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3.2. Das Weltbild des Paläolithikums
ОглавлениеJeder Zweifel darüber ist berechtigt, ob sich die Kunst des Paläolithikums überhaupt für eine kunstphilosophische Untersuchung eignet. Anders gesagt: Ist es möglich, über eine reine Bestandsaufnahme samt kunstgeschichtlicher Klassifizierungen hinaus für diese Zeit so etwas wie ein »Weltbild« zu fassen, das den künstlerischen Äußerungen zugrunde liegt?
Holm Erik in Bandi 1964, 211
Wohlgemerkt: Das Problem ist die Erfolgsaussicht einer solchen Rekonstruktion. Denn ebenso wie Nicholas Conard sind sich die meisten der erwähnten Forscherinnen einig, dass – wie Erik Holm dies mit Blick auf die Felskunst Südafrikas sehr allgemein ausdrückte – auch diese frühe Kunst »von ihrem geistigen Gehalt und von ihrem Nährboden her zu begreifen […]« ist.
Leroi-Gourhan 1965, 209
Leitner 2015, 107
Leroi-Gourhan fasste diese Meinung folgendermaßen zusammen: »Wir können, ohne das Material zu überfordern, die Gesamtheit der figurativen Kunst des Paläolithikums als Ausdruck von Vorstellungen über die natürliche und übernatürliche Ordnung (die im steinzeitlichen Denken nur eine Einheit bilden konnten) der lebendigen Welt auffassen.« Namentlich für die Höhlenkunst scheint zu gelten: »With its continuity and scope, it provides the clearest evidence of the spiritual thought and behavior of Homo sapiens.«
Scheint es also mittlerweile nicht mehr um die Frage zu gehen, ob solche Weltbilder vorhanden waren und in der Kunst ihren Ausdruck fanden, hält die Diskussion um Rekonstruktionsmöglichkeit von Weltbildern und ihres möglichen Komplexitätsgrades angesichts der nicht abreißenden Menge an Fundmaterial an. Dass ihre Ergebnisse spekulativ und umstritten bleiben, liegt also in der Natur der Sache. Für verlässlichere Beurteilungen wäre ein umfangreiches Datenmaterial nötig, auch um die anthropologischen Grundlagen zu klären, die für einen solchen Anspruch stets eine Voraussetzung bilden. Kann man beispielsweise beim Drängen zur künstlerischen Darstellung von einer Reifung von Verstand und Emotionalem ausgehen und von der Umsetzung eines Gefühls in die Kunstform?
König 1973, 16
Alle diese Überlegungen machen nur Sinn, wenn man den Menschen dieser Zeit jene hohe Ausstattung zubilligt, die es ihnen ermöglichte, aus geistigem Antrieb Kunst zu schaffen. Dies wurde nicht immer so gesehen. Vielmehr gingen Generationen von Forschern vom »Apriori eines unintelligenten Menschen aus, der in den Bildern nur das wiedergab, was er haben wollte, das Wild.« Damit hatte man die Diskussion um das Weltbild der Eiszeitkünstler verkürzt und man hatte sich gleichzeitig der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk entzogen, weil es bestenfalls um kunstfertige Nachahmung der Realität ging.
Baege 1929, 41
II.5.0.
Eine ganze Reihe von entwicklungstheoretischen Urteilen wurde dabei zur Anwendung gebracht. Der Sozialist und Reformer Max Hermann Baege konstatierte vor dem Hintergrund der Fortschrittseuphorie des Positivismus des 19. Jh.s eine Entwicklung aus völliger Unreflektiertheit über den jungpaläolithischen Zauber zum neolithischen Geisterglauben. Erst der geschichtliche Mensch habe sich auf die Höhe eines Götterglaubens hochgeschwungen. Solche Reifungstheorien wiederholen sich in der Debatte um die Achsenzeit.
Pochat 1996, 11
Zweifellos bildete sich irgendwann in diesen frühen Gestaltungen (wobei zwischen den ersten ästhetischen Spuren und den gefeierten Höhepunkten der Höhlenkunst viele Jahrtausende liegen) die Fähigkeit des Menschen heraus, zweckfrei und ästhetisch zu betrachten und in der Folge davon Kunstwerke als Ausdrucksmittel von Gefühlen und Gedanken einzusetzen. Vielleicht war auch die Entwicklung der Sprache hin zu einem Instrument begrifflicher Präzisierung und zu einer elaborierten Kommunikationstechnik ein Anstoß, für den emotionalen Ausdruck andere Medien zu entwickeln. Zum Unterschied von der analytischen, zergliedernden Sprache bleibt in den »Sprachen der Kunst« Ganzheit und Geschlossenheit mit ihrer suggestiven Kraft gewahrt.
Wenn man Urgeschichtlerinnen folgt, dann darf man sich der Hypothese nähern, dass man jedenfalls dem Menschen des Jungpaläolithikums, in dem die Kunst einen ersten Höhepunkt erreichte, eine dem modernen Menschen entsprechende emotionale Ausstattung zusprechen kann. Das bedeutet wohl auch, diesen Menschen einen reflektierenden Sinn für erste kulturelle Erzählungen zuzubilligen. Was genau hier erzählt werden sollte, darüber gehen die Meinungen naturgemäß weit auseinander.
Hoernes 1898, 184
Im 19. Jh. vertraten Édouard Armand Lartet und Henry Christy die These, die prähistorischen Menschen hätten ein unbeschwertes Leben im Überfluss geführt und dies in ihren verschwenderischen Kunstproduktionen gezeigt. Auch Forscher, die jede religiöse Konnotation dieser frühen Kunst ablehnten, schlossen sich solchen Auffassungen an. Der bereits erwähnte Moritz Hoernes brachte es so auf den Punkt: »Sinnliche Liebe und das Nachahmungsbedürfnis sind die Genien dieser Kunst; noch steht, wie es scheint, keinerlei religiöse Bedeutung hinter ihren Darstellungen.« Solche sogenannten »L’art pour l’art-Thesen« kamen spätestens mit der Entdeckung der Höhlenmalerei unter Druck. Die Höhlen (und auch manche Felsbildanlage) lagen weit von den Siedlungsgebieten entfernt und ließen sich kaum als Ausdruck eines unbeschwerten Vergnügens und bloßer Lust am Schmuck deuten. Ästhetisierende Deutungen gelten den meisten Forschern heute eher als Ausdruck einer Hilflosigkeit gegenüber dem Material. Auch wenn man sich mit anderen Zugängen einem erheblichen Druck nach Deutungsnotwendigkeit aussetzt, was einen zwangsläufig auf dünnes Eis führt, geht man überwiegend doch von komplexeren Weltbildern aus, die hinter der paläolithischen Kunst standen. Viele sehen in ihr den Ausdruck »der sozialen und religiösen Struktur der endeiszeitlichen Jägerkultur.« Oder wie Herbert Kühn mit Blick auf die spanische Valltorta-Schlucht bereits 1929 einräumte: »Der Gedanke läßt sich nicht abweisen: diese Schlucht muß einen besonderen Sinn gehabt haben, einen besonderen Charakter, sie muß eine abgetrennte, heilige Stätte gewesen sein.« Kühn zweifelte nicht daran, dass es sich bei den Höhlen, jedenfalls deren abgelegenen Teilen, um Kultstätten gehandelt habe.
Breuil Henri/Berger-Kirchner Lilo in Bandi 1964, 21
Kühn 1929, 462
Conard 2011
Kühn 1954, 37
Es gibt also die Überlegung, dass sich (zumindest auch) robustere Weltbilder hinter der Kunst verbergen und dass diese einen gedanklichen Komplexionsgrad aufweisen. Erik Holm deutet die Felskunst als eine Kunst, die sich von der konkreten historischen Verwurzelung abgesetzt hat und wie später der Mythos das zeitlos Typische darstellte. Schon früher sah man die Felskunst statuarisch, »auf das Dauernde und Bleibende berechnet.«
Holm Erik in Bandi 1964, 213
Gälte das, setzte das Abstraktionsfähigkeit der damaligen Menschen voraus. In der Tat wird diese Schlussfolgerung aus der Struktur der Kunst gezogen, wie ich weiter unten darstellen werde. Holm kann sich die Übertragung eines Kultaktes in das Kunstwerk vorstellen: »Unsere Kunstwerke sind also bewußte Verewigungen, die auch technisch ihren Ursprung direkt aus einem Kultakt herleiten.« Vor solchem Erklärungsmuster deutete er die Bisonkühe auf der Höhlendecke von Altamira als einen Kulttanz.
Dafür, dass sich solche Rituale tatsächlich abgespielt haben, sprechen etliche, über den ganzen Kontinent verstreute Funde, die man als Tieropfer und die Fundorte als Kultplätze identifizierte. Dazu kommt ein vor allem im Jungpaläolithikum verbreiteter Totenkult. Sowohl Grabbeigaben als Bestattungsart belegen einen bewussten Umgang mit dem Tod.
Bataille 1955, 7
IV.7.0./VIII.5.0.
Ebd., 129
Müller-Karpe 1966, 224–229, hier 228
Georges Bataille schwärmt über die Kunst der Höhle von Lascaux, dass sie »in der Urgeschichte keinen anderen Ausdruck haben konnte als Versinnlichung des Geistigen.« Mag auch die an Neuplatonismus und Idealismus erinnernde Formulierung waghalsig erscheinen, ist die Botschaft klar. Demnach gäbe es für diese Kunst ein weltanschauliches Hinterland. Für Bataille war die Kunst der Höhle eine willkommene Gelegenheit, das Primitivitätsparadigma zu relativieren. Geradezu provokant verlegte er die aus europäischer Perspektive in die griechische Antike projizierte Kulturwerdung des Menschen in das Paläolithikum. Die Malereien seien Teil einer religiösen und magischen Handlung gewesen und »ohne Zweifel nicht als dauerhafter Schmuck gedacht.« Demnach gehörte »das Innewerden der eigenen Geschöpflichkeit und Abhängigkeit von einer transzendenten Macht« zu den Einsichten der Urmenschen.
Einen anderen Schwerpunkt legte Marie König, für die der Mensch dieser Zeit weniger von einem abstrakten Transzendenten her bestimmt war. Sie vermutete ein astronomisches Interesse, das zweifellos nahe lag: »Das Lehrbuch der Menschheit ist der Himmel gewesen.«
König 1973, 290
Die Höhlenforscherin bekämpfte vehement die alten Magie-Theorien und unterstellte den Eiszeitkünstlern einen reflektierten Umgang mit Mondzyklen und Sonnenlauf. Die frühen Menschen, die von kreisförmigem Horizont und halbkugelförmigem Himmel umgeben waren, hätten in ihren künstlerischen Äußerungen Raum und Zeit artikuliert und seien zu einem Glauben an die Wiedergeburt gelangt. Ihre Theorie pflegte König mit Untersuchungen an Felsbildern, Höhlenkunstwerken, an mobiler Kunst, namentlich an Venusfiguren, und an der frühen Architektur (Malta, Anatolien) zu belegen. König fand Anregungen bei den Arbeiten von Karl Jaspers. Ihr einseitiger Blick auf das astronomische Thema ließ sie nie zu einer Mitstreiterin der Thesen vom mediterranen Kult der Großen Mutter werden.
Ebd., 42
II.1.2.3.
1964 fand man in Tata in Ungarn einen Nummulites perforatus (Kalkstein aus runden Einzellern) aus dem Mesolithikum (vermutlich von Neandertalern) mit einem Durchmesser von gut 2 cm, auf dem sich zwei eingravierte Linien in rechtem Winkel schneiden. Sollte es sich tatsächlich um eine Andeutung der Himmelsrichtungen, also um geometrica schemata im vollen Wortsinn handeln, wäre es in der Tat »ein schöpferischer Einfall, der die für alle Zeiten bindende Grundstruktur der geordneten, kultivierten Welt finden ließ.« Dass die Himmelsrichtungen schon in der frühesten Menschheitsgeschichte eine Rolle spielten, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Sie gehören nach Ausbildung von konkreten Gottheiten zur Beschreibung der Allgottheit und sie gehören bei den altorientalischen Königen zur Königstitulatur.
Ebd., 83/114
Marie König suchte für ihre Theorie einer paläolithischen Kosmologie auch Belege in den Höhlen der Île-de-France. Dort vermutete sie das grafische Grundkonzept, das noch nicht durch überreiche Bebilderung überdeckt wurde. Sie glaubte, dort immer wieder die Grundgrafik von Schalen und Linien zu finden, wobei die Linien Achsen und die Schalen polare Hälften, also etwa Oben und Unten symbolisieren. In diese Schalen ist nicht selten das Linienkreuz eingraviert. »Zu der symbolischen Schale, der Abseite der Welt, gehörte die Wölbung der Oberseite, des Himmels.«/»Sowohl der Kreis als auch das Linienkreuz waren Ausdruck der Weltordnung und konnten sich in diesem Sinne zum ›Ringkreuz‹ verbinden.«
Gimbutas 1974, 89
Auch Marija Gimbutas sah im Kreuz ein kosmisches Symbol: »Its purpose is to promote and assure the continuance of the cosmic cycle […].« Zwischen dem kosmischen Zyklus und jenem des sich immer wieder erneuernden Lebens besteht ein enger Zusammenhang.
Solches fand König nicht nur in den Höhlen rund um Paris, sondern auch in jenen Sardiniens, in Tempeln auf Kreta, in Irland, im sumerischen Lagasch und auf Malta. Derartige Schalen kommen praktisch überall vor, dienten sie doch auch als Opferschalen. Ihnen eine ausdrücklich astronomisch-kosmische Funktion zuzusprechen, bleibt aller Bemühungen um empirische Grundierung zum Trotz sehr spekulativ. Ihre Plausibilität erhält diese Theorie eher aus den späteren kosmischen Reflexionen in den ersten Hochkulturen.
Das gilt auch für ein weiteres kosmisch deutbares Motiv: das Gitternetz, das über den gesamten Globus verbreitet war und das alte sumerische Texte mit Himmel und Erde in Verbindung bringen. Kaum bestreitbar ist auch, dass in der ersten Architektur ebenso wie in den frühesten Siedlungen neben die Grundgeometrie des Kreises jene des Rechtecks trat und auch verschiedentlich zur Anwendung kam (Çatal Hüyük).
Dass sich die Vorstellung einer kosmischen Ordnung in den alten Hochkulturen durchsetzte, ist wahr. Die Zikkurat als Schnittpunkt von Erd- und Himmelsachse in Babylonien, der Omphalos in Griechenland und der Schnitt von Decumanus und Cardo in Rom waren zentrale Motive, die auch in der Philosophie ihren Niederschlag fanden.
Mit einer solchen Zurüstung lassen sich Bilder in einen kosmischen Kontext stellen, die vordergründig andere Motive abbilden. Wenn Darstellungen von »Erdtieren« wie Fische und »Himmelstieren« wie Hirsche oder Adler zusammen mit kosmischen Kennzeichnungen auftreten, kann man sie eventuell als Ideogramme einer Weltsymbolik deuten.
Thom 1970
III.1.2.2.
Königs Thesen stießen in der wissenschaftlichen Welt auf herbe Kritik und ihre monokausale Anwendung ist in der Tat schwer zu vermitteln. Reizvoll bleiben ihre Überlegungen deshalb, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit (und bei den ersten großen Architekturanlagen mit Sicherheit) astronomische Themen eine Rolle gespielt haben. Solche Zusammenhänge sind durch den schottischen Ingenieur Alexander Thom und andere gut untersucht. Zudem zeichnet König großzügige Querverbindungen, die für die Zeit des Neolithikums eine gewisse Bedeutung haben. Der Mondkult etwa ist mit der Geometrie des Dreiecks und dem Ideogramm Horn (wie beim Apisstier und der ägyptischen Mondgöttin Hathor) verbunden. Im Vorderen Orient gehörte der Stier zum Mond, zusätzlich trat er auf Kreta als Wassertier auf. Darin traf sich seine Himmels- mit der Erdkompetenz.
Alle diese Bildmotive können als Ausdruck einer vermuteten unsichtbaren Macht gesehen werden, die den Kosmos durchwaltet. Damit wäre auch das später so wichtige Motiv des Verhältnisses von unsichtbarer Macht und ihrer realen Darstellung bereits in dieser frühen Zeit vorhanden gewesen und es hilft bei der Erklärung der (v.a. im Orient rasch einsetzenden) Entstehung der Götter, die Personifikationen der Kosmos-Ideogramme darstellen. Ideogramme bekamen Beine und Hände und wurden damit sozusagen handlungsmächtig.