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Sünde

unanständig oder tragisch

„Sünde ist alles, was Spaß macht, und wird von den Religionen verboten ...“

Tacheles

Dieses weit verbreitete, moralische Sündenverständnis hat einzelne Tatsünden (Lügen, Stehlen, Geschwindigkeitsüberschreitung, zu viele Kalorien) im Sinn und ist der christlichen Religion nicht radikal genug.

Was soll das heißen? Selbstverständlich ist es schlecht zu stehlen und durch Raserei sich und andere zu gefährden, und selbstverständlich ist die Schokosahnetorte einfach ein Genuss. „Nicht radikal genug“ zielt weder auf eine strengere Moralität noch auf eine Abschaffung der Moral, sondern auf ein Sündenverständnis, das den Horizont moralischer wie unmoralischer Taten übersteigt, ohne amoralisch zu werden. Amoralismus wäre nur die Kehrseite von Moralismus!

Mit Jesus von Nazareth vollzog sich eine Transformation vom moralischen zu einem transmoralischen Sündenverständnis. Was bedeutet das?

Das christliche, transmoralische Sündenverständnis nimmt in den Blick, was im mittelalterlichen sundi / sunia / sundja enthalten ist: den Notstand des Seins. Es geht hier nicht um einzelne menschliche (gute oder böse) Taten, sondern grundsätzlich um das menschliche Sein.

Um dies zu verstehen, müssen wir jede Menge verlernen und unsere Hörgewohnheiten ändern. Die Paradiesgeschichte (Genesis 2 und 3) erzählt mit dem „Fall Sünde“ eben nicht, dass Adam und Eva unanständig waren, sondern dass die ganze Kreatur bei aller Begabung eigentümlich behindert ist: Es ist der Wurm drin. Adam und Eva schämen sich – aber nicht, weil sie prüde sind. „Sich schämen bedeutet, nichts dagegen tun können, dass man nichts dafür kann.“ (Günther Anders) „Scham“ zeigt: Ich übernehme Verantwortung dafür, wofür ich nichts kann. Ich verantworte die Kontingenz meines Lebens. Die Pointe der biblischen Geschichte vom Sündenfall ist nicht der moralische Zeigefinger, sondern eine nüchterne Einschätzung, wie es in dieser Welt aussieht und „was geht“: „Die universale Bedeutung von Genesis 2-3 liegt darin, dass hier die Geschöpflichkeit des Menschen zusammengesehen wird mit seiner Begrenztheit durch Fehlbarkeit, Leid, Mühsal und Tod.“8 „Shit happens.“ Beamte würden von einer Verkettung unglücklicher Ereignisse sprechen.

Martin Luther hatte in der Reformation dieses transmoralische, existenzielle, tragische Sündenverständnis mit lateinischen Begriffen umschrieben wie peccatum radicale (Wurzelsünde) oder peccatum originale (Ursund). Er betonte, dass die eigentliche Sünde die Erbsünde ist. Das muss heute jeder Mensch missverstehen, weil man an die Vererbungslehre Darwins denkt, von der Luther noch gar nichts wissen konnte. Mit diesem für heutige Ohren wenig glücklich gewählten deutschen Wort „Erbsünde“ (peccatum haereditarium) wollte Luther jedoch zum Ausdruck bringen, dass es eine ganz andere, transmoralische Qualität von „Sund“ gibt, die mit Anständigkeits- bzw. Unanständigkeitskategorien gar nicht erfasst ist. In der moralischen Welt der Tatsünden kann ich vielleicht einzelne schlimme Taten lassen oder wiedergutmachen oder sie verjähren. Worunter Luther litt und was ihn nicht losließ, war die Überzeugung, dass selbst übermenschliche moralische Leistungsfähigkeit ein gewisses „Fehlgefühl“ nicht auslöschen kann. Viele Dichter, Philosophen und Theologen nach Luther haben ebenfalls versucht, dies treffend auszudrücken: Erbsünde meint einen „Grundschaden“ (Sören Kierkegaard), meint das „beschädigte Leben“ (Theodor W. Adorno); es geht um die „große Störung“, die „die Heiligen und die Schweine betrifft“ (Karl Barth). Erbsünde zielt auf eine globale, ja galaktische Dimension. Noch einmal: Sünde ist kein Tun, Sünde ist ein Sein.

Es ist wenig bekannt, dass Friedrich Nietzsche ganz in diesem Sinne dem Atheismus widersprochen hat. Es ging ihm nicht darum, dass Gott tot ist, sondern darum, dass wir den lebendigen Gott getötet haben und einen moralischen Über-Ich-Pappkameraden daraus gemacht haben. Darum hoffte Nietzsche auf eine „Häutung Gottes“: „Gott zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wieder sehn, jenseits von gut und böse“, also jenseits der moralischen Vereinnahmungen.9

Hat man sich auf diese neue Perspektive umgestellt, beginnt allmählich zu dämmern, welch lebensbelastbares Trostpotenzial darin liegt. So konnte Martin Luther zum Beispiel in einem seelsorgerlichen Brief einen allzu ehrgeizigen Klosterbruder folgendermaßen vermahnen:

„Denn heute entbrennt die Versuchung zur Vermessenheit in vielen und besonders in denen, die sich mit allen Kräften bemühen, gerecht und gut zu sein ... Sie streben so lange aus sich selbst heraus, gut zu handeln, bis sie die Zuversicht haben, vor Gott bestehen zu können ... Hüte Dich, dass Du nicht einmal nach einer so großen Reinheit trachtest, dass Du vor Dir nicht als ein Sünder erscheinen oder gar sein willst. Denn Christus wohnt nur in Sündern ... Folglich wirst Du nur in ihm Frieden finden durch getroste Verzweiflung an Dir und Deinen Werken.“10

Theologisch gilt also als Grundkoordinate für alles menschliche Wollen, Tun und Vollbringen in dieser Welt die ernüchternde These: Mit Behinderungen muss gerechnet werden. Das Leben ist behindert. Hinkende, Lahme, Schwache, Arme, Ängstliche, Verblendete, Betrogene, Enttäuschte, Irrende, Fremde, Orientierungslose, Abhängige, Verlassene geben das Bild ab für das so häufig Verdrängte und Ausgegrenzte, dem wir uns doch nicht entziehen können, weil es in uns selbst existiert. Wie zum Beispiel Paulus, ein hoch gebildeter antiker Jude, der mit seiner Selbsterkenntnis Sigmund Freuds Lebenswerk als Vorlage diente: „Ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich ... Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich ... Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen ...“ (Römer 7,15-25)

Sowohl für das Individuum wie für die Gesellschaft macht es einen revolutionären Unterschied, ob nur moralistische Horizonte zur Verfügung stehen oder eine Ahnung von der transmoralischen Dimension des beschädigten Lebens, das es als solches zu verantworten gilt. Die realistische Selbst- und Welteinschätzung im Horizont eines theologisch aufgeklärten Verständnisses von Erbsünde birgt ein großes Selbst- und Weltveränderungspotenzial. Es lässt mich gelassener mit mir selbst, mit meinem Wollen und Streben und Sehnen, mit der Welt und mit dem Nächsten umgehen.

→ Eine Übung: Versuchen Sie, folgenden Bibelvers nicht moralisch, sondern existenziell zu übersetzen: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ (Römer 5,8)

Tacheles glauben

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