäudes und einer Anpflanzung von Buschwerk lag. Hier fand sie eine Gruppe Mädchen, die Agatha und Jane zusahen, wie sie eine Rasenwalze hinter sich herschleiften. Eine von ihnen schleuderte mit einem Racket einen Ball empor und warf ihn zufällig in das Gebüsch hinein, aus dem dann zum Erstaunen der Gesellschaft Smilasch auftauchte. Er hatte den Ball in der Hand, kniff ein Auge zu und sagte, obgleich er nur ein gewöhnlicher Mann sei, hätte er doch Gefühle wie jeder andere, und sein Auge sei schließlich weder aus Stein noch aus Holz. Er war wie früher gekleidet, aber sein Anzug, der mit Lehm und Kalk beschmutzt war, sah jetzt nicht mehr neu aus.

„Bitte, was wollen Sie hier?“ fragte Miß Wilson.

„Ich glaubte wahrhaftig, Sie hätten nach mir geschickt, Lady“ antwortete er. „Der Bäckerjunge sagte es mir, als er heute morgen meine niedrige Hütte betrat. Hätte nie gedacht, daß er mich belügen könnte.“

„Es ist ganz richtig, ich habe nach Ihnen geschickt! Warum sind Sie aber nicht an die andere Seite gegangen, zum Eingang für Dienstboten?“

„Ich suche ihn ja, Lady. Eben sah ich mich danach um, als mich hier der Ball traf“ — er berührte sein Auge. „Von solch einem Hieb vergeht einem Hören und Sehen, und ein anständiger Kerl sieht aus wie ein Räuber.“

„Agatha,“ sagte Miß Wilson, „kommen Sie einmal her.“

„Ihr Diener, Miß,“ sagte Smilasch und zog an seiner Stirnlocke.

„Das ist der Mann, der mir die fünf Schilling gab. Er sagte, er hätte sie von Ihnen bekommen. Ist das so?“

„Gewiß nicht. Ich hab ihm nur drei Pence gegeben.“

„Aber ich zeigte doch Eure Gnaden das Geld,“ sagte Smilasch, indem er unruhig an seinem Hut drehte. „Ich gab es Ihnen. Wie soll ich an fünf Schilling kommen, wenn nicht durch die Güte der Reichen und Vornehmen? Wenn die junge Lady glaubt, ich hätte die andere halbe Krone auch nicht behalten dürfen, so hab ich nichts dagegen, daß sie mir vom Lohn abgehalten wird, wenn ich hier Arbeit finde. Aber —“

„Aber das ist ja Unsinn,“ sagte Agatha. „Ich hab Ihnen nie drei Kronen gegeben.“

„Vielleicht haben Sie sich geirrt. Pence sind bald so groß wie halbe Kronen, und das Wetter war sehr dunkel.“

„Das war unmöglich,“ sagte Agatha. „Jane hatte die ganze Woche über mein Portemonnaie, Miß Wilson, und sie kann Ihnen bestätigen, daß nur drei Pence darin waren. Sie wissen, daß ich immer am Ersten mein Geld bekomme, und es reicht nie länger als eine Woche. Der Gedanke, ich könnte am Sechzehnten noch sieben und einen halben Schilling besitzen, ist lächerlich.“

„Aber erlauben Sie, Miß, ist es nicht noch mal so lächerlich, daß ich armer Arbeiter Geld weggeben sollte, das ich nie bekam?“

Eine unbestimmte Unruhe ergriff Agatha, als ob sie ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauen dürfte.

„Alles, was ich weiß,“ sagte sie protestierend, „ist, daß ich es Ihnen nicht gegeben habe. Dann müssen sich also meine Pennystücke in Ihrer Tasche in halbe Kronen verwandelt haben.“

„Meinswegen,“ sagte Smilasch ernsthaft. „Ich habe gehört und weiß es für gewiß, daß sich den reichen Leuten das Geld in der Tasche von selbst vermehrt. Warum nicht auch in den Taschen der Armen? Warum soll man erstaunen über etwas, das alle Tage vorkommt?“

„Hatten sie damals eigenes Geld bei sich?“

„Woher soll so einer wie ich eigenes Geld bekommen haben? — entschuldigen Eure Gnaden, daß ich so dreist bin, so zu fragen.“

„Ich weiß nicht, woher Sie es bekommen haben,“ sagte Miß Wilson verdrießlich. „Ich frage Sie nur, hatten Sie Geld?“

„Ja, Lady, ich weiß es nicht mehr. Ich will Sie nicht täuschen, aber ich kann mich nicht erinnern.“

„Dann haben Sie sich geirrt,“ sagte Miß Wilson, indem sie ihm sein Geld zurückgab. „Hier, wenn es nicht Ihr Geld ist, unseres ist es auch nicht. Darum ist es besser, Sie behalten es.“

„Es behalten! Oh, Lady, aber das ist der Gipfel der Großmut! Und was soll ich tun, Lady, um Ihre Wohltätigkeit zu verdienen?“

„Es ist nicht meine Wohltätigkeit. Ich gebe es Ihnen, weil es mir nicht gehört, und weil ich glaube, daß es Ihnen gehört. Sie scheinen ein sehr einfältiger Mann zu sein.“

„Ich danke Eure Gnaden, hoffentlich bin ich das. Und jetzt, um von der Tagesarbeit zu sprechen, haben Sie keine Beschäftigung für einen armen Mann?“

„Nein, danke sehr. Ich habe keine Verwendung für Ihre Dienste. Ich schulde Ihnen noch den Schilling, den ich Ihnen für das Herbeischaffen der Wagen versprach. Hier ist er.“

„Noch einen Schilling!“ schrie Smilasch überwältigt.

