Читать книгу GEWALT - Bernd Müller-Kaller - Страница 4
ОглавлениеVorwort
Der Titel des Buches ist Gewalt. Wir wissen, sie hat natürlich verschiedene Formen, Seiten und Ursprünge. Aber eine Gewalt solchen Ausmaßes, solcher Dimension, die zu einer typischen Erscheinung in der Gesellschaft geworden war, die so tief in die menschlichen Schicksale eingriff, wie sie hier erzählt werden, war etwas besonders Grausames, Unheimliches. Der Aufwand, um diese Gewaltorgien zu inszenieren, ist unvorstellbar groß gewesen.
Die Orte dieser Gewalt sind heute weitgehend ausgelöscht. Aber die Erinnerungen unserer Zeitzeugen sind authentisch und unauslöschbar.
In dieser Vergangenheit, in der ohne Unterschied eingekerkert und gemordet wurde, war der GULAG der Anfang und das Ende. Dort verschmolz das private Leben im System hundertprozentig. Darum ist dieser Ort auch ein Ort für die Wahrheitssucher unter uns. Die große Wahrheit über diese Vergangenheit, über die vergangene DDR, über die vergangene "Große Union", über das vergangene "Weltfriedenslager", nur dort findet man sie wirklich.
Nun sind Gefängnis- und Haftgeschichten schon viele geschrieben worden. Was soll an diesem Buch neu, was soll das Besondere sein? Das Besondere liegt in der Auswahl dieser außergewöhnlichen Haftgeschichten, die man nirgendwo anders in dieser Kompaktheit lesen kann und in ihrer Strukturierung, in ihrer Verknüpfung durch die fiktiven Gespräche meiner Freunde über diese Geschichten, über die Hintergründe, über die Durchleuchtung des Geschehens, das einer "Roten Linie" folgt bis ans Ende. Das woanders sonst unsichtbare Spinnnetz, das Geflecht einer geheimen Welt der Gedanken, der Vorschriften, der Orientierungen und des Handelns wird sichtbar. Der Leser kann verstehen, warum in der vergangenen Welt das ganze Sein, jeder Mensch ohne Unterschied von der Gnade der Geheimdienste abhängig war und von heute auf morgen aus seiner Familie, seiner Arbeitswelt herausgerissen und in eine andere Welt, die Welt der Gefängnisse, die Welt der Lager eingewiesen werden konnte.
Dabei war alles so einfach geregelt in dieser vergangenen kommunistischen Welt, was manchen von uns heute in Kenntnis der unterschiedlichen und komplizierten Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Zuständigkeiten verwundern mag. Alles lag so wunderbar in einer Hand: die Verhaftung, die Untersuchung, die Anklage, die Verurteilung, die Verteidigung, die Vollzugshaft und die weitere "Betreuung" nach der Entlassung bis zum Tode.
Am Anfang steht der legendäre Name "Tscheka" und er steht auch am Ende dieser Geschichten als ein Weltreich unterging, denn auch jeder Stasi - Mann nannte sich stolz "Tschekist." Die Geschichte der Tscheka begann mit dem Zarenmord 1917 und endete für die Gefangenen und Gemarterten in den Herbsttagen 1989 in Berlin. Kein anderes Land, keine ausländische Macht war mit der Tscheka und ihren Methoden enger verbunden als wir Deutsche. Zugegeben, ein größerer Teil der Deutschen in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland hat das nicht erlebt. In diesem Buch aber kann es erlebt und nacherlebt werden.
Der Autor stellt vor allem Menschen aus Sachsen und Thüringen vor, er beginnt die oft weit zurückliegenden Erlebnisschilderungen der Haftschicksale von der Sicht des Jahres 1993 an zu schreiben und endet mit der Sicht auf diese Erlebnisse und Erinnerungen 2010. Zum großen Teil kennt der Autor die Zeitzeugen persönlich durch seine leitende Tätigkeit im Opferverband und durch Veröffentlichungen und Gespräche mit Hinterbliebenen. Er zitiert aus den angegebenen Quellen.
Der Autor kennt auch das zwanzigjährige Ringen der Opfer um angemessene Anerkennung und Entschädigung sowie die aktuelle Diskussion darüber.
Das Buch ist ein Erzählband. Es erzählt Geschichten, die miteinander verknüpfte sind durch adäquate Leiden, durch "Behandlung" ohne Menschenwürde. Es setzt keine Thesen als Lehrsätze. Es stellt fest, was Menschen persönlich erlebt haben und äußert, was sie darüber denken. Dennoch ist das Buch nicht losgelöst von der Geschichtswissenschaft. Zeitzeugenberichte und Geschichtswissenschaft sollten keine Gegensätze sein, sondern einander ergänzen und sich gegenseitig stützen. Die authentischen Berichte von Zeitzeugen sind das Fleisch der Theorien zur Geschichte. Daher will dieses Buch sich auch als populärwissenschaftliche Schrift verstanden wissen. Dass der Autor manchmal zu anderen Schlüssen kommt als die genannten Historiker, ist gewollt. Er grenzt das Geschehen ein in die Macht und das Agieren der Geheimdienste, die besser als Geheimpolizei bezeichnet werden sollten. Dem Autor ist dabei bewusst, dass sich die Geheimdienste als "Schild und Schwert" der sogenannten Partei verstanden, sich andererseits doch auch verselbständigten. Die Macht der Partei aber ging in Wirklichkeit nur von ganz wenigen einzelnen Diktatoren aus. Verhaftung, Verurteilung, Haft. Es geht um diese spezielle Welt. Es geht um die prinzipielle Einstellung zum Menschen dabei, um Gewalt und um Methoden, die dieses System begleiten bis ans Ende.
Wenn der MfS Major Steudtner in Bautzen gegenüber dem
Autor geäußert hat:
- "Was wollen Sie mit den Menschenrechten? Die
Menschenrechte sind ausgeleiert."
- "Was berufen Sie sich auf die Gesetze? Wir machen die
Gesetze, wir bestimmen das!"
- "Was wollen Sie von Honecker? Wir lassen uns von niemandem in unsere Angelegenheiten einmischen!" - dann ist das doch so gewesen: Erst wer diese Sätze, diese Gedankengänge verstanden hat, dem wird klar, welche Konsequenzen das für das individuelle Schicksal hatte.
Bernd Müller-Kaller