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Meine Erfahrungen mit Mitbestimmung in der Arbeitswelt

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In einer Gurkenfabrik arbeitete ich Akkord am Fließband. Mir wurde oft befohlen, das und das zu tun. Ich wurde oft herumkommandiert. Auch der Arbeit war ich hilflos ausgeliefert: Ich verlor mich. Und verlor sogar mein Ich. Ich konnte nicht anders: ich musste mich mit sehr viel Alkohol und viel Essen betäuben. Hätte ich diese Knochenarbeit noch länger gemacht, hätte ich mich noch mit Rauchen narkotisieren müssen. Und hätte mich mit Alkohol zugeschüttet. Nach sechs Wochen ging es mir psychisch so schlecht, dass ich dort aufhören musste.

Dann arbeitete ich in einem Hotel als Gehilfe des Hausmeisters. Auch hier nichts, wo ich mitbestimmen oder selber bestimmen durfte. Dort sagte mir ein älterer Mann: Es gibt viele Männer, die müssen auf Montage, die sehen 12 Wochen lang die Frau nicht. Auch hier herrschte ein enormer Zeitdruck und Leistungsdruck. So sehr, dass der Hausmeister einen Herzinfarkt erlitt und verstarb. Da bekam ich vom Arbeitssamt einen anderen Job zugewiesen. Ich glaube, das waren meine unsichtbaren Helfer. Ich hatte einfach Glück.

Meine Arbeitsstelle beim Tennisclub als Landschaftspfleger/ Hausmeister besteht aus 8O% Mitbestimmung und Eigenregie und nur 2O% aus Fremdbestimmung. Ich kann meine Arbeitszeiten selber bestimmen. Es ist eine freie Zeiteinteilung. Und welche Arbeiten wann und an welchem Tag ich mache, kann ich auch selber hier bestimmen. Viele haben hier Mitbestimmung. Deshalb ist hier ein sehr freundlicher und gemeinschaftlicher Umgang miteinander möglich.

Fast wie eine große Familie. Wenn hier mal ein böses Wort fällt, muss schon etwas besonderes Schweres vorgefallen sein. Seit ich ein gesundes Arbeitsverhältnis habe mit meiner Mitbestimmung und wo ich hier Vieles selber mitgestalten kann, habe ich auch ein viel gesünderes Verhältnis in meiner Lebensweise. Und ein gesünderes Verhältnis zu meinem Körper. Ich brauche keinen Alkohol mehr um mich zu betäuben. Auch keine Zigaretten. Und kaum Süßigkeiten. Ich war ein Sugarholic. Und esse sogar kein Fleisch. Ich bin nicht mehr getrieben und ferngesteuert wie ein Spielzeug-Rennauto, das nur in wilder Hektik automatisch hin und herflitzt. Nach meiner Arbeit bin ich nicht ausgelaugt. Und kann noch so Einiges tun. Nach so einer mitbestimmten Arbeit, ich kann noch für mich Sport treiben. Ich habe meinen eigenen, meinen inneren Antrieb: Ich male, schreibe, spiele Gitarre und singe in einer Gruppe. Ich bin mir sicher: Hätte ich kein mitbestimmtes Arbeitsverhältnis, ginge das Alles nicht so für mich.

Es fällt mir sehr leicht, morgens aufzustehen und mit dem Fahrrad gemütlich zu meiner Arbeit zu fahren. Das war nicht immer so. Es brauchte früher einen Riesenwillensaufwand, aus dem Bett aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Inzwischen habe ich eine Leichtigkeit. Ich sehe die vielen verbitterten und sehr unzufriedenen Autofahrer zur Arbeit fahren. Die mit soviel Widerwillen und unendlichem Kraftaufwand sich tagtäglich zur Arbeit zwingen. Und Fußgänger, die wie bleiche Gespenster dahinvegetieren. Die voller Ängste sind, zur Arbeit morgens hasten und hetzen und so sehr getrieben sind. Die um ihr psychisches Überleben kämpfen. Die versuchen, sich an einer Zigarette festzuhalten. Ich hoffe, dass auch sie einmal Erfahrungen machen mit mitbestimmten Arbeitswelten und einer mitbestimmten Umwelt. Wo sie nicht Knecht sein müssen. Auf meinem Weg zu meiner Arbeit lausche ich ehrfürchtig dem Zwitschern der Vögel. In dieser harten Zeit.

Danke, Leben!

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