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1. Einleitung 1.1 Die Aufgabe einer
„Neutestamentlichen Zeitgeschichte“
ОглавлениеEine Darstellung der „Neutestamentlichen Zeitgeschichte“ hat das antike Weltgeschehen zum Gegenstand, das in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht den Hintergrund des Auftretens Jesu bildete und die Lebenswelt des Urchristentums bestimmte. Da Jesus in Palästina wirkte und dort nach seinem Tod die christliche Kirche erste Gestalt annahm, liegt ein Schwerpunkt auf den geschichtlichen Entwicklungen des palästinischen Judentums im neutestamentlichen Zeitalter. Die neutestamentliche Zeitgeschichte bleibt aber geographisch nicht auf Palästina beschränkt, sondern nimmt die Verhältnisse im gesamten Römischen Reich und deren Vorgeschichte in der hellenistischen Staatenwelt in den Blick, soweit sie sich für das Verständnis Jesu und des Urchristentums als bedeutsam erweisen. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus der Tatsache, dass Palästina in neutestamentlicher Zeit unter römischer Herrschaft stand und geistig in hohem Maße von der Epoche des Hellenismus geprägt war. Hinzu kommt der Sachverhalt, dass sich die christlichen Gemeinden rasch über die Grenzen Palästinas hinaus im gesamten Imperium Romanum ausbreiteten und das Geschick der Kirche eng mit den Entwicklungen in der römischen Kaisergeschichte verbunden war.
Neben den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten sind die religiösen, philosophischen und kulturellen Denkformen der neutestamentlichen Zeit für ein sachgerechtes Verständnis der biblischen Texte von Bedeutung. Daraus ergeben sich enge Berührungspunkte zwischen einer Darstellung der neutestamentlichen Zeitgeschichte und einer Erhellung der Umwelt des Neuen Testaments. Auch wenn beide Themenkomplexe oftmals in einem Atemzug genannt werden, kann gegenüber einer uneingeschränkten Gleichsetzung deutlich zwischen einer auf die historischen Entwicklungen ausgerichteten „Neutestamentlichen Zeitgeschichte“ und einer die geistigen Strömungen der Epoche untersuchenden „Umwelt des Neuen Testaments“ unterschieden werden. Unsere Einführung in die neutestamentliche Zeitgeschichte verfolgt im Wesentlichen das Ziel einer chronologisch orientierten Geschichtsdarstellung und nimmt schon aus Platzgründen die allgemeinen religiösen, philosophischen und kulturellen Verhältnisse des neutestamentlichen Zeitalters nur am Rande in den Blick.
Chronologischer Rahmen
Bei der Festlegung des chronologischen Rahmens bietet es sich an, mit dem Aufstieg Alexanders des Großen einzusetzen und mit der Herrschaft von Kaiser Hadrian zu enden. Die Darstellung der neutestamentlichen Zeitgeschichte widmet sich damit über weite Strecken der Epoche des Hellenismus, soweit diese sachlich als Hintergrund für das Neue Testament relevant erscheint. Mit Alexander dem Großen und den Diadochenherrschaften nach seinem Tode wurden jene politischen und geistigen Entwicklungen eingeleitet, die den Referenzrahmen für das Verständnis Jesu und des Urchristentums abgeben. Umgekehrt brachte die Regierungszeit Hadrians mit der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes und der Umwandlung Jerusalems in die römische Kolonie Aelia Capitolina nicht nur einen gravierenden Einschnitt für das antike Judentum, sondern markiert zugleich auch die Schwelle, an der die Epoche des Urchristentums in die Zeit der Alten Kirche überzugehen beginnt.
Hermeneutisch werden Darstellungen der neutestamentlichen Zeitgeschichte und Umwelt des Neuen Testaments gern in den Rahmen der christologischen Bekenntnisaussage von Gal 4,4–5 „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste“ gestellt. Diese theologische Geschichtsdeutung erweist sich spätestens dann als problematisch, wenn die Zeit Jesu und der Kirche einseitig als Erfüllung und Ende jüdischer Geschichte qualifiziert wird. Unsere Darstellung verzichtet auf geschichtstheologische Überhöhungen und begnügt sich damit, die Gegebenheiten des neutestamentlichen Zeitalters mit den Methoden der kritischen Geschichtsforschung zu rekonstruieren.