„Ja,“ sagte Miß Wilson, die anfing sich zu ärgern. „Ich will, bitte, nichts mehr darüber hören. Verstehen Sie denn nicht, daß Sie ihn verdient haben?“

„Ich bin ein gewöhnlicher Mann und verstehe sozusagen gar nichts,“ entgegnete er ehrerbietig. „Aber wenn Sie mir einen Tag Arbeit geben, damit ich mir etwas helfen kann, dann heb ich all dies Geld in einer kleinen hölzernen Sparbüchse auf, die ich zu Haus habe und bewahre es dann für später, wenn einmal Krankheit und Alter, wie man so sagt, ihre Hände auf mich legen. Ich könnte wunderschön den Rasen glätten. Die jungen Damen machen sich kaputt mit der schweren Walze. Wenn Tennis gespielt wird, ich stelle die Netze so stramm auf, daß sich Paradiesvögel darin fangen. Wenn der Flur geweißt werden soll, ich kann eine so grade Linie ziehen, daß Sie sich kaum enthalten werden, ein gleichseitiges Dreieck darauf zu zeichnen. Ich bin ein ehrlicher Mann, wenn man gut auf mich acht gibt, ich kann eine Tafel aufwarten so gut wie der Kellermeister des Lordmayors von London.“

„Ich kann Sie nicht ohne Zeugnisse beschäftigen,“ sagte Miß Wilson, die sich über den Brocken aus Euklid amüsierte und sich wunderte, wo er ihn wohl aufgeschnappt haben mochte.

„Ich habe die besten Zeugnisse, Lady. Der hochwürdige Pfarrer kennt mich von meiner Knabenzeit her.“

„Ich habe gestern mit ihm über Sie gesprochen,“ sagte Miß Wilson und sah ihn streng an. „Er sagte, Sie seien ihm vollständig unbekannt.“

„Die Gentlemen sind so vergeßlich,“ sagte Smilasch betrübt. „Aber ich spielte auf meinen einheimischen Pfarrer an — den Pfarrer in meinem Heimatdorf Auburn. ‚Süßes Auburn, lieblichstes Dörfchen im Tale‘, wie der Gentleman es nannte.“

„Das ist nicht der Name, den Sie Mr. Fairholme gegenüber erwähnten. Ich weiß nicht mehr, was Sie ihm sagten, aber es war nicht Auburn, und ich habe auch nie von einem solchen Ort gehört.“

„Nie was über das süße Auburn gelesen?“

„Weder in einem Geographiebuch noch in einem Lexikon. Erinnern Sie sich, daß Sie mir erzählten, Sie hätten im Gefängnis gesessen?“

„Nur sechsmal,“ verteidigte sich Smilasch, während seine Gesichtszüge krampfhaft zuckten. „Urteilen Sie nicht zu streng über einen gewöhnlichen Mann. Nur sechsmal, und jedesmal wegen Trunkenheit. Aber ich habe es abgeschworen und es seit achtzehn Monaten treu gehalten.“

Miß Wilson war sich jetzt darüber klar, daß sie es mit einem nicht recht gescheiten, aber witzigen Landburschen zu tun hatte, einem jener eingebildeten Originale, die sich, ohne es zu wollen, beliebt machen, weil sie dem gesunden Verstand derjenigen schmeicheln, die ihnen überlegen sind.

„Sie haben ein schlechtes Gedächtnis, Mr. Smilasch,“ sagte sie gutgelaunt. „Sie erzählen jedesmal etwas anders über sich.“

„Ich weiß, ich kann mich nicht mit Exaktiertheit ausdrücken. Ladies und Gentlemen haben die Gewalt der Worte. Sie können immer sagen, was sie meinen, aber ein gewöhnlicher Mann kann das nicht. Die Worte kommen ihm nicht von selbst. Er hat mehr Gedanken als Worte, und seine Worte passen nicht zu seinen Gedanken. Soll ich mal den Rasen umwälzen und mich bis heute abend für neun Pence nützlich machen?“

Miß Wilson, die heute nicht nur ihre gewohnten Samstagsbesucher erwartete, überlegte sich den Vorschlag und stimmte zu. „Aber merken Sie sich das,“ sagte sie. „Sie sind hier fremd in der Gegend, und Ihr Ruf in Lyvern hängt davon ab, wie Sie sich bei dieser Gelegenheit aufführen.“

„Ich bin Eure Gnaden sehr dankbar. Meine Tasche, in der ich meine Zeugnisse aufbewahre, hat ein Loch, und darum verliere ich sie immer. Möge die Güte Eurer Gnaden das Loch zunähen. Es ist ein schlechter Platz, dort seine Zeugnisse aufzuheben, aber es ist einmal so der Brauch. Und darum ein Hurra dem glorreichen neunzehnten Jahrhundert!“

Er zog seinen Rock aus, ergriff die Walze und begann sie mit einer Energie hinter sich herzuziehen, die der abgemessenen eines Berufsarbeiters fremd ist. Miß Wilson sah ihn mißtrauisch an, aber sie war in Eile und ging ins Haus hinein, ohne eine weitere Bemerkung zu machen. Agatha beschloß, sich ihn noch einmal genauer anzusehen. Mit einem Racket in der Hand, ging sie langsam über das Gras und kam bis dicht an ihn heran, als er, ohne sie zu bemerken, einen Seufzer der Erschöpfung ausstieß und sich zum Ausruhen hinsetzte.

