Читать книгу Kunstphilosophie und Ästhetik - Bernhard Braun - Страница 19
2.2.2. Der Monte Verità
ОглавлениеVIII.8.1.
Zu den zahlreichen Gründungen von Künstlervereinigungen gehören bisweilen auch kurios anmutende Beispiele, welche sich nicht für allzu forsche Anfragen an ihren aufklärerischen Gehalt eignen. Eine dieser seltsamen Bewegungen waren die Nazarener im 19. Jh., die sich rückwärtsgewandt gegen die Moderne positionierten. Eine andere war die Bewegung Monte Verità, die allerdings durchaus in die Geschichte der Moderne gehört, aber eben auch deren Ambivalenz aufdeckt.
Die Bewegung wandte sich kritisch gegen die Technik- und Fortschrittseuphorie der Zeit, gegen die Logik der Ökonomie und des alltäglichen Materialismus. Als Remedium dagegen sollte die Hinwendung zum Geistigen und Spirituellen helfen. Mit dem Geistigen war keine kontrollierte Rationalität gemeint, sondern jener Spiritismus, der sich in den Schriften der Theosophen fand. Ihre Träger waren Jünger der Natur, Anarchisten, Pazifisten, Utopisten, Theosophen und Weltverbesserer. Sie gaben sich ein Mönchen ähnliches Äußeres, pflegten einen Vegetarismus und zelebrierten die Nacktkultur – so wie eben die Wahrheit der Natur stets mit Nacktheit assoziiert wurde. Letzteres verschaffte ihnen zahlreiche Auftritte vor Gerichten. Und die meisten von ihnen hatten künstlerische Ambitionen.
Einer der Gründerväter der Gemeinde war der frühe Kommunarde, Friedensaktivist und Künstler Karl Diefenbach, der in Ober St. Veit in Wien eine Kommune führte. Seine »Lehre«, die er in Mönchskutte verkündete, umfasste Freikörperkultur, Vegetarismus, Polygamie und Pazifismus. Künstlerisch war er durchaus erfolgreich und gehörte stilistisch zum Symbolismus. Aus diesem Gemisch destillierte sein Schüler, der Maler Hugo Höppener – Künstlername Fidus –, ein sonderbares esoterisches und theosophisches Selbstverständnis. Er malte Sonnentempel, betrieb germanische Naturverehrung und pflegte Kontakte zur Jugend- und Wandervogelbewegung. 1932 trat er der NSDAP bei. Die Parteigenossen konnten mit seinen kitschigen Bildern allerdings wenig anfangen.
Blom 2009, 232
Ein weiterer Jünger Diefenbachs war Gustav Gräser, der in Hippie-Adjustierung durch Italien wanderte und in den Städten seine Botschaft an Frau und Mann zu bringen versuchte. Bauern auf dem Feld sollen sich bekreuzigt haben, als sie ihn sahen, weil sie glaubten, Christus erscheine ihnen. Auf einem 321 Meter hohen Hügel bei Ascona am Lago Maggiore im schweizerischen Kanton Tessin gründete er zusammen mit seinem Bruder Karl, dem belgischen Fabrikantensohn Henri Oedenkoven und der Münchner Pianistin Ida Hofmann im Herbst 1900 schließlich eine Lebensgemeinschaft und Künstlerkolonie, die sich Monte Verità (Wahrheitsberg) nannte. Sie hielt sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Aus einer angedachten Naturheilanstalt wurde nichts, der Monte Verità blieb ein eher unscharfes Alternativprogramm im oben erwähnten Sinn: naturnahes Leben samt Freikörperkultur, Vegetarismus, freie Sexualität, Pazifismus, Frauenrechte, Mystik, wobei die Haltung zur zeitgenössischen Technik eine ständige Quelle von internen Querelen war. Nichtsdestotrotz erfreute sich der Sehnsuchtsort höchster Attraktivität bei Künstlern, Schriftstellern und Philosophen. Vertreterinnen des Dadaismus, diverser Künstlervereinigungen, Ernst Bloch, Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse – alle waren sie dort. Heute steht auf dem Gelände ein Kongresszentrum. Daneben wurde die Casa Anatta, eines der Holzhäuser der Künstlerkolonie, rekonstruiert und 1981 dort eine 1978 von Harald Szeemann entworfene Schau über diese Bewegung (Monte Verità, Die Brüste der Wahrheit) als Dauerausstellung eingerichtet.