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4.3.4. Das Anheben der Stadt

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Am Beginn seines Buches über die Geschichte der Stadt fasste Lewis Mumford die Entwicklung über die Zeitläufe, die sein Buch spiegeln will, treffend zusammen: »Am Anfang dieses Buches steht eine Stadt, die das Symbol einer Welt war. Es endet bei einer Welt, die in vieler Hinsicht eine Stadt geworden ist.«

Mumford 1961, XV

Die Entstehung der Stadt spielt an der Zeitenwende von der Neolithischen Revolution zur Metallzeit, in die auch die Erfindung der Schrift fiel. Die Entwicklung zur Stadt über die Siedlung und das Dorf dürfte zwar – mit zunehmender Komplexität der sozialen Verhältnisse – einigermaßen kontinuierlich geschehen sein, aber die Stadt hat gegenüber der neolithischen Siedlung eine eigene Identität und eigene Charaktereigenschaften ausgebildet und war nicht nur ein großes Dorf. Kriterien dafür, wann eine frühe Dauersiedlung als Stadt angesprochen werden kann, sind erst einem späteren Interesse an Schematisierung entsprungen. In der einschlägigen Literatur gibt es dazu verschiedene Vorschläge.

Für Herbert Jankuhn war die »Emanzipation arbeitsteiliger Gewerbe aus dem Verband einer bäuerlichen Gesellschaft« ein Schlüsselereignis. Sie führte zu gesteigerter Gütererzeugung und entwickelten Produktionstechniken und dann zu Handel mitsamt den dazu gehörigen Verwaltungsinstitutionen. Frank Kolb zählt sechs Kriterien auf (sie sind Teil der 10 Kriterien, mit denen bereits Gordon Childe Städte charakterisiert hat): (1) topografische und administrative Geschlossenheit, (2) eine Bevölkerungszahl von mehreren tausend Einwohnern, (3) Arbeitsteilung und soziale Differenzierung, (4) mannigfaltige Bausubstanz, (5) urbaner Lebensstil und (6) Funktion der Siedlung als Zentralort in der Umgebung. In aller Regel wird zusätzlich auf die Fläche verwiesen. Umfasste Jericho im 8. Jt. etwa 3 ha, kam Uruk um das Jahr 3000 auf 500 ha. In neubabylonischer Zeit wies Babylon bereits eine Fläche von knapp 1000 ha aus.

Jankuhn Herbert in PWG II, 577

Kolb 1984, 15

Nunn 2012, 94f

Zweifellos gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen Stadt und den soziologischen und technischen Umwälzungen. Ob das für die Begründungsgeschichte der Stadt eine hinreichende Erklärung bietet, ist umstritten. Es gibt daher durchaus alternative Theorien zur Stadtbildung, welche die Stadt einerseits als Speicherplatz agrarischer Produkte und ihrer technischen und bürokratischen Verarbeitung, andererseits aber als religiöse Keimzelle sehen. Die Frage ist freilich, ob man hier überhaupt einen so grundlegenden Unterschied machen darf. Das Agrarische und das Religiöse ließen sich gerade im Neolithikum kaum trennen, vielmehr bedingte das eine das andere. Daher dürfte doch vieles dafür sprechen, dass das Religiöse für die Gründung der Stadt eine zentrale Rolle spielte.

Kolb 1984, 16

Schmidt 2006, 248

Lewis Mumford hat sich für die These einer religiösen Stiftung stark gemacht. Die Stadt sei weniger eine Weiterentwicklung aus dem einfachen Dorf, sondern begann mit dem Kultplatz. Wie unversöhnlich die Meinungen in dieser Frage aufeinanderprallen, zeigt, dass manche, unter ihnen Frank Kolb, die sich auf dem sicheren Grund archäologischen und schriftlichen Quellenmaterials wähnen, schon eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Mumford verweigern. Neuerdings hat Klaus Schmidt, der Ausgräber von Çatal Hüyük, wieder eine Lanze für Mumfords These gebrochen.

Heinz 1997, 1

Verdienstvoll hat Marlies Heinz die Stadt als »Teil der materiellen Kultur« verstanden, »in dem sich menschliche Beziehungen und Verhaltensweisen dauerhaft verfestigen, […]« und angemahnt, die Stadt als »gesellschaftliche Entität« zu analysieren. Wenn sie nach Heinz ein »Produkt ökonomischer, sozialer und politischer Variablen« ist, sollte das auch die wichtige Konstante kulturell-mythischer Erzählungen einschließen.

II.1.2.2.1.

Die Frage wäre leichter zu klären, wenn man besser einschätzen könnte, inwieweit die in späteren Beschreibungen gut belegte kultische und religiöse Überhöhung der Stadt Projektion und Reflexion eines legitimierenden Gründungsmythos ist oder ob es solche Gründungsrituale samt dem entsprechenden Selbstverständnis wirklich gegeben hat. Aus solchen Legitimationserzählungen aus schriftlicher Zeit lassen sich einige Motive herauslesen. Sie umfassen sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte.

Erwähnung findet immer wieder die prominente Rolle des geschlossenen Kreises (auch im Zusammenhang mit der Städtegründung). Die Figur der Selbstgenügsamkeit des Kreises, der ins Kosmische projiziert wurde, spielte in den weiteren philosophischen Erzählungen bis über die Renaissance hinaus eine wichtige Rolle.

Hasenfratz Hans Peter in Kerber 1997, 17f

Die Stadt markiert ein Innen, das durch eine selektiv permeable Membrane vom Außen abgeschlossen ist. Die Stadtmauern grenzen magisch den (um den Temenos geschaffenen) Kosmos vom Chaos ab, aber sie sind durchlässig. In diesem Außen versammelt sich genauso zerstörerisches wie kreativ-erneuerndes Potential. Was nach außen geht, schwächt die Ordnung und stärkt das Chaos, es wird zum Ungeheuer, zum Toten, zum Entrückten und Wahnsinnigen – ambivalent auch zum ekstatisch Heiligen. Wald, Berg, Wüste sind nicht nur Stätten des Chaos, sondern auch Begegnungsstätten mit Gott. Umgekehrt kann das Chaos mit Unwetter und Tod in die Ordnung der Stadt einbrechen und muss rituell bewältigt werden. Platon spielte mit diesen Vorstellungen in seinem Werk Phaidros in bemerkenswerter Weise. Außerhalb der Stadt bewegen wir uns im Uneigentlichen. Es ist dort aber auch der Ort für Inspiration und göttliche Nähe.

III.2.3.3.2.

Die steinerne Schwelle am Tor, die im Lehrgedicht des Parmenides Tag und Nacht trennt und als orphisches Motiv bekannt ist, wurde zusammen mit dem Tor zu einem symbolgeladenen Motiv der Stadtarchitektur. Bis ins hohe Mittelalter wird das Land den Reichtum der Stadt ermöglichen und ihr Überleben sichern, ein Tatbestand, der durchaus konfliktiv bewältigt werden musste.

Dieses Konfliktpotential bei Städtegründungen erhielt in kulturellen Erzählungen einen Resonanzraum. In der Genesis wird geschildert, wie der Ackerbauer und Städtegründer Kain seinen Bruder, den Hirten Abel, tötet. War das schlicht ein narrativer Niederschlag der (drohenden oder erhofften?) Ablösung der Natur durch die Kultur?

II.1.2.2.1.2.

II.1.3.

Platon, Nomoi 624a

Meist hatten bei der Gründung einer Stadt Götter ihre Hände im Spiel. In Mesopotamien gewährten Götter den Schutz der Stadt und sicherten den Fortbestand. Der Stadtfürst von Lagasch schildert, wie die Stadtgottheit selbst ihm Auftrag und Grundriss seines Tempels im Traum mitteilte. Die Gesetze der Stadt teilte im Alten Orient der Ordnung stiftende Sonnengott dem Herrscher mit, der als Stellvertreter und Fortsetzer des Ordnung-Stifters fungierte. Die Metropole Athen legitimierte ihre Stellung durch die Versicherung der Göttin Athene.

Chthonisches und Himmlisches

II.3.2.3.

III.1.0.

III.2.1.3.2.

Ein auffälliger Aspekt in diesem ganzen Kontext ist die Verschiebung des Chthonischen hin zum Himmlischen. Der Alte Orient ist durchzogen von den zwei Polen Erde, dem alten Ort der Verwandlung vom Tod in neues Leben und Sonne, der Stifterin der Ordnung. Die Solarisierung des chthonischen Sturmdämons JHWH im Jerusalemer Tempel ist ein anschauliches Beispiel für das Gesagte. Besonders im griechischen Bereich gibt es eine auffällige Stärkung der Himmelssphäre. Homer inaugurierte Himmelsgötter, welche die alten erdgebundenen Mächte und Gewalten ablösten. Diese Entwicklung kann man auch in der Architektur verfolgen. Das Ringen zwischen Chthonischem und Himmlischem schildern die Erzählungen der Orphik, die Zeus als Himmelsgott in den Vordergrund rückten. Demgegenüber blieben die meisten übrigen Mysterienkulte als Nachklang der neolithischen Kultur den Mutter- und Erdgöttinnenkulten verbunden. Ihre Bedeutung veränderte sich im modern gewordenen Athen dann allerdings nachhaltig. Eine aufgeklärte, intellektuelle Gesellschaft betrachtete die Vagina- und Phallos-Kulte nur mehr mit Argwohn. Die Renaissance manch chthonischer religiöser Riten in der Spätantike gehört in das Kapitel einer modischen Nostalgie.

III.2.5.3.

Mumford 1961, 41

Die Stadt richtete sich in dieser frühen Zeit bereits auf den Himmel aus und nicht mehr – so könne man ergänzen – wie das Dorf auf die chthonische Sphäre der Erdverbundenheit. Lewis Mumford erkennt dies treffend, wenn er die Fundamente des Dorfes in der Erde versenkt, jene der Stadt hingegen in den Himmel verlegt sah. Mumfords reizvolle Metapher weiterführend könnte man sagen, dass in der Stadt sowohl die Götter wohnten als auch die Vernunft heimisch wurde, die sich früher oder später gegen die Geschichten um die Götter stellte.

Das Selbstbewusstsein der Stadt basierte auf hoher Symbolkraft. Sie wurde von einer Barriere der Verteidigung umschlossen und hortete Getreide und einen Tempelschatz. Die rasche Ausbildung einer Hierarchie fragmentierte die städtische Gesellschaft und schuf Mechanismen für das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen. Der König mit seinem Umfeld sowie die Priester wurden vom Volk und von Sklaven bedient. Handwerker (Waffen- und Werkzeughersteller, Goldschmied, Zimmermann, Steinmetz) standen dazwischen und waren von der herrschenden Klasse abhängig. Es gab institutionelle Beziehungen zum Land, das in aller Regel die Stadt am Leben erhielt.

Veblen 1914

Owen 2000/2001

Im Zusammenhang mit der Entstehung von Hierarchien kann man auf die 1914 publizierte Theorie des amerikanischen Ökonomen und Soziologen Thorstein Veblen verweisen. Demnach habe die Frau ihre Stärke nicht aus der Tätigkeit im Zusammenhang mit der Lebenserhaltung gewonnen und ihre Stellung durch den Verlust der Bedeutung dieser Funktion später verloren, sondern der Mann habe anfangs den wichtigeren Auftrag gehabt. Er habe in der Jäger- und Sammlergesellschaft den führenden Rang dadurch erobert, dass er die gehaltvollere fleischliche Nahrung gegenüber den von Frauen gesammelten Früchten und Beeren beisteuerte. Nach der Sesshaftwerdung mit Ackerbau und Landwirtschaft fiel die Priorität der Jagd zwar weg, aus kultureller Konstanz blieb das Prestige des Mannes jedoch erhalten. Solche Überlegungen setzten freilich Geschlechterrollen voraus, deren Existenz heute durchaus umstritten ist.

Plausibler scheint die erwähnte Parallele zwischen Domestikation der Tiere und der Unterwerfung der Natur zu sein. Die technische Bearbeitung der Natur erlebte durch die neuen Werkzeuge einen enormen Sprung. Die Neolithische Revolution war eben auch eine technische Revolution. Und mit diesem technischen Fortschritt könnte die Frau in ihrer Rolle in Kollision geraten sein. Der (phallische) Pflug begegnet einer empfangenden (weiblichen) Erde. Das stützte auch die erwähnten kulturellen Erzählungen, in denen im mediterranen Raum die Erdgöttinnen durch Himmelsgötter abgelöst und die Schlüsselpositionen der Stadt in Politik und Religion mit Männern besetzt wurden. »In ihren Anfängen war die Stadt eine Verkörperung des Kosmos, ein Mittel, den Himmel auf die Erde herabzubringen […].« Es bildeten sich Mittler zwischen Himmel und Erde heraus: Priester oder König. Die geistige Macht des Himmels erforderte auf Erden eine Reihe von Verwaltern. Die Stellung dieser zu den einfachen Menschen wurde mitunter zum Problem. Die Stadt zeigte immer ihr Janusgesicht zwischen Schutz und Aggression, Freiheit und Reglementierung. »Die Stadt hatte also eine despotische und eine göttliche Seite.«

Mumford 1961, 35

Ebd., 53

Am übersichtlichsten verläuft nach heutigem Wissensstand die Entwicklung der Städte in Anatolien und im mesopotamischen Raum, wo es für die Bestätigung der Korrelation mit den neuesten technischen Erfindungen und den daraus folgenden unmittelbaren Wechselwirkungen mit sozialen Umwälzungen erste schriftliche Urkunden gibt.

Çatal Hüyük

Bittel 1976, 26

Ein besonderes Exemplar einer neolithischen Siedlung war Çatal Hüyük in der Konya-Ebene in Anatolien. Sie datiert in das 7. bis 6. Jt. Das Dorf, das aus mehreren Schichten rekonstruiert werden musste, kannte noch keine Straßen. Man gelangte durch offene Dachausschnitte und über Leitern in die Haupträume der rechteckigen, mit Stroh armierten Lehmziegelhäuser und von dort durch niedrige Öffnungen in die zweitrangigen Räume. Die wabenartige Bauweise entsprach nicht der Üblichkeit und wird manchmal auf eine stark kollektivistisch organisierte Gesellschaft zurückgeführt.

Burkert 1972, 22

Çatal Hüyük war eine Kunstmetropole mit qualitätvollen (und vor allem außerordentlich farbenkräftigen) Malereien, Gipsreliefs, Stein- und Keramikfiguren, Bukranien (Rinderschädel als Schmuck- bzw. Kultmotiv) sowie Weberei und Metallverarbeitung. Die Rinderhörner, die teilweise auf modellierten Schädeln aufgesetzt wurden, standen für Walter Burkert in der Tradition der alten blutigen religiösen Opferkulte. Es lassen sich die Spezialisierung des Handwerks, Getreideanbau und die Existenz weiblicher und männlicher Götter, vor allem Fruchtbarkeitsgötter, sowie umfangreiche Totenkulte nachweisen. Ein tertiärer Sektor (Priester, Verwaltung) ist angesichts der zahlreichen künstlerisch aufwendig ausgeschmückten Kulträume wahrscheinlich.

Mellaart 1967, 157

Inzwischen hat sich die Einzigartigkeit der Kunst durch die Funde in Anatolien ein wenig relativiert, aber es gilt immer noch, was der Ausgräber James Mellaart festhielt: »Die Leute von Çatal Hüyük bemalten, was sie konnten, und sie malten, wann immer sie konnten.« Die reichste Ausbeute sammelte man in den mittleren der zwölf ergrabenen Schichten aus der Zeit um 6500. Es fanden sich zahlreiche Tierdarstellungen und farbenprächtige Wandmalereien, die sowohl gegenständlich als auch abstrakt ausgeführt wurden und manchmal das Aussehen von Wandteppichen (Kelims) haben. Daneben gibt es Jagdszenen und Handabdrücke von Menschen. Man tut sich schwer mit der Unterscheidung von Wohn- von Kulthäusern und mit dem Verständnis der Malereien.

James Mellaart berief sich ausdrücklich auf die Deutungen der paläolithischen Kunst durch Leroi-Gourhan und sah in Çatal Hüyük eine konsequente Fortsetzung: »Die sich daraus ergebende Deutung jungpaläolithischer Kunst, wonach deren Zentralthema eine komplexe, sich in Sinn- und Tierbildern ausdrückende Weib-Symbolik darstellt, läßt weitgehende Übereinstimmungen mit den religiösen Bildwerken von Çatal Hüyük deutlich werden.«

Ebd., 32

III.1.2.1.

Dietrich 1974

Jürgen Thimme spannte diesen Bogen weiter, indem er eine ungebrochene Linie von den hier dargestellten Fruchtbarkeitsgöttinnen zu den Idolen der Kykladen und zu den Gegebenheiten der weiteren griechischen Kunst behauptete. Thimme brachte eine Meinung zum Ausdruck, die in der Geschichtsschreibung der Antike weit verbreitet war und die namentlich die Kulttraditionen auf Kreta und im mykenischen Raum von Anatolien aus angeregt sah. Und er erinnert an eine große These, mit Çatal Hüyük habe eine Jahrtausende währende Zeit eines Matriarchats begonnen, die mit dem Zusammenbruch des minoischen Kreta an ihr Ende gekommen sei.

Röder/Hummel/Kunz 1996, 270

Schmidt Klaus 2006, 139

Dass die Voraussetzung solch kühner Zusammenhänge, nämlich die flächendeckende weibliche Konnotation, heute als überholt anzusehen ist, wurde oben bereits erwähnt. »Berücksichtigt man die archäologischen Fakten, entpuppt sich das angeblich neolithische Matriarchat von Çatal Hüyük als ein hohles Wunschgebilde, das sich vor allem einer unkritischen Übernahme von Mellaarts Spekulationen verdankt.« Besonders die »große Mutter« oder »gebärende Göttin« genannte Abbildung ist mittlerweile ins Gerede gekommen. Nach den Funden von Göbekli Tepe betrachtet man die Darstellungen mit neuen Augen und mutmaßt, ob es sich nicht eher um eine Tierdarstellung handelt. »[…] vorausgesetzt, die ehemals ›gebärende Göttin‹ entpuppte sich als Tierdarstellung, wofür einiges spricht, so bleibt zur Deutung des Ritualbereichs auch von Çatal Höyük vor allem der Totenkult.« Nun geht es in Çatal Hüyük nicht alleine um diese eine berühmte Figur. Es gibt eine ganze Reihe von Figuren, die eine weibliche Konnotation tragen, darunter der Typus der Herrin der Tiere, jener der Herrin der Jagd und Göttinnen, die man in Getreidespeichern fand, wo sich eine Getreidekonnotation nahelegt. Darunter befand sich eine nicht minder berühmte und kaum anders denn als gebärende Frau zu interpretierende Sitzfigur, die von zwei Raubkatzen flankiert wird. Jedenfalls fraglich bleibt, ob es sich um Gottheiten oder um dargestellte unpersönliche Kräfte handelt.


32 Muttergottheit (Terrakotta) aus Çatal Hüyük

Eine andere Eigenheit hingegen ist auffällig: die Dominanz der Farbe Rot (wie im Paläolithikum). Das wird in Zusammenhang gebracht mit der Manipulation an Körpern von Verstorbenen: »Taken together, we might suggest that the piercing and manipulation of human bodies, as well as the depiction of dangerous animals, was connected to the colour red and possibly the representation of blood at Çatalhöyük.«

Hodder/Meskell 2011, 250

Nunn 2012, 154ff

II.1.2.3./II.1.2.5.

Bei der Deutung der Wandmalereien in verschiedenen Palästen (Mari, im nordsyrischen Til Barsip) und berühmter Stelen (Geierstele Eannatums von Lagasch, Sargon-Stele) in Mesopotamien berufen sich Forscherinnen auf das Vorbild Çatal Hüyüks.

Mellaart 1967, 95

Für den Ausgräber des Ortes James Mellaart vermitteln die gefundenen Kultstätten »ein lebhaftes Bild vom Verhältnis des neolithischen Menschen zu Religion und Glauben […].« Auffallend sind die zahlreichen Tierköpfe von Rindern, Widdern, Stieren und (selten) Hirschen, jeweils mit echtem Gehörn. Dazwischen breiten sich die teppichartigen Ornamente aus. Die Darstellungen in den Kulträumen haben durchaus monumentale Ausmaße, das größte bisher gefundene Relief, eine stilisierte Doppelfigur einer Göttin (?) mit zwei Körpern und Köpfen, hat eine Höhe von 220 cm. Die zahlreichen Handabdrücke nährten viele Spekulationen. James Mellaart assoziiert eine Verehrung der Hand, die in Zeiten des Ackerbaus ein unverzichtbares Werkzeug gewesen ist.

Ebd., 145

Ebd., 193ff

Gimbutas 1982, 116, 186

Hodder 1990

Grundsätzlich wurden für die Erklärung der Kunst dieses Ortes viele Interpretationen aufgeboten, von der Geschlechter-Dichotomie, dem Kult der Muttergöttin samt der dazugehörigen Zeremonien, bis zur Verbindung von Erdgöttin und Himmelsgott. Andere sehen in der Kunst die Schilderung von Götter-Genealogien oder ein Tagebuch der Domestikationsfortschritte. In Göbekli Tepe sind nährende Muttergottheiten nicht vorhanden, in Çatal Hüyük vermutlich sehr wohl. Bei den Darstellungen von domestizierten Tieren und Pflanzen ist es gerade umgekehrt.

Mellaart 1967, 237

Dietrich 1974, 105

In diesem Zusammenhang verdient die Beobachtung James Mