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Kapitel 1

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Eduardo steuerte das Kanu an die Baumkrone eines Urwaldriesen, der zu dieser Jahreszeit bis zu den unteren Ästen im Wasser stand. Dort warfen sie ihre Schnüre aus und bald lagen die ersten Piranhas und Salmler in ihrem Boot.

»Das reicht für heute.«

Erst jetzt, da der Fang das Abendessen sichern würde, fing ihr Vater an zu reden und Jaíra spürte, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte.

»Letzte Woche ist ein Lehrer in der Missionsstation angekommen.«

Jaíra interessierte das wenig. Hauptsache, sie konnte mit ihrem Vater auf dem Fluss und im Wald sein.

»Er will, dass alle in die Schule gehen.«

»Ich will nicht, ich will lieber mit dir zusammen sein.« Sie schmollte.

»Du gehst zur Schule und damit basta!«, beendete ihr Vater das Gespräch.

Jaíra konnte das nicht verstehen. Warum sollte sie den Tag in einer Schule verbringen? Ihr Vater hatte ihr alles beigebracht, was man zum Leben im Wald und am Fluss brauchte. Er war ein guter Lehrer und schließlich konnten die Fische auch nicht lesen.

Noch immer schmollend steckte sie der Vater am nächsten Tag mit ihren beiden älteren Geschwistern Raimundo und Juçara in das Kanu und sie fuhren den Fluss hinunter zu der kleinen Ansiedlung, in der die Schule errichtet worden war. Vor dem hellblau getünchten Gebäude warteten etwa dreißig Kinder aus dem Dorf und der Umgebung, die Jaíra alle kannte.

Jaíras Vater führte sie mit ihren Geschwistern in das Gebäude, in dem einige Männer und Frauen vor einer großen Tafel standen und redeten. Sie sah einen großen Mann. Staunend starrte sie auf die helle Haut und die blonden Haare. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

»Oi, Eduardo«, begrüßte der große Fremde Jaíras Vater und die beiden klopften sich auf die Schultern.

»Guten Tag, Kinder«, sagte der große Mann zu ihnen. »Wir haben etwas zu besprechen, wartet bitte vor der Schule, bis ich euch hereinrufe.«

Jaíra und ihre Geschwister wurden hinausgeschickt. Aufgeregt redeten sie über den seltsamen Mann.

»Der kommt bestimmt aus São Paulo«, vermutete Ronaldo, ein pickliger Junge, der mit seiner Familie am anderen Ufer des Flusses wohnte.

Ibiri war, anders als Jaíra, von der Schule begeistert.

»Meine Mutter ist ganz stolz auf mich, dass ich lesen lerne. Sie freut sich schon darauf, dass ich ihr dann immer aus der Bibel vorlesen kann«, sagte sie gleich.

Wie Ibiri waren die meisten Kinder froh, eine Schule zu besuchen. Es war etwas Besonderes, nur nicht für Jaíra.

Nach einiger Zeit wurden sie in den Saal gerufen und der Fremde trat nach vorne an die Tafel.

»Hallo Kinder. Zuerst möchte ich mich vorstellen. Ich heiße Hans Ferber und komme aus Deutschland.«

Neugierig geworden sah Jaíra zu, wie der Mann eine große Tafel herunterzog, auf der bunte Flecken inmitten einer blauen Farbe waren.

»Das hier ist Brasilien.« Er zeigte auf einen der Flecke. »Und das ist der Amazonas, hier der Rio Negro. Wir sind ungefähr hier.«

Staunend verfolgte Jaíra die Geschichten, die ihnen der Mann dort vor der großen Tafel erzählte. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie eine Landkarte, sah, dass die Welt nach der letzten Biegung des Flusses nicht zu Ende war, sondern erfuhr, dass ihr Fluss viele, viele Kilometer weiter in ein großes Meer floss, das Atlantik genannt wurde. Noch nie hatte sie von Europa oder Deutschland gehört. Jetzt sah sie dies alles. So hatte sie sich die Schule nicht vorgestellt. Ab sofort wollte sie gerne in die Schule gehen, um noch mehr neue und interessante Dinge zu erfahren. Das war unglaublich, was der Lehrer berichtete, und sie war traurig, als der Unterricht zu Ende war.

Jaíra interessierte sich für alles. Ungeniert blieb sie oft nach dem Unterricht bei Hans Ferber oder besuchte ihn nachmittags, um ihren Wissensdurst zu stillen. Hans Ferber schloss das Mädchen, das immer alles wissen wollte und keine Ruhe gab, in sein Herz.

»Danke für den Pacu.« Hans bestaunte den großen Fisch, den Jaíra ihm mitgebracht hatte.

»Den habe ich selber gefangen. Soll ich ihn dir braten?«

»Das ist eine gute Idee. Während du das Essen machst, kann ich an meinem Brief weiterschreiben.« Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.

Jaíra schuppte den Fisch und nahm ihn aus. Sie schnitt die Haut an den Seiten ein, rieb Salz und Pfeffer hinein und träufelte zum Schluss Limonensaft darüber. Während der Fisch in der Pfanne brutzelte und der Reis kochte, ging Jaíra zu Hans an den Schreibtisch und sah interessiert auf das beschriebene Blatt.

»An wen schreibst du?«

»An meine Eltern.«

»Ist das deutsch?« Neugierig versuchte Jaíra die Schrift zu enträtseln.

»Ja, meine Eltern können kein portugiesisch.«

Jaíra kam eine Idee. »Kann ich auch Deutsch lernen?«

Überrascht sah Hans das schlaksige Mädchen an, das ihn mit großen Augen bittend anschaute. »Willst du wirklich? Es ist nicht einfach. Hast du überhaupt Zeit, nach der Schule noch zu bleiben?«

»Ich kann mit einem anderen Kanu in die Schule kommen. Dann muss ich nicht mit meinen Geschwistern zurück und habe Zeit.« Jaíras Gesicht wurde vor Eifer ganz rot.

Ab sofort blieb Jaíra jeden Tag bei Hans und lernte. Am Anfang fiel es ihr schwer, die Worte richtig auszusprechen, bald machte sie jedoch Fortschritte. Sie spürte, dass es auch ihrem Lehrer Spaß machte, sein Wissen an sie weiterzugeben.

Hans hatte ein Kinderbuch auf den Tisch gelegt und Jaíra las den Text. Sie verstand fast alles.

»Wenn du so weitermachst, sprichst du bald perfekt«, lobte er sie. »Dann kann ich dich später einmal mitnehmen, wenn ich nach Deutschland fahre«, versprach er lachend.

»Wirklich?« Stolz leuchteten ihn ihre großen schwarzen Augen an.

Die Sonne versank gerade hinter den hohen Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses. Das Abendrot verzauberte den Horizont in alle möglichen Rottöne, die immer dunkler wurden, je mehr die große Scheibe der Sonne im Fluss versank. In der Ferne bewegte sich ein Punkt auf dem ruhig dahinfließenden Wasser.

»Na, da kommt ja endlich deine Tochter.« Manara blickte vorwurfsvoll zu ihrem Mann.

»Dass du dir immer so viele Gedanken machst«, antwortete er und legte den Arm um die Taille seiner Frau. »Sie ist vorsichtig und kennt sich aus. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Eduardo kannte seine Tochter. Oft streiften sie gemeinsam wochenlang durch den Urwald, notfalls konnte sie allein in der Wildnis übernachten. Bei ihr zeigte sich wie bei ihm das Erbe seines Großvaters, der noch ein richtiger Indianer gewesen war.

»Ich mache mir mehr Sorgen um ihre Zukunft.« Er drückte Manara fest an sich. »Was soll sie hier im Wald mit ihrem ganzen Wissen? Es macht ihr solchen Spaß zu lernen. Soll sie später auch am Fluss leben, ohne Zukunft, mit vielen Kindern? Das macht mir Angst.«

»Lass uns erst mal ans Ufer gehen und ihr helfen, das Kanu an Land zu ziehen.« Manara löste sich aus seiner Umarmung und ging zum Fluss. Eduardo folgte ihr.

Mit dem letzten Tageslicht stieß die Spitze des Kanus ans Ufer. Stolz stieg Jaíra aus, ihre Augen strahlten, sodass ihr die Mutter nicht mehr böse sein konnte. Außer Atem stand sie vor ihnen.

»Heute war es ganz toll. Wir haben angefangen, ein Buch zu lesen, und Hans hat mir versprochen, mich einmal mit nach Deutschland zu nehmen.«

»Musst du deswegen so spät nach Hause kommen?«, schimpfte die Mutter.

»Es ist doch noch gar nicht dunkel«, entschuldigte sich Jaíra. »Außerdem ist das Buch so schön, ich konnte nicht aufhören. Hans hat mir ein Bier für dich mitgegeben.« Verschmitzt sah sie ihren Vater an, als sie ihm die Dose in die Hand drückte.

»Das ist Bestechung«, lachte der Vater.

Sie gingen die Treppe hoch auf die Plattform über dem Ufer, wo das Haus, geschützt vor dem jährlichen Hochwasser, stand. Es hatte nur einen einzigen Raum, dessen hinterer Teil durch eine Stoffdecke abgeteilt war, hinter der Eduardos und Manaras Hängematten hingen. In dem Raum brannte bereits eine Kerze, die ein schummriges Licht verbreitete. Manara wärmte die Feijão, die schwarzen Bohnen, zu denen sie Reis gekocht hatte. Dazu gab es wie immer Fisch. Hungrig setzte sich Jaíra zu ihren Geschwistern an den Tisch. Nachdem sie fertig war, legte sie sich in ihre Hängematte und schlief gleich ein.

Jaíra veränderte sich, aus dem kleinen Mädchen wurde eine Frau. Ihr Körper rundete sich und langsam wuchsen ihre Brüste. Ihre ältere Schwester Juçara hatte das längst hinter sich und so war Jaíra nicht überrascht, als sie eines Morgens Blut in ihrer Hängematte entdeckte. Manara drückte ihre Tochter fest an sich, als sie ihr von der Neuigkeit berichtete. Hinter einem Lächeln verbarg sie ihre Sorgen, ihr war nicht entgangen, dass die Jungen ihre Tochter anstarrten und versuchten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Mit leisem Plätschern tauchte das Paddel in das dunkle Wasser, langsam glitt das Kanu über den Fluss. Ein Boto, einer der kleinen Flussdelphine, tauchte dicht neben ihr aus dem Wasser und Jaíra musste an die Geschichte denken, dass sich Botos ab und zu in schöne Männer verwandeln, um Mädchen und Frauen zu verführen. Sie folgte ihm, wobei sie wünschte, dass er sich in ihren Traumprinzen verwandeln würde.

Der Boto schwamm flussaufwärts und verschwand schließlich in der Bucht am rechten Ufer, an der sie sonst immer vorbei gepaddelt war, zu viele stachelige Bäume wuchsen dort. Immer noch schwamm der Boto voraus, so als wollte er sie führen. An einer Stelle, an der sich die Baumkronen im hochstehenden Wasser verzweigten, tauchte er. Hinter dichtem Blattwerk hörte Jaíra ihn wiederauftauchen. Sie kämpfte sich durch die Äste, die ihre Haut zerkratzten und jede Menge Krabbeltiere fielen in ihr Boot. Endlich war sie durch und erreichte wieder freies Wasser.

Am anderen Ende mündete ein kleiner Seitenarm. Als sie dort den Boto auftauchen sah, folgte sie ihm weiter, immer noch an den verwunschenen Prinzen glaubend. Hinter einer Kurve erstarrte sie. Der Fluss hatte sich zu einem See erweitert, riesige Bäume standen mit ihren Brettwurzeln im Wasser, Palmen säumten das sanft ansteigende Ufer. Ein Tukan flog an der grünen Wand entlang und verschwand zwischen den Bäumen, mehrere Morpho-Falter, deren blaue Flügel in der Sonne schillerten, tanzten in der Luft.

Schnell legte sie an und stand staunend am Ufer. Dieser Platz gefiel ihr, sie hatte das Gefühl, als gehöre sie hierher. Diese Stelle würde ihr Geheimnis bleiben, niemandem würde sie davon erzählen.

Jaíra träumte wieder an ihrem geheimen Platz. Sie hatte sich aus dünnen Bäumen und Palmwedeln eine kleine Hütte gebaut und lag in der Hängematte, die sie dort aufgehängt hatte. Schwärmerisch glitt ihr Blick über das Wasser. Sie stellte sich vor, hier mit ihrer zukünftigen Familie zu wohnen.

Bisher konnte sie sich für keinen Jungen interessieren, obwohl sie die Annäherungsversuche der Jungen bemerkt hatte und um die Schönheit ihres Körpers wusste.

Vor ein paar Tagen hatte sie mit einigen Freunden zusammengestanden. Neckisch und verspielt hatte sie sie unbewusst gereizt, bis Fabio sie schließlich an sich gedrückt und geküsst hatte. Sie war überrascht und so ließ sie es geschehen. Danach hatte sie sich aus seinen Armen befreit und war unter Gelächter weggelaufen. Später, zu Hause, war sie wie elektrisiert gewesen und hatte die Nacht unruhig geschlafen. Oft beobachtete sie Juçara, wie diese ihre Freunde küsste und bestürzt hatte sie sogar gesehen, dass sie es zuließ, dass die Jungen unter ihr Top griffen und sie dort streichelten.

Während sie weiter an ihren ersten Kuss dachte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und sie spürte ein angenehmes, aufregendes Kribbeln in ihrem Bauch. Unwillkürlich dachte sie an die Geräusche, die sie hinter dem Vorhang der Eltern hörte. Erst gestern, als sie wieder über ihren ersten Kuss nachdachte, hatte sie ihre Mutter laut stöhnen gehört; es musste einfach schön sein.

Jaíra trat aus dem Schuppen, in dem sie Farinha und Paranüsse abgegeben hatte. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie Hans, der vor Sandros Bar an einem der kleinen Tischchen saß. Jaíra winkte und ging zu ihm hinüber. Ihr schlanker, brauner Körper steckte in einem gelben Top und knappen Shorts. Hans beobachtete sie, während sie die staubige Straße überquerte und auf ihn zukam.

»Boa tarde - Guten Tag, Hans.«

»Hallo Jaíra. Möchtest du eine Cola?«

»Gerne.«

Jaíra setzte sich. Ihre Einkaufstasche stellte sie auf den Boden, wobei Hans in ihrem Ausschnitt die Ansätze ihrer kleinen Brüste sehen konnte.

»Ist etwas?« Jaíra bemerkte, dass Hans sie anstarrte.

»Nein, es ist alles in Ordnung. Als ich dich über die Straße gehen sah, musste ich daran denken, wie ich dich kennengelernt hatte. Damals warst du acht Jahre alt und jetzt wirst du in ein paar Monaten sechzehn. Aus dem kleinen Mädchen ist eine fast erwachsene Frau geworden und eine hübsche dazu.«

»Nichts ist in Ordnung«, dachte er. »Ich sitze hier, starre ein sechzehnjähriges Mädchen an und mache mir Gedanken, die ich mir nicht machen dürfte.« Nervös fuhr er sich durchs Haar.

Jaíra freute sich über das Lob und darüber, ihn zu treffen. Sie sahen sich nicht mehr so oft, nachdem sie mit der Schule fertig war. Hans hatte ihr Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht, ihr Deutsch war sehr gut geworden. Einmal im Monat kam sie noch, und er unterrichtete sie in Dingen, die er in der Schule nicht lehrte, aber Jaíra war auch keine normale Schülerin.

»Ich wundere mich, dass du mit dem Deutschlernen durchgehalten hast«, lenkte er ab.

»Es hat mir einfach Spaß gemacht. Außerdem möchte ich mich mit den Leuten unterhalten können, wenn du mich einmal mitnimmst.«

Hans stach es ins Herz. Er erinnerte sich an sein damals gegebenes Versprechen, von dem er nicht wusste, ob er es halten konnte.

»Du denkst immer noch daran?«

»Klar, ich denke immer daran, mal von hier wegzukommen und all das mit eigenen Augen zu sehen, wovon du immer erzählt hast.«

»Ich hoffe auch, dass es mal klappt und ich dich mitnehmen kann, bis jetzt bin ich selber in den letzten Jahren nur bis nach Manaus gekommen«, lachte er.

»Ich meine ja später, in ein paar Jahren, wenn ich älter bin.« In ihren Augen blitzte es.

»Hast du Farinha hergebracht?«, wechselte Hans das Thema.

»Ja, gestern haben wir wieder den ganzen Tag gearbeitet und die Farinha geröstet.«

Jaíra schüttelte sich, als sie an die Herstellung der Farinha dachte. Zwei Tage lang hatten sie und ihre Geschwister Maniokwurzeln geschält und gerieben, um schließlich das Mehl in einer großen Pfanne zu rösten.

Sie trank ihr Glas aus. »Ich muss jetzt weiter, wenn ich den Reis nicht bald zu Hause abliefere, hat Pai heute Abend nichts zu essen und dann gibt es Ärger.«

Sie stand auf, packte ihre Sachen und ging zum Fluss, um nach Hause zu paddeln.

Nachdenklich sah Hans ihr nach.

»Noch träumst du. Was wird in ein paar Jahren aus dir geworden sein? Viele Mädchen in deinem Alter sind bereits schwanger. Ich hoffe, dass du nicht so sein wirst«, dachte er und wurde eifersüchtig auf den Jungen, der sie einmal besitzen würde.

Das ganze Dorf hatte mitgeholfen. Jeder steuerte seinen Teil bei, damit es ein schönes Fest werden würde. Die Männer hatten Bretter zu Bänken und Tischen zusammengenagelt, die Frauen gekocht und gebacken. Es war der Jahrestag der Schule und Hans hatte wie jedes Jahr an diesem Tag ein Fest organisiert. Alle aus der Umgebung waren gekommen, das Ufer war voller Kanus, die Frauen, Männer und Kinder hatten ihre besten Sachen angezogen. Selbst die ganz jungen Mädchen kamen geschminkt, mit lackierten Fingernägeln und dickem Lippenstift.

Unruhig stand Jaíra inmitten der Menge. Seit dem Kuss von Fabio war sie nicht mehr im Dorf gewesen. Aufgeregt hielt sie nach ihm Ausschau, konnte jedoch weder ihn noch jemanden aus seiner Familie entdecken.

»Wartest du auf jemanden?«

Ertappt schrak Jaíra zusammen, sie hatte zu sehr nach Fabio gesucht, um Hans zu bemerken, der jetzt neben ihr stand.

»Nein, nein, eigentlich nicht«, antwortete sie.

Sein Blick musterte Jaíra. Sie war geschminkt, trug ihren kürzesten Rock und ein Top, das weit über dem Bauchnabel endete.

»Pass auf dich auf«, warnte Hans sie.

Jaíra wollte sich nicht warnen lassen. Sie war neugierig, das Kribbeln in ihrem Bauch war zu stark. Enttäuscht ging sie mit ihren Geschwistern zu dem Platz vor der Schule, wo erst Hans und danach Padre Laurindo, der Pfarrer des Bezirkes, eine kurze Ansprache hielten.

Jemand stieß sie an. Als sie sich umdrehte, stand Fabio hinter ihr und grinste breit. Jaíra errötete verlegen.

»Ich habe dich lange nicht im Dorf gesehen.«

»Ich musste zu Hause helfen. Bist du eben erst gekommen?«

»Ja, meine Schwestern wurden mal wieder nicht fertig.« Er verdrehte die Augen.

Jaíra genoss die Anwesenheit Fabios; er ging nicht von ihrer Seite. Später, als aus einer Stereoanlage laute Musik dröhnte, tanzten sie zusammen. Nachdem die Dämmerung eingesetzt hatte, erhellten die wenigen Straßenlaternen die Nacht.

»Ich hole etwas zu trinken.« Fabio ging und tauchte bald darauf mit zwei Dosen Bier wieder auf.

»Komm, wir setzen uns.« Er nahm ihre Hand und zog sie auf eine Bank im Schatten.

»Trink doch«, forderte er sie auf und Jaíra nahm einen Schluck aus der Dose. Sie schüttelte sich.

»Wie könnt ihr Männer nur so ein Zeug trinken?« Angewidert verzog sie ihr Gesicht, sie hatte jedoch Durst und so schluckte sie das bittere Getränk hinunter.

Fabio legte seinen Arm um ihre Schultern und sah sie an.

»Warum bist du weggelaufen?«

Jaíra fühlte heiß das Blut in ihren Kopf schießen.

»Ich war erschrocken«, antwortete sie verlegen.

Fabio lachte und rückte näher an sie heran.

»Aber gefallen hat es dir?« Sein Gesicht näherte sich dem ihren.

»Ich weiß nicht«, stotterte sie.

»Willst du es noch einmal ausprobieren?«

Seine Lippen berührten die ihren. Dieses Mal war sie darauf vorbereitet, insgeheim hatte sie sich diesen Moment erhofft. Sie öffnete den Mund und Fabios Zunge berührte vorsichtig die ihre.

Jaíra fand Gefallen an dem Spiel. Fabios Hände streichelten sie und ihr wurde heiß und kalt, als er wie unbeabsichtigt ihren Busen berührte. Sofort war da wieder dieses komische angenehme Gefühl in ihrem Unterleib, das sich über den ganzen Körper ausbreitete. Keck steckte er kurz darauf seine Hand unter ihr Top. War es der Alkohol oder überschwemmten sie einfach die Gefühle? Anstatt ihm auf die Finger zu schlagen und wegzulaufen, ließ sie es geschehen.

Fabio nahm ihre Hand und zog sie weiter fort zu Paulos altem Schuppen, der seit Langem nicht mehr benutzt wurde und langsam verfiel. Hinter dem Lagerhaus zog er zwei Bretter auseinander und führte sie hinein. Es war fast stockdunkel, doch Fabio schien sich hier auszukennen. Er zog sie auf den Boden, auf dem mehrere Decken lagen. Seine Hände wurden frecher. Er schob ihren hochgerutschten Rock noch höher und streichelte sie zwischen den Beinen. Es waren fremde und angenehme Gefühle, die sie spürte. Ihr Unterleib zog sich zusammen und brannte, sie vergaß sämtliche Bedenken, als er ihr Höschen herunterzog und sie weiter an ihrer intimsten Stelle streichelte. Seine Berührungen waren schön und taten gut, sie sollten gar nicht aufhören. Kurz versteifte sich ihr Körper, als sie merkte, dass Fabio ebenfalls seine Hose auszog und sie sein hartes Glied an ihrem Körper spürte. Er spreizte ihre Beine und legte sich auf sie.

Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Körper, als er sie zur Frau machte.

Langsam bewegte sich Fabio in ihr und Jaíra stöhnte überwältigt von der Flut der Gefühle. Seine Bewegungen wurden immer schneller, bis er auf ihr zusammensank. Lange küssten und streichelten sie sich, bis sie sich schließlich anzogen und wieder unter die Tänzer mischten.

Langsam wurden es immer weniger Leute. Jaíra und Fabio saßen gerade wieder auf der Bank und küssten sich, als sie von Juçara entdeckt wurden.

»Was macht ihr denn da?« Sie stand vor ihnen und starrte sie an. »Pai sucht dich. Du sollst sofort zu Tante Socorro kommen.« Sie sah die beiden an. »Euch hat es ganz schön erwischt!« Dann drehte sie sich um und verschwand.

Jaíra wurde von Fabio noch ein Stück begleitet. Mit klopfendem Herzen trat sie ins Haus. Was wäre, wenn Juçara gepetzt hätte? Nicht auszudenken! Ihr Verdacht war unbegründet, ihre Schwester hatte dieses Mal den Mund gehalten.

Jaíra hatte Manara überredet, dass sie bei ihrer Tante Socorro im Dorf übernachten durfte, endlich würde sie wieder Gelegenheit haben, Fabio zu treffen.

Nachdem sie am Ufer ihr Kanu an Land gezogen hatte, legte gerade das Flussschiff an. Ronaldo, der mit ihr zur Schule gegangen war, arbeitete auf dem Schiff und rief sie.

»Hallo Jaíra, hier ist Post und ein Paket für den Lehrer. Kannst du sie mitnehmen? Paulo ist noch nicht da, um die Sachen abzuholen, und wir legen gleich wieder ab.«

»Klar, ich gehe sowieso zu ihm.« Sie nahm das Paket und die Briefe.

»Oi Hans. Ich habe deine Post vom Schiff mitgebracht.«

Sofort stand Hans auf, gab ihr schnell zwei flüchtige Küsschen auf die Wangen und stürzte sich auf die Briefe, deren Absender er schnell überflog. Während er sich setzte und die Briefe las, erinnerte er sich an seinen Besuch.

»Wenn du etwas essen willst, nimm dir.«

»Ich habe schon bei ‚Tia’ Socorro gegessen«, antwortete sie und hob die Kaffeekanne hoch. »Soll ich Kaffee kochen?«

»Das wäre prima«, antwortete er und vertiefte sich gleich wieder in den angefangenen Brief. Sein Gesicht hellte sich auf.

»Mensch Jaíra, es hat geklappt.«

Er stand auf, stürzte auf sie zu, drückte sie ganz fest und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

»Was ist denn mit dir los?«, wunderte sie sich.

»Ich habe bereits lange den Gedanken, hier im Dorf eine Krankenstation zu errichten. Seit ich angekommen bin, ist das Dorf viel größer geworden, ebenso das nächste Dorf flussabwärts. Oberhalb gibt es die kleine Siedlung und da wäre es gut, wenn hier ein Krankenhaus wäre. Ich habe deshalb um Unterstützung gebeten und man hat mir zugesagt, zu helfen. Das wird zwar alles einige Zeit dauern, allerdings ist es schon mal ein Anfang.«

Er war begeistert. Schnell las er die anderen Briefe, um zum Schluss das Paket auszupacken. Jaíra hatte inzwischen die Kaffeekanne, Zucker und zwei Tassen auf den Tisch gestellt.

»Stell dir vor, das Paket von meinen Eltern ist über vier Wochen unterwegs gewesen. Endlich kann ich dir dein versprochenes Geburtstagsgeschenk geben.«

Er reichte ihr ein kleines, in buntes Papier eingeschlagenes Päckchen, das sie vorsichtig öffnete, um das Papier nicht zu beschädigen.

Zum Vorschein kam ein kleines Büchlein. »Der kleine Prinz« las sie. Beim Lesen des Autors weigerte sich ihre Zunge, die Worte auszusprechen und sie lachten darüber.

»Ich glaube, dass es dir gefällt. Es ist eine Geschichte über Freundschaft und Liebe.«

Er ging zu Jaíra, legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr fest in die Augen.

»Pass bitte auf, dass du nicht schwanger wirst. Es wäre zu schade.«

Jaíras Kopf wurde blutrot.

»Ich möchte dir helfen.«

Er lächelte sie an und sein Kopf hatte ebenfalls eine rote Farbe angenommen.

»Es ist schwer für mich, als Mann mit einem jungen Mädchen, oder besser, einer jungen Frau darüber zu reden, ich glaube jedoch, dass wir uns lange genug kennen und genug Freunde sind, um uns über solche Dinge zu unterhalten. Was in deinem Körper vor sich geht, haben wir durchgenommen. Das Seelische ist dabei vielleicht etwas zu kurz gekommen.«

Er erklärte Jaíra noch einmal den weiblichen Zyklus und zeigte ihr, wie sie die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage errechnen konnte.

»Hundertprozentig ist die Sache zwar nicht, aber besser als gar nichts.«

Bald verloren sie alle Scheu und sprachen offen und ohne Hemmungen miteinander.

»Und du?«, wollte Jaíra wissen.

»Ab und zu eine Liebelei. Auch ein alter Lehrer braucht manchmal ein bisschen Zärtlichkeit.«

»Du bist doch noch nicht alt.«

»Na ja, ich werde dieses Jahr vierzig.« Hans verdrehte lachend die Augen.

»Wollen wir ein bisschen in deinem Buch lesen?«

Hans hatte Jaíra richtig eingeschätzt, die Geschichte gefiel ihr auf Anhieb.

Beim Abschied hielten sie sich lange im Arm.

»Danke, dass du mein Freund bist.« Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund.

Nachdenklich schaute er ihr hinterher. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«

Am Abend traf sie sich mit Fabio, der sie gleich zu Paulos Schuppen zog. Seine Küsse und Zärtlichkeiten hatten diesmal einen bitteren Beigeschmack. Jaíra hatte lange Zeit gehabt, über die Worte von Hans nachzudenken. Sie hatte Angst und Fabio merkte es.

»Was ist los mit dir?«

Sie befreite sich aus seinen Armen und sah ihn an.

»Was würdest du machen, wenn ich ein Kind bekäme?«

»Bist du schwanger?« Fabio stand der Mund offen.

»Ich hoffe nicht, ich habe Angst, dass es passiert.«

»Du bist zu jung, da passiert nichts«, meinte er naiv.

»Na und, Micaela ist zwei Jahre jünger als ich und sie ist schwanger.«

»Manchmal passiert es halt, aber nicht bei dir. Jetzt komm schon.« Ungeduldig zog er sie zu sich.

Fabio kam ihr plötzlich sehr dumm vor.

»Lass mich«, herrschte sie ihn an.

Sie riss sich los und rannte weg. Verständnislos starrte Fabio hinter ihr her.

Jaíra saß auf der Veranda vor dem Haus und schaute in das Licht einer Kerze. Sie hatte Angst bekommen. Was, wenn sie wirklich schwanger wäre?

Manara, die ihre Stimmung bemerkte und sich Sorgen machte, setzte sich neben sie.

»Was ist los mit dir?«, fragte sie vorsichtig.

»Nichts, was soll denn sein? Es ist alles in Ordnung«, log sie.

»Ich bin deine Mutter, ich fühle, dass da etwas ist.«

Jaíra schüttelte energisch den Kopf. Nachdenklich sah Manara ihr nach, wie sie aufstand und hinter dem Haus verschwand.

Spät in der Nacht kam Eduardo nach Hause. Manara hatte auf ihn gewartet, die anderen lagen in ihren Hängematten und schliefen, nur Jaíra war noch wach. Sie hörte, wie Eduardo Manara küsste.

»Bevor ich herkam, war ich noch kurz im Dorf. Ich habe dort Hans getroffen und mit ihm gesprochen.«

Jaíra rutschte das Herz in die Hose und sie machte sich ganz klein. Hatte Hans sie verraten? Zitternd lauschte sie.

»Es gibt gute Neuigkeiten«, sagte er und Jaíra atmete erleichtert auf. »Hans hat versucht, dass wir ein Hospital im Dorf bekommen. Er sagt, dass es gar nicht so schlecht aussieht.«

Schnell aß er eine Kleinigkeit und ging später mit Manara hinter den Vorhang. Kurz darauf hörte Jaíra die Geräusche, die sie jetzt ebenfalls kannte und wusste, was sie bedeuteten.

Zum ersten Mal freute sich Jaíra, dass ihr Vater das ganze Kanu voller Maniokwurzeln mitgebracht hatte, die jetzt verarbeitet werden mussten. Mit Feuereifer war sie dabei, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Am Abend fiel sie todmüde in ihre Hängematte und in dieser Nacht hatte sie keine bösen Träume.

Jaíra wurde immer aufgeregter und ängstlicher. Beinahe eine Woche waren ihre Tage überfällig. Lustlos saß sie neben Juçara auf der Veranda und schälte, wie ihre Schwester, Maiskolben, die ihre Mutter später rösten würde, als sie ein nur allzu bekanntes Ziehen in ihrem Unterleib bemerkte. Möglichst unauffällig ging sie ins Haus und überglücklich stopfte sie eine Binde in ihre Shorts. Erleichtert setzte sie sich neben ihre Schwester und nahm einen neuen Maiskolben in die Hand. Wissend grinste Juçara sie an.

»Noch mal Glück gehabt?«

Jaíra konnte nicht anders, eigentlich hatte sie sich mit Juçara nie richtig verstanden, ständig stritten sie sich, doch jetzt brauchte sie jemanden, mit dem sie reden konnte und so erzählte sie ihrer Schwester alles.

»Glaub ja nicht, dass du die Einzige bist, der so etwas passiert ist. Mir ging es auch schon so. Das Blöde daran ist nur, dass es so viel Spaß macht.«

Erleichtert lachten sie laut und lange. Von nun an verstanden sich die beiden, die sich bisher immer nur gestritten hatten. Sie redeten über alles, besonders über die Jungen. Erstaunt hörte Jaíra, dass ihre Schwester bereits mehrere Liebschaften gehabt hatte und auch Paulos alten Schuppen kannte.

Juçara wusch gerade Wäsche, als Jaíra aus dem Dorf zurückkam. Schon von Weitem spürte sie, dass mit ihrer Schwester etwas nicht stimmte, denn ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Liebeskummer?«, riet sie, als sich Jaíra neben sie setzte und wütend auf ein Top einschlug. Traurig nickte sie.

»Fabio geht jetzt mit Ibiri. Ich habe sie zusammen gesehen. Blöder Kerl. Ich glaube, er konnte nicht verstehen, dass ich nicht immer mit ihm in Paulos Schuppen gegangen bin, wenn er wollte.«

»So sind die Männer. Wenn du sie nicht lässt, gehen sie früher oder später. Übrigens auch dann, wenn du sie lässt.« Sie lachte.

»Nicht nur das, es war schon länger nicht mehr in Ordnung zwischen uns.«

»Sei froh, dass du ihn los bist, bald kommt ein anderer.«

Sie grinsten sich an. Juçara tauchte ihre Hand ins Wasser und spritzte ihre Schwester nass. Lachend sprang Jaíra ins flache Wasser und fing ebenfalls an, Juçara zu bespritzten. Erst ein strenger Ruf ihrer Mutter stoppte die beiden. Sie waren klitschnass, das Wasser tropfte an ihnen herunter. Lachend wuschen sie zusammen die restliche Wäsche.

Eduardo hatte Jaíra mitgenommen. Sie paddelten nach »Nova Esperança«, einer winzigen Ansiedlung, die, je nach Wasserstand, eine gute Woche flussauf an einem Nebenfluss lag, um bei Tante Janaina Kräuter und andere Pflanzen für die Familie und Dona Marga, die Hebamme, zu holen.

Jaíra freute sich riesig darauf, Ivo, den drei Jahre älteren Nachbarsjungen ihrer Tante wieder einmal zu sehen. Früher hatten sie gerne miteinander gespielt, wenn sie hier zu Besuch war. Zusammen gingen sie immer zum Fischen und Baden an den Fluss oder wanderten im Urwald umher, um Früchte und Nüsse zu sammeln.

Auch dieses Mal waren sie unzertrennlich, obwohl Jaíra spürte, dass Ivo sie nicht mehr als kleines Kind betrachtete und anders mit ihr umging.

Sie waren tief in den Urwald gegangen, um Paranüsse zu sammeln. Ein Tapir flüchtete vor ihnen und Ivo bedauerte, kein Gewehr mitgenommen zu haben.

Endlich erreichten sie die Stelle mit dem Baum und sammelten die großen, hartschaligen Kugeln, in denen die eigentlichen Nüsse, geschützt durch ihre eigenen Schalen, verborgen sind.

»Pass auf, dass dir keine Nuss auf den Kopf fällt«, meinte Ivo besorgt. »Erst kürzlich ist Jivaro von einer herunterfallenden Nuss an der Schulter getroffen worden. Er hatte großes Glück.«

»Pah, zu Hause sammele ich die Nüsse selber, ich kenne mich aus, keine Angst«, antwortete Jaíra und freute sich über die Sorge ihres Freundes.

Lange sahen sie sich in die Augen, bis Jaíra die Stille brach.

»Was ist los mit dir? Du bist so anders zu mir«, wollte sie wissen.

»Du, du … du hast dich seit dem letzten Besuch ganz schön verändert, du bist kein Kind mehr, du bist eine Frau«, antwortete Ivo stockend.

»Na und, ich bin immer noch Jaíra«, neckte sie ihn.

»Trotzdem.«

»Gott sei Dank kommt er nicht auf den Gedanken, mit mir etwas anzufangen«, dachte Jaíra auf dem Heimweg beruhigt. Sie wusste, dass Ivo in Luçena verliebt war. Ivo war für sie der Freund und Spielkamerad aus früheren Zeiten geblieben. Nach einer neuen Liebe stand ihr im Moment nicht der Sinn. Ihre letzten zwei Freunde waren ihr zu aufdringlich und machohaft gewesen.

Sie grinste, als sie an eine andere Möglichkeit dachte, von der sie manchmal träumte, dass sie mit Hans in Deutschland wäre und sie dort einen reichen Gringo kennenlernen würde.

»So ein Quatsch«, sinnierte sie weiter und sah in das dichte Blätterdach des Waldes über ihr. »Hier bekommt mich niemand weg.«

Nach drei Wochen packten sie die getrockneten Kräuter und unter vielen Segenswünschen legten sie ab.

Bei der Rückkehr kam Juçara gleich zu Jaíra und stieß sie an.

»Während du weg warst, ist hier viel passiert«, flüsterte sie ihr zu und lächelte vielversprechend.

Bei der nächsten Gelegenheit zog sie Jaíra zur Seite.

»Ihr wart kaum weg, da musste ich ins Dorf. Ich kam an Sandros Bar vorbei. Manuel wischte gerade die Tische ab und wir haben uns unterhalten.« Sie machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. Ihre Augen strahlten. »Wir sind jetzt zusammen.«

Zwei Monate später war Juçara zu Manuels Familie gezogen. Raimundo, Jaíras ältester Bruder, hatte sich in Rosa verliebt. Zusammen mit Eduardo und Rosas Brüdern baute er eine kleine Hütte in der Nähe seiner Eltern. Rosa war von untersetzter Statur, der man die indianischen Vorfahren deutlich ansah. Bald fing Rosas Bauch an zu wachsen; sie war schwanger.

»Bist du mit Luçio zusammen?«, fragte Hans vorsichtig.

»Das ist schon wieder vorbei. Hier gibt es nicht den Richtigen für mich, ich warte auf meinen ‚Boto’.« Sie lachte Hans offen an.

»Danke noch einmal für deine Hilfe und das Verständnis damals, als ich mit Fabio zusammen war. Er lebt jetzt mit Marilú zusammen, sie haben schon ein Kind und sie ist wieder schwanger. Wenn ich daran denke, dass ich das hätte sein können.«

Sie schüttelte langsam den Kopf und Hans legte zärtlich seine Hand auf ihren Arm.

»Es ist besser so.«

Jaíra nickte. Ihr Leben floss langsam und gleichmäßig wie der Fluss vor dem Haus. Ein Tag war wie der andere, das Leben hier war genauso.

»Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass im nächsten Monat eine Kommission vorbeikommt, um sich wegen des Hospitals umzusehen.« Hans wechselte das Thema.

»Du glaubst, dass es was wird?«

»Es muss. Sieh mal, das Dorf ist schon wieder größer geworden und überall an den Ufern siedeln sich neue Familien an.«

»Es gehen auch viele weg«, gab Jaíra zu bedenken. »Silvio ist mit seiner ganzen Familie nach Barcelos gezogen, Homero sogar nach Manaus. Hier gibt es keine Arbeit. Das bisschen Farinha oder die Paranüsse, die wir verkaufen, sind für die meisten von uns zu wenig. Es bleibt kaum etwas übrig, um die anderen Lebensmittel davon zu kaufen.«

»Wie ist es mit euch, ihr kommt zurecht?«, fragte Hans besorgt.

»Es geht. ‚Pai’ ist hier der beste Fischer und Jäger, er weiß immer, wo gerade Früchte reif sind. Außerdem haben wir Bananen, Salat und Gemüse im Garten hinterm Haus, Hühner, ab und zu sogar ein Rind oder ein Schwein. Wir kommen zurecht, es reicht gerade so.«

Zum Abschied gaben sie sich die obligatorischen Küsschen. Abwartend standen sie voreinander. Gerne hätte Jaíra ihre Arme um ihn geschlungen und sich an ihn gedrückt.

Hans hatte ihr Zögern bemerkt. Nachdenklich blickte er hinter ihr her, wie sie auf der Dorfstraße hinunter zum Fluss ging.

»Hoffentlich findest du deinen ‚Boto’, deinen Traumprinzen, ich wünsche es dir.«

Träume aus dem Regenwald

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