„Schon müde, Mr. Smilasch?“ fragte sie spöttisch.

Er schaute kaltblütig auf, zog eine seiner Waschlederhandschuhe ab und wedelte sich damit Kühlung zu, indem er eine feine und weiße Hand zeigte. Schließlich antwortete er in dem Tone und in der Aussprache eines Gentleman:

„Außerordentlich.“

Agatha fuhr zurück. Er fächelte sich ohne die geringste Unruhe.

„Sie — Sie sind kein Arbeiter,“ sagte sie endlich.

„Offenbar nicht.“

„Ich dachte es mir.“

Er nickte ihr zu.

„Angenommen, ich erzählte das weiter,“ sagte sie und bekam mehr Mut, da sie sich erinnerte, daß sie nicht mit ihm allein war.

„Wenn Sie das tun, werde ich mich schon herausreden, wie ich mich aus den drei halben Kronen herausgeredet habe, und Miß Wilson wird zu der Ansicht kommen, Sie seien nicht ganz bei Sinnen.“

„Dann habe ich Ihnen also wirklich keine sieben und einen halben Schilling gegeben?“ fragte sie erleichtert.

„Was glauben Sie?“ entgegnete er, indem er drei Pence aus seiner Tasche nahm und sie in der Faust klingen ließ. „Wie heißen Sie?“

„Das brauchen Sie nicht zu wissen,“ antwortete Agatha voll Würde.

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht haben Sie recht,“ sagte er. „Ich würde Ihnen auch nicht meinen Namen nennen, wenn Sie mich danach fragten.“

„Ich habe nicht die mindeste Absicht, Sie danach zu fragen.“

„Nicht? Dann werden Sie also mit Smilasch auskommen und ich mit Agatha.“

„Es wäre besser für Sie, wenn Sie sich etwas in acht nähmen.“

„Wovor?“

„Vor dem, was Sie sagen, und — haben Sie keine Furcht, daß man Sie ausfindig macht?“

„Ich bin doch schon entdeckt — von Ihnen. Und ich befinde mich dabei ganz wohl.“

„Angenommen, die Polizei macht Sie ausfindig?“

„Die nicht! Übrigens brauche ich mich auch vor der Polizei nicht zu fürchten. Ich habe das Recht, Manchester zu tragen, wenn ich ihn feinem Stoff vorziehe. Und nun denken Sie an die Vorteile, die ich jetzt genieße! Ich bin dadurch hier in die Anstalt hineingekommen und genieße das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft. Entschuldigen Sie, wenn ich die Walze weiterziehe, nur um den Schein zu wahren. Ich kann beim Walzen sprechen.“

„Das können Sie, wenn Sie Selbstgespräche lieben,“ sagte sie und wandte sich fort, als er sich erhob.

„Im Ernst, Agatha, Sie dürfen den andern nichts über mich erzählen.“

„Nennen Sie mich nicht Agatha,“ sagte sie heftig.

„Wie soll ich Sie denn nennen?“

„Sie brauchen mich überhaupt nicht anzureden.“

„Ich brauche es und will es. Seien Sie nicht boshaft.“

„Aber ich kenne Sie ja gar nicht. Ich wundere mich über Ihre —“ sie zauderte, das Wort, das ihr grade einfiel, auszusprechen, aber sie fand kein besseres — „über Ihre Dreistigkeit.“

Er lachte, und sie beobachtete ihn, während er ein paarmal die Walze auf- und abzog. Dann erholte er sich, indem er einen Blick auf sie warf, und da er sie dabei ertappte, wie sie ihn ansah, lächelte er. Sein Lächeln war etwas Alltägliches im Vergleich mit dem Lächeln, das sie ihm zurückgab, in das ihre Augen, ihre Zähne und der goldene Schimmer ihrer Gesichtsfarbe mit einzustimmen schienen. Er hielt sofort mit dem Walzen ein und stand da, das Kinn auf den Walzenstiel gestützt.

„Wenn Sie Ihre Arbeit vernachlässigen,“ sagte sie boshaft, „werden Sie nicht mit dem Gras fertig sein, bis die Leute kommen.“

„Was für Leute?“ fragte er verwirrt.

„Oh, eine Masse Leute. Wahrscheinlich auch welche, die Sie kennen. Es kommen Besucher von London: Mein Vormund mit Frau und Tochter, meine Mutter und hundert andere.“

„Im ganzen vier. Weshalb kommen sie? Wollen sie Sie besuchen?“

„Sie wollen mich abholen,“ antwortete sie und beobachtete ihn, ob ihn die Nachricht mißvergnügt machte.

Er war offenbar betroffen. „Weshalb, zum Henker, will man Sie fortnehmen?“ fragte er. „Ist Ihre Erziehung beendigt?“

„Nein. Ich habe mich schlecht aufgeführt und werde weggejagt.“

Er lachte wieder. „So ist es recht!“ sagte er, „Sie fangen an, Smilaschs Manier zu begreifen. Was haben Sie denn getan?“

„Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen das erzählen soll. Was haben Sie getan?“

„Oh, ich habe nichts getan. Ich bin ein unromantischer Gentleman, der sich vor einer romantischen Lady verbirgt, die sich in ihn verliebt hat.“

„Die Ärmste!“ sagte Agatha spöttisch. „Natürlich hat sie Ihnen einen Antrag gemacht, und Sie haben ihn zurückgewiesen.“

„Im Gegenteil, ich machte den Antrag, und sie nahm ihn an. Deshalb muß ich mich jetzt vor ihr verstecken.“

„Sie erzählen hübsche Geschichten,“ sagte Agatha. „Leben Sie wohl. Da kommt Miß Carpenter und will hören, worüber wir uns unterhalten.“

„Leben Sie wohl. Es tut mir sehr leid, daß Sie weggejagt werden — Kann sich ein gewöhnlicher Mann vielleicht die Frage erlauben, wo die Schälmaschine ist?“

Diese Worte waren an Jane gerichtet, die mit einigen von den andern herbeikam. Agatha erwartete, daß Smilasch jetzt sofort entlarvt würde, denn seine Verstellung war nun doch zu durchsichtig. Sie wunderte sich, wie die andern sich dadurch irreführen ließen. Es schlug jetzt zwei Uhr, und das erinnerte sie an das bevorstehende Zusammentreffen mit ihrem Vormund. Eine Angst überkam sie und ein Verlangen, sich an einem einsamen Platz zu verbergen, bis man sie rief. Aber sie hatte es sich zur Ehrensache gemacht, stets die vollkommenste Gleichgültigkeit gegen alle Sorgen zu zeigen, und so blieb sie bei den Mädchen, lachte und plauderte mit ihnen, während sie Smilasch beobachteten, der sorgfältig die Felder markierte und die Netze ausspannte. Agatha brachte alle zum Lachen, und grade ihre geheime Aufregung, die durch unerträgliche Anfälle von Angst verschärft wurde, trieb sie dabei an, während das Romantische an Smilaschs Verkleidung ihr die Vorstellung des Träumens einflößte. Ihre Phantasie beschäftigte sich bereits mit einem Drama, in dem sie die Heldin und Smilasch der Held war, obgleich sie dem lebendigen Mann da vor sich nicht so viel düstere Charaktergröße andichten konnte wie einer gänzlich erträumten Person. Das Spiel ihrer Phantasie war ein sehr einfaches, an dem sie sich im geheimen immer wieder ergötzte. Die Heldin liebte den Helden und starb an gebrochenem Herzen, weil er ihre Leidenschaft nicht erwiderte. Denn Agatha, die stets bereit war, bei ihren Gefährtinnen jede Gefühlsschwelgerei zu verspotten, die mit einem ansteckenden Sinn für Possen begabt war, schwelgte doch heimlich in ihrem Innern in Vorstellungen von Verzweiflung und Sterben. Sie durchlebte oft die ganze Marter eines erfolgreichen Clowns, der beim Publikum wahre Stürme von Gelächter auslöst und sich doch im Grunde für einen geborenen Tragöden hält. Sie wußte, daß es manches in ihrem Wesen gab, das nicht grade durch ihre so beliebte Darstellung des Soldaten im Kamin verkörpert wurde.

Um drei Uhr kamen die Gäste aus der Umgegend an, und es wurde auf vier Feldern, die Smilasch glatt gewalzt und hergerichtet hatte, Tennis gespielt. Die beiden Geistlichen waren da mit einigen Gentlemen aus dem Laienstande. Mrs. Miller, der Pfarrer und ein paar Mütter und sonstige Anstandsdamen sahen zu. Sie genossen leichte Erfrischungen, die Smilasch, der eine erborgte weiße Kellnerschürze umgebunden hatte und eine übertriebene Dienstfertigkeit entwickelte, auf Teebrettern servierte. Eine Viertelstunde später kam eine Botschaft von Miß Wilson, die Miß Wylie wegrief. Die Besucher begriffen nicht, warum jetzt mit einem Male die jungen Damen ein so zerstreutes Benehmen zeigten. Jane brach fast in Tränen aus und gab Josephs eine unhöfliche Antwort, als er sie ganz unschuldig fragte, was denn geschehen sei. Agatha ging anscheinend ganz gleichgültig fort, obgleich ihre Hand zitterte, als sie ihr Racket weglegte.

In einem geräumigen Empfangszimmer an der Nordseite des Gebäudes fand sie ihre Mutter, eine schmächtige Dame in Witwentracht, mit verblichenem braunen Haar und verweinten Augen. Auch Mrs. Jansenius und ihre Tochter waren dort. Die beiden älteren Damen bewahrten ein ernstes Schweigen, während Agatha sie küßte, und Mrs. Wylie nach ihrem Taschentuch griff. Henrietta umarmte Agatha überschwenglich.

„Wo ist Onkel John?“ fragte Agatha. „Ist er nicht mitgekommen?“

„Er ist im andern Zimmer bei Miß Wilson,“ sagte Mrs. Jansenius. „Sie erwarten dich dort.“

„Ich dachte, es wäre jemand gestorben,“ sagte Agatha, „Ihr seht alle aus wie bei einem Begräbnis. Nun steck dein Taschentuch fort, Mama. Wenn du weinst, werde ich Miß Wilson meine Meinung sagen, weil sie dich gequält hat.“

„Nein, nein,“ sagte Mrs. Wylie erschreckt. „Sie war so nett!“

„So gut!“ sagte Henrietta.

„Sie ist sehr vernünftig und gütig gewesen,“ sagte Mrs. Jansenius.

„Das ist sie immer,“ sagte Agatha nachgiebig. „Oder habt ihr gedacht, sie würde in Krämpfe ausbrechen?“

„Agatha,“ flehte Mrs. Wylie, „sei nicht eigensinnig und töricht.“

„O nein, das ist sie nicht. Ich weiß das,“ sagte Henrietta schmeichelnd. „Nicht wahr, liebe Agatha?“

„Meinetwegen kannst du tun, was du willst,“ sagte Mrs. Jansenius. „Aber ich hoffe, du bist zu vernünftig, um ohne Grund die Beendigung deiner Erziehung zu verscherzen.“

„Deine Tante hat ganz recht,“ sagte Mrs. Wylie. „Und dein Onkel ist sehr böse auf dich. Er wird nie wieder mit dir sprechen, wenn du dich mit Miß Wilson zankst.“

„Er ist nicht böse,“ sagte Henrietta, „aber er ist so um dein Wohl besorgt.“

„Er wird natürlich verstimmt sein, wenn du so in deinem Unverstand fortfährst,“ sagte Mrs. Jansenius.

„Alles, was Miß Wilson wünscht, ist eine Entschuldigung wegen der schrecklichen Sachen, die du in ihr Buch geschrieben hast,“ sagte Mrs. Wylie. „Liebe Agatha, du wirst sie doch um Entschuldigung bitten?“

„Natürlich wird sie das tun,“ sagte Henrietta.

„Es wäre auch noch schöner,“ meinte Mrs. Jansenius.

„Vielleicht tu ich es,“ sagte Agatha.

„Du bist mein einziges, liebes Kind,“ sagte Mrs. Wylie und ergriff ihre Hand.

„Und vielleicht tu ich es auch nicht.“

„Du tust es, Liebste,“ drängte Mrs. Wylie und versuchte die widerstrebende Agatha näher an sich heranzuziehen. „Um meinetwillen. Du tust deiner Mutter einen Gefallen, Agatha. Du wirst es mir doch nicht abschlagen, mein Herz?“

Agatha lachte milde über ihre Mutter, die schon seit langer Zeit solche Art zu bitten aufgegeben hatte. Dann wandte sie sich zu Henrietta und sagte: „Wie geht es deinem caro sposo? Es war häßlich, daß ich nicht Brautjungfer wurde.“

Das Rot auf Henriettas Wangen leuchtete. Mrs. Jansenius fuhr schnell dazwischen, indem sie daran erinnerte, daß Miß Wilson warte.

„Oh, sie macht sich nichts aus dem Warten,“ sagte Agatha. „Sie glaubt, ihr seid alle dabei, mir den Kopf zurecht zu setzen. Das hat sie mit euch verabredet, bevor sie das Zimmer verließ. Mama weiß, daß mir ein kleines Vögelchen alles das erzählt. Ich muß nun sagen, ihr habt mich bis jetzt durchaus nicht nachgiebig gestimmt. Da sich aber der arme Onkel John schrecklich ängstlich und unbehaglich fühlen muß, werde ich doch so gut sein, ihn aus seiner Not zu erlösen. Adieu!“ Und sie schritt gemächlich hinaus. Gleich darauf steckte sie den Kopf noch einmal in das Zimmer und sagte mit gedämpfter Stimme: „Macht euch auf etwas Entsetzliches gefaßt. Ich bin grade in der Laune, die schrecklichsten Dinge zu sagen.“ Sie verschwand wieder, und dann hörten sie ein Klopfen an der Tür nebenan.

Mr. Jansenius erwartete sie mit Besorgnis. Er hatte schon frühzeitig in seiner Laufbahn die Entdeckung gemacht, daß sein würdiges Aussehen und seine feine Stimme ihm bei den Leuten Ansehen verschafften und ihn bei öffentlichen Versammlungen an den Vorstandstisch brachten. Er war so sehr an diesen Respekt gewöhnt, daß ihn jede familiäre Annäherung oder Vertraulichkeit aufs höchste in Verwirrung setzten. Agatha andererseits, der man schon als Kind Onkel John als den Inbegriff von Weisheit und Ehrwürdigkeit gepriesen hatte, verspottete ihn stets als einen aufgeblasenen und geldstolzen Handelsmann, dessen filziges Gehirn unfähig war, ihre ausschweifenden Ideen zu begreifen. Sie hatte oft schon ihre Mutter in Schrecken gesetzt, indem sie sich mit jener absoluten Verachtung über ihn lächerlich machte, deren nur die Kindheit und die äußerste Unwissenheit fähig sind. Sie fühlte sich stets erniedrigt, weil er so gütig gegen sie war — denn er gab reichliche Geschenke — und mit dem Instinkt eines Anarchisten sah sie es für ein Zeichen an, daß sie auf dem richtigen Wege war, wenn sie seine Ratschläge verspottete und seine Autorität verachtete. Die Folge davon war, daß er sie etwas fürchtete, obgleich er nicht wußte, warum — und daß sie ihn durchaus nicht fürchtete und sich dessen sehr wohl bewußt war.

Als sie hereintrat, mit dem strahlendsten Lächeln, das sie ausspielen konnte, saßen Miß Wilson und Mr. Jansenius am Tisch und sahen aus wie zwei arme Sünder, die angeklagt waren. Miß Wilson wartete, daß er sprechen sollte, da sie sich auf seine imponierende Anwesenheit verließ. Da er aber dazu nicht imstande war, bat sie Agatha, Platz zu nehmen.

„Danke sehr,“ sagte Agatha süß. „Nun, Onkel John: kennst du mich nicht mehr?“

„Ich habe mit Bedauern von Miß Wilson gehört, daß du dich hier sehr ungehörig aufgeführt hast,“ sagte er, indem er ihre Bemerkung nicht beachtete, obgleich sie ihn im stillen ganz aus der Fassung gebracht hatte.

„Ja,“ sagte Agatha zerknirscht, „es tut mir sehr leid.“

Mr. Jansenius, der nach dem Bericht der Miß Wilson die äußerste Halsstarrigkeit erwartet hatte, sah sie erstaunt an.

„Sie scheinen zu glauben,“ sagte Miß Wilson, die Mr. Jansenius’ Erstaunen bemerkte und darüber beunruhigt war, „daß Sie immer und immer wieder unsere Vorschriften übertreten und dann sich mit uns wieder ins Einvernehmen setzen können“ — Miß Wilson bezeichnete Übertretungen nie als Sünden gegen ihre eigene Autorität, sondern als solche gegen die Autorität der Schule — „indem Sie sagen, es täte Ihnen leid. Bei unserer letzten Unterredung sprachen Sie in einem ganz andern Ton.“

„Ich war damals ärgerlich, Miß Wilson. Und ich dachte, ich hätte einen Grund zur Klage — alle glauben dasselbe von sich. Außerdem zankten wir uns — wenigstens tat ich es, und ich habe mich noch stets schlecht aufgeführt, wenn ich mich zankte. Es tut mir sehr leid.“

„Mit dem Buch, das war eine ernsthafte Sache,“ sagte Miß Wilson streng. „Sie scheinen das nicht zu glauben.“

„Wenn ich Agatha recht verstand, so sieht sie die Torheit ihres Benehmens in der Sache mit dem Buch ein, und es tut ihr sehr leid,“ sagte Mr. Jansenius, indem er unwillkürlich für Agatha Partei nahm, da sie die Stärkere war und ihm am wenigsten mit Geldangelegenheiten zur Last fiel.

„Hast du das Buch gesehen?“ fragte Agatha eifrig.

„Nein. Miß Wilson hat mir erzählt, was geschehen ist.“

„Oh, lassen Sie es mich holen,“ rief sie aufspringend. „Onkel John schreit vor Lachen. Darf ich, Miß Wilson?“

„Da haben Sie’s!“ sagte Miß Wilson unwillig. „Das ist dasselbe unverbesserliche vorlaute Benehmen, über das ich mich beklagen muß. Miß Wylie bringt nur Abwechslung hinein, indem sie auch vollständig ungehorsam wird.“

Mr. Jansenius war ebenfalls entrüstet. Eine feine Röte stieg in seinem Gesicht auf bei der Idee, er würde schreien. „Still, still!“ sagte er. „Du mußt ernsthaft sein und Miß Wilson mehr Respekt entgegenbringen. Du bist doch jetzt alt genug, um das zu wissen, Agatha — vollständig alt genug.“

Agathas Heiterkeit verschwand. „Was hab ich denn gesagt oder getan?“ fragte sie, und dunkelrote Flecken erschienen auf ihren Wangen.

„Du hast dich über — über das Buch lustig gemacht, auf das Miß Wilson großen Wert legt, und zwar mit Recht.“

„Wenn ich es mit Recht tat, wie kannst du es mir dann vorwerfen?“

„Nun ist es genug,“ schrie Mr. Jansenius, indem er absichtlich seine Zurückhaltung aufgab, da er einsah, daß er sie so doch nicht im Zaume halten konnte. „Sei nicht unverschämt, Miß.“

Agathas Augen erweiterten sich, eine flüchtige Röte bedeckte ihr Gesicht und ihren Hals, und sie stampfte mit den Absätzen. „Onkel John,“ rief sie, „wenn du es wagst, mir noch einmal so etwas zu sagen, werde ich dich nie mehr ansehen oder ansprechen und nie mehr dein Haus betreten. Was verstehst du von gutem Benehmen, wenn du mich unverschämt nennst. Einer absichtlichen Roheit unterwerfe ich mich nun einmal nicht, gradeso hat auch mein Streit mit Miß Wilson angefangen. Sie sagte mir, ich sei unverschämt, und ich ging weg und sagte ihr, sie habe unrecht, indem ich es in das Fehlerbuch hineinschrieb. Sie hat überhaupt in der ganzen Sache unrecht gehabt, aber ich wollte mich mit ihr versöhnen und vergangene Dinge vergangen sein lassen, deshalb schwieg ich. Aber wenn sie sich weiter streiten will, dann kann ich es nicht ändern.“

„Mr. Jansenius, ich habe Ihnen schon auseinandergesetzt,“ sagte Miß Wilson, indem sie ihren Unwillen durch einen Versuch, ihn zu unterdrücken, nur noch verstärkte, „daß Miß Wylie jede Gelegenheit, sich mit mir wieder ins Einvernehmen zu setzen, zurückgewiesen hat. Mrs. Miller und ich haben absichtlich über alles Persönliche in der Sache hinweggesehen, und ich verlange nur, daß sie ihre Übertretung der Anstaltsvorschriften einsieht.“

„Aus Mrs. Miller mach ich mir nicht so viel,“ sagte Agatha, indem sie mit den Fingern schnipste. „Und Sie sind auch nicht halb so gut, wie ich dachte.“

„Agatha,“ sagte Mr. Jansenius, „ich wünsche, daß du deine Zunge hältst.“

Agatha atmete tief und sagte, indem sie sich resigniert hinsetzte: „So! Nun ist es doch so gekommen. Ich habe die Fassung verloren, und jetzt haben wir sie alle verloren.“

„Du hast kein Recht, die Fassung zu verlieren,“ sagte Mr. Jansenius, indem er sich einbildete, er hätte jetzt einen Vorteil über sie.

„Ich bin die jüngste und verdiene den geringsten Tadel,“ entgegnete sie.

„Es hat keinen Zweck, noch etwas darüber zu reden, Mr. Jansenius,“ sagte Miß Wilson entschlossen. „Es tut mir leid, daß Miß Wylie es vorzieht, mit uns zu brechen.“

„Aber ich ziehe es gar nicht vor, mit Ihnen zu brechen, und ich halte es für sehr hart, daß Sie mich wegjagen. Niemand hat hier den geringsten Streit mit mir gehabt, außer Mrs. Miller. Mrs. Miller zürnt mir, weil sie mich in falschem Verdacht hat wegen ihrer Katze, aber das ist doch nicht meine Schuld! Und wirklich, Miß Wilson, ich weiß nicht, warum Sie mir so böse sind. Wenn ich weggejagt werde, glauben alle Mädchen, ich hätte etwas Abscheuliches getan. Wenigstens müßte ich bis Ende des Schuljahres bleiben, und was das Sünden- — das Fehlerbuch angeht, so haben Sie mir doch, als ich ankam, ganz ausdrücklich gesagt, ich könnte hineinschreiben oder nicht, ganz wie ich wollte. Sie würden nie etwas diktieren oder über eine Eintragung etwas sagen. Und doch, das erstemal, daß ich etwas schreibe, was Ihnen nicht gefällt, jagen Sie mich weg. Niemand wird mehr glauben, daß die Eintragungen freiwillige sind.“

Miß Wilsons Gewissen war schon durch die Roheit und das Fehlen der moralischen Überredung in Mr. Jansenius Wort: ‚Sei nicht unverschämt!‘ getroffen worden, denn es klang wie das Echo ihrer eigenen Worte, und jetzt fühlte sie sich aufs neue beunruhigt. „Das Fehlerbuch,“ sagte sie, „ist nur zu Selbstanklagen da, es darf nicht dazu dienen, andere zu beschuldigen.“

„Ich weiß ganz gewiß, daß weder Jane noch Gertrude noch ich uns im geringsten anklagten, weil wir die Treppen herunterglitten, aber Sie hatten keinen Tadel, als wir das hineinschrieben. Übrigens sollte das Buch der moralischen Überredung dienen — wenigstens sagten Sie das immer, und als Sie die moralische Überredung aufgaben, glaubte ich, ich müßte darüber eine Eintragung machen. Natürlich war ich damals im Zorn, aber als ich zur Ruhe kam, hielt ich es für ganz recht, was ich getan hatte. Und ich glaube das auch noch heute, obgleich es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich zu allem geschwiegen hätte.“

„Wieso behaupten Sie, ich hätte die moralische Überredung aufgegeben?“

„Den Leuten die Türe weisen, ist keine moralische Überredung. Sie unverschämt nennen, ist auch keine.“

„Sie glauben also, ich müßte Ihnen geduldig zuhören, was Sie mir auch zu sagen belieben, und wie ungehörig es auch in Anbetracht Ihrer Stellung mir gegenüber sein mag?“

„Aber ich habe nichts Ungehöriges gesagt,“ sagte Agatha. Dann brach sie ungeduldig ab, lächelte wieder und sagte: „Oh, wir wollen nicht mehr streiten. Es tut mir wirklich sehr leid, und ich habe Sie und die Anstalt so gern. Und ich will auch nach den Ferien nur wiederkommen, wenn Sie es wünschen.“

„Agatha,“ sagte Miß Wilson schwankend, „diese Worte des Bedauerns kosten Ihnen so wenig, und wenn sie ihren Zweck erreicht haben, vergessen Sie sie so bald, daß mich das nicht länger befriedigt. Ich bestehe durchaus nicht gerne darauf, daß Sie die Anstalt jetzt verlassen. Aber wie Ihr Onkel Ihnen gesagt hat, Sie sind alt und verständig genug, um den Unterschied zwischen Ordnung und Unordnung zu kennen. Bisher haben Sie auf der Seite der Unordnung gestanden, die wir, wie Ihnen Mrs. Trefusis erzählen kann, früher, als Sie noch nicht da waren, kaum gekannt haben. Trotzdem will ich durch alles Vergangene einen Strich machen, wenn Sie mir versprechen, in Zukunft mehr auf sich achtzugeben, und am Ende des Schuljahres werde ich dann sehen, ob Sie weiter bleiben können.“

Agatha erhob sich strahlend vor Freude. „Liebe Miß Wilson,“ „Sie sind so gut! Natürlich verspreche ich es. Ich werde hingehen und es Mama erzählen.“

Bevor sie noch ein Wort dazu sagen konnte, hatte sie sich in einem Wirbel zur Türe bewegt und floh davon, um sich einen Augenblick später im Empfangszimmer den drei Damen vorzustellen, die sie mit launigem Lächeln schweigend anblickte.

„Nun?“ fragte Mrs. Jansenius fest.

„Nun, liebes Kind?“ fragte Mrs. Trefusis zärtlich.

Mrs. Wylie unterdrückte einen Seufzer und sah ihre Tochter flehend an.

„Es hat mir unendliche Mühe gekostet, sie zur Vernunft zu bringen,“ sagte Agatha nach einer herausfordernden Pause. „Sie benahmen sich wie Kinder, und ich war wie ein Engel. Natürlich bleibe ich.“

„Gott segne dich, mein Liebling,“ stammelte Mrs. Wylie und versuchte Agatha, die ihr gewandt auswich, zu küssen.

„Ich habe versprochen, in Zukunft sehr gut und fleißig und ruhig und brav zu sein. Erinnerst du dich noch an meinen Kastagnettentanz, Hetty?

Tra! lalala, la! la! la!

Tra! lalala, la! la! la!

Tra! lalalalalalalalalalala!“

Und sie wirbelte in dem Zimmer herum, indem sie mit den Fingern wie mit Kastagnetten knipste.

„Sei nicht so rücksichtslos und leichtfertig, meine Liebe,“ sagte Mrs. Wylie. „Du wirst deiner armen Mutter noch das Herz brechen.“

Miß Wilson und Mr. Jansenius traten jetzt grade herein, und Agatha blieb bewegungslos stehen, indem sie zerstreut auf eine Vase mit Blumen starrte. Miß Wilson lud ihre Besucher ein, an dem Tennisspielen teilzunehmen. Mr. Jansenius blickte streng und mißbilligend auf Agatha, die als Antwort ihr linkes Auge aufriß, während sie das andere gleichzeitig zusammenkniff. Doch er schüttelte seinen Kopf, um anzudeuten, daß Fertigkeiten im Gesichterschneiden, wie schwierig und naturwidrig sie auch sein mochten, seine Achtung nicht gewinnen konnten, und er ging mit Miß Wilson, mit Mrs. Jansenius und Mrs. Wylie hinaus.

„Wo ist dein Hubby?“ fragte Agatha darauf plötzlich Henrietta.

Mrs. Trefusis Augen füllten sich so schnell mit Tränen, daß sie auf Agathas Hand fielen, als sie ihren Kopf neigte, um sie zu verbergen.

„Es ist solch ein lieber, alter Platz hier,“ begann sie. „Die Erinnerungen aus meinen Kinderjahren —“

„Was ist zwischen dir und Hubby geschehen?“ fragte Agatha, sie unterbrechend. „Wenn du es mir nicht sagst, werde ich ihn fragen, wenn ich ihn treffe.“

„Ich wollte es dir grade erzählen, aber du läßt mir ja keine Zeit.“

„Das ist ja Quatsch,“ sagte Agatha. „Aber meinetwegen, erzähle.“

Henrietta zauderte. Ihre Würde als verheiratete Frau und der Ernst ihres Schmerzes lehnten sich gegen die seichte Auffassung des Schulmädchens auf. Aber sie war jetzt ebensowenig wie früher als Kind imstande, Agathas Tyrannei zu widerstehen, und sie sehnte sich nach ihrem Mitgefühl. Außerdem hatte sie es schon gelernt, ihre Geschichte lieber selbst zu erzählen, als das andern zu überlassen, weil dann die Sache durchaus nicht immer im richtigen Lichte dargestellt wurde. So erzählte sie Agatha von ihrer Ehe, ihrer milden Liebe zu ihrem Gatten, seinem geheimnisvollen Verschwinden, ohne ein Wort oder eine Adresse zu hinterlassen. Den Brief erwähnte sie nicht.

„Hast du nach ihm gesucht?“ fragte Agatha, indem sie eine Neigung zum Lachen unterdrückte.

Der Amateursozialist

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