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Kapitel 3

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Langsam fiel die Hektik von ihm ab, während er seiner Familie nachsah, wie sie sich im langen Korridor des Flughafens verlor. Sie waren wie immer spät dran gewesen und so blieb ihnen keine Zeit für einen großen Abschied. Ein zu kurzer Kuss Andréias und eine schnelle Umarmung der beiden Mädchen war alles, bevor sie sich in die Schlange vor der Gepäckkontrolle einreihen mussten.

Als Benedikt sie nicht mehr erkennen konnte, schlenderte er zu seinem Auto und fuhr nach Hause. Seine Gedanken wanderten zu seiner Frau und den beiden Töchtern, die wohl schon im Flugzeug saßen und auf den Abflug warteten. Morgen würden sie in Rio sein, bei Andréias Eltern. Marçia kam im Sommer zur Schule und so hatte Andréia die Chance genutzt, noch einmal für längere Zeit ihre Eltern zu besuchen, bevor sie an die Schulferien gebunden waren. Er wollte in drei Wochen nachkommen und zusammen würden sie wieder nach Deutschland zurückkehren.

Vorfreude kam auf und er legte Andréias Lieblingsdisk ins Autoradio. Gerade spielte das Lied »Não sei mais dormir sozinho« von Leandro & Leonardo.

»Ich weiß nicht mehr alleine zu schlafen«, genau so geht es mir jetzt, dachte Benedikt sentimental, dann lachte er, bald würden sie wieder zusammen sein. Schon spürte er die tropische Wärme und atmete die schwüle, duftgeschwängerte Luft Brasiliens.

In der Wohnung war es still. Er räumte das stehen gebliebene Geschirr in die Spülmaschine und setzte sich ins Wohnzimmer. Ohne die Worte zu begreifen, las er die Seiten eines seit Langem angefangenen Buches. Benedikt konnte sich nicht konzentrieren, die Stille der Wohnung war fast unheimlich und so beschloss er, ins Bett zu gehen, um von seiner Frau zu träumen.

Auf seinem Kopfkissen fand er einen Brief.

»Ich liebe dich. Ich werde dich und deine Zärtlichkeiten vermissen. Bis bald. Andréia.«

Benedikt fühlte sich verloren, alleine in dem großen Bett, es war kalt, Andréia fehlte. Er war daran gewöhnt, ihre Nähe und Wärme zu spüren. Er legte sich auf ihre Seite, um ihren Geruch in der Nase zu haben und nach einem Kuss auf das leere Kopfkissen löschte er das Licht.

Als das Telefon klingelte, putzte sich Benedikt gerade die Zähne. Andréia konnte es nicht sein, die würde noch ein paar Stunden im Flugzeug sitzen. Schnell spülte er sich den Mund und hob den Hörer ab.

»Morgen Benedikt, hier ist Markus. Hast du Nachrichten gehört? Andréia und die Kinder sind gestern Abend abgeflogen, oder?«

Markus’ Stimme stockte, als Benedikt bejahte.

»Eben kam im Radio, dass über dem Atlantik ein Flugzeug verschollen ist. Etwas Näheres weiß man noch nicht, jedenfalls haben sie keinen Funkkontakt mehr und das Flugzeug ist vom Radar verschwunden.«

Sofort schaltete Benedikt das Radio ein. Natürlich waren die Nachrichten vorbei und er würde bis zu den nächsten warten müssen. Er marterte sich den Kopf, wen er anrufen konnte. Es war kurz nach sieben, die Büros der Fluggesellschaft oder der Reisebüros würden vor acht oder neun Uhr bestimmt nicht besetzt sein. Trotzdem rief er die Auskunft an und hastig wählte er die angegebenen Nummern. Entweder meldete sich niemand oder es war besetzt. Besetzt? Das war kein gutes Zeichen und angst ergriff ihn. Fast hätte er die Zeit für die Nachrichten wieder verpasst.

Ihm wurde schlecht, als er die Worte des Nachrichtensprechers hörte, der das von Markus Gesagte bestätigte. »… als vermisst gilt eine Boing 747 auf dem Flug von Frankfurt nach Rio de Janeiro. Aus bisher ungeklärten Gründen besteht keinerlei Kontakt zu der Maschine ...«

»Vielleicht sind es nur technische Schwierigkeiten, ein Funkgerät ist ausgefallen, oder was zum Teufel auch immer dort oben passieren kann«, versuchte er sich zu beruhigen, aber ein paar Stunden später wurde es Gewissheit.

Suchflugzeuge hatten Trümmer entdeckt, die auf den Wellen des Atlantiks trieben. Es gab keine Überlebenden, einige wenige Leichen konnten geborgen werden, von Andréia und den Kindern fehlte jede Spur.

Bei seinen Freunden fand er viel Beistand, niemand konnte ihm jedoch wirklich helfen und so zog er sich immer mehr zurück. Er machte sich Vorwürfe, warum er gedrängt hatte, zum Flughafen zu fahren. Hätten sie die Maschine verpasst, würden sie noch leben, warum hatten sie ausgerechnet an jenem Tag fliegen müssen, warum musste gerade dieses Flugzeug abstürzen, warum gerade sie? Warum, warum ... aber sie waren mit diesem Flugzeug geflogen und sie waren mit diesem Flugzeug abgestürzt; sie waren tot.

Benedikt schaltete den Fernseher nicht mehr an, er las keine Zeitung, er wollte nichts mehr von dem Absturz hören. Ihn interessierte nicht, warum es passiert war oder wer daran Schuld hatte oder haben sollte. Es war ihm egal, niemand würde ihm deswegen Andréia und die Kinder zurückgeben.

»Ach Andréia, warum ist das passiert, warum musstest du mich alleine lassen?«, laut sprach Benedikt vor sich hin, während er auf dem Sofa saß und auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers starrte.

Deutlich sah er Andréias Bild vor sich, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte, in dem Fotoladen in Ipanema, in den er seine Kamera zur Reparatur gebracht hatte.

Sofort war er von der jungen Frau fasziniert, die hinter dem Tresen stand und ihn freundlich ansprach. Ihr Lachen gefiel ihm und sie lachte wieder, als er wortlos vor ihr stand, sie anstarrte und erst nachdenken musste, warum er überhaupt im Laden war.

»Meine Kamera, sie transportiert den Film nicht mehr, können Sie sie reparieren?«, fragte Benedikt.

»Einen Moment«, hatte sie geantwortet und einen Mann aus der Werkstatt geholt, der die Kamera mitnahm, um sie sich anzusehen. Benedikt wartete in der Zwischenzeit und bald kam er mit der Frau ins Gespräch. Viel zu schnell trat der Mann aus der Werkstatt und erklärte ihm, dass er die Kamera am anderen Tag wieder abholen könnte. Als er sich von der Verkäuferin verabschiedete, sahen sie sich länger als normal in die Augen.

Ihm ging die Frau nicht mehr aus dem Kopf, immer wieder musste er an sie denken. Das Geschäft lag in der Nähe seines Hotels und so richtete er es ein, dass er immer wieder daran vorbeikam.

Später am Abend schloss die Frau gerade den Laden ab.

»Boa noite, guten Abend. Gehen Sie öfter hier spazieren?«, sprach sie ihn an. »Ich habe Sie bestimmt drei oder viermal hier vorbeigehen sehen.«

Benedikt wurde rot und er fasste allen Mut zusammen, als er sie zum Essen einlud. Obwohl er es sich gewünscht hatte, war er fast verwundert, dass sie zusagte.

Einige Straßen weiter war ein kleines Restaurant, in dem sie sich an einen der freien Tische setzten. Sie unterhielten und verstanden sich prächtig. Leider musste Andréia, so hatte sie sich vorgestellt, bald nach Hause.

Am nächsten Tag ging Benedikt viel zu früh los, um seine Kamera zu holen. Andréia war nicht da und schmunzelnd hatte der Mann zu ihm gesagt, dass seine Nichte erst nachmittags käme und er auch erst später die Kamera holen könnte.

Es war der letzte Tag für Benedikt und wieder verbrachte er mit Andréia einen schönen Abend. Später gingen sie an den Strand. Von Weitem hätte man sie für ein Liebespaar gehalten, Hand in Hand schlenderten sie barfuß durch den warmen Sand. Später saßen sie auf einer Bank und lauschten dem Rauschen der Wellen. Andréia lehnte sich an Benedikt. Als er sie zu küssen versuchte, drehte sie den Kopf weg. Benedikt hatte Angst, er könnte sie verärgert haben, aber sie ließ sich nichts anmerken. Kurz vor Mitternacht brachte er sie zum Bus.

»Mit dir war Rio noch schöner als sonst«, bedankte er sich bei ihr.

»Bist du mir böse?«, fragte Andréia.

»Warum sollte ich dir böse sein?« Er sah sie erstaunt an.

»Weil ich dich nicht küssen wollte«, sie sah ihn fragend an.

»Nein«, er schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, ich hatte Angst, dass du mir böse wärest, weil ich es versucht habe.«

Er spiegelte sich in ihren großen dunklen Augen.

»Leider muss ich morgen zurück und es tut mir sehr leid, dass ich dich nicht eher kennengelernt habe.«

»Wann fliegst du?«

»Gegen Mittag werde ich zum Flughafen fahren.«

»Kann ich mitkommen?«

Benedikt starrte sie an.

»Zum Flughafen«, erklärte sie.

»Ich würde mich sehr freuen.« Ihm kam ein Gedanke. »Komm doch einfach früher und wir frühstücken zusammen. Ich möchte so lange wie möglich mit dir zusammen sein.«

Fröhlich strahlte er Andréia an. Leider kam gerade jetzt der Bus und sie mussten sich verabschieden. Lange sah Benedikt dem Bus hinterher, bis er schließlich im Verkehrsgewühl verschwand.

Benedikt hatte sich wecken lassen, um rechtzeitig mit dem Packen fertig zu sein, damit er die ihm verbliebene Zeit mit Andréia verbringen konnte. Ungeduldig wartete er vor dem Hotel auf sie. Die Zeit verstrich und er machte sich Gedanken, ob er sie nicht doch verärgert hatte. Es wäre so passend gewesen, der schöne Abend, ihr warmer Körper dicht an seinem. Aber danach? Wäre sie eine dieser Frauen geworden, die man schnell wieder vergisst? An deren Körper man sich eher erinnert, als an ihr Gesicht? Ein schmerzhaftes Gefühl befiel ihn. Andréia war keine solche Frau für nur eine Nacht, sie hatten sich prächtig verstanden und er war stolz und froh auf sie und auf sich, dass es nicht so weit gekommen war.

Als sie endlich ankam, umarmte er sie überglücklich, wobei er den Geruch ihres frisch gewaschenen Haares tief einsog.

Gleich nach dem langen Frühstück fuhren sie zum Flughafen, auf dem Andréia noch nie gewesen war. Benedikt checkte ein und Händchen haltend schlenderten sie über den Airport. Viel zu schnell verging die restliche Zeit und sie mussten Abschied nehmen.

Verlegen standen sie sich gegenüber, hielten sich an den Händen und Benedikt glaubte, einen feuchten Schimmer in ihren Augen zu entdecken.

»Es tut mir so leid, dass ich jetzt fliegen muss. Was würde ich dafür geben, länger bei dir zu bleiben.« Benedikt schluckte.

Bevor er sich besinnen konnte, spürte er Andréias Lippen auf seinen. Vorsichtig und zärtlich spielten ihre Zungen miteinander, bis sich Andréia abrupt von ihm löste und ohne sich umzudrehen weglief. Verstört und traurig sah Benedikt ihr nach. Während er seinen Rucksack aufnahm, bemerkte er einen Brief, der aus einer Tasche hervorlugte. Andréia musste ihn dort wohl unbemerkt hineingesteckt haben. Als er im Flugzeug saß, öffnete er ungeduldig den Brief.

»Lieber Benedikt,

ich möchte mich für die schöne Zeit mit dir bedanken. Gerne wäre auch ich länger mit dir zusammengeblieben, leider hatten wir dazu keine Gelegenheit mehr und ich bin traurig, dass unser Zusammensein vorbei ist. Wie gerne hätte ich dich geküsst, jedoch hatte ich Angst, dass es dann weitergeht und ich mir Hoffnungen auf etwas gemacht hätte, was nicht in Erfüllung gehen kann. Wir leben auf verschiedenen Kontinenten und uns trennen viele Kilometer. Gerne werde ich an diese wenigen Stunden denken und träumen, wie es vielleicht hätte sein können.

Ich wünsche dir einen guten Flug und hoffe, dass du ab und zu an mich und unsere gemeinsame Zeit denkst. Andréia.«

Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Mit seiner Zunge fuhr er sich über die Lippen, um ihren Kuss wieder zu erwecken und er meinte, den Geschmack ihres Lippenstiftes zu schmecken. Sie hatte recht, eine große Entfernung trennte sie. Wäre es wirklich mehr geworden?

Wieder zu Hause ging ihm Andréia nicht mehr aus dem Sinn. Er stellte sich vor, dass sie beim Essen mit ihm am Tisch saß und abends lag sie neben ihm im Bett. Wieder und wieder las er ihren Brief und immer mehr festigte sich die Gewissheit, dass er sich verliebt hatte.

Andréia hatte ihm keine Adresse gegeben, wie sollte er ihr schreiben? Er war verzweifelt, bis ihm einfiel, dass auf der Rechnung seiner Kamera die Anschrift des Fotoladens stehen musste. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als er dort einen verwischten Stempel entdeckte, den er mühsam entzifferte. Sofort setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief, in dem er seine Gefühle für sie ausdrückte.

In der kommenden Zeit entspannte sich ein reger Schriftwechsel und wenn die Sehnsucht zu groß wurde, telefonierte er mit ihr. Als sie ihm schrieb, dass sie im nächsten Monat Geburtstag hätte und sich nichts sehnlicher wünsche, als dass er bei ihr wäre, hielt er es nicht mehr aus.

Ein paar Tage vor ihrem Geburtstag saß er im Flugzeug, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Andréia holte ihn am Flughafen ab und gleich nach der Ankunft im Hotel landeten sie im Bett. Der schlanke, braune Körper Andréias, ihr Temperament und ihre Unbefangenheit faszinierten ihn. Erst spät am Abend verließen sie das Hotel, um im Licht der Straßenlaternen am Strand von Ipanema spazieren zu gehen. Dieses Mal küssten sie sich auf der Bank.

Benedikt stöhnte laut, die Augen voller Tränen, bevor er sich mit seinen Erinnerungen weiter quälte. Jetzt war das alles nur noch ein Traum. Kein Kindergeschrei mehr, wenn sich die beiden Schwestern stritten, kein scharfes Wort von Andréia, das die Kinder zur Ordnung rief, es war totenstill im Haus. Kein Kuss, keine zärtliche Hand, die nach ihm griff. Nichts mehr, er war allein.

Träume aus dem Regenwald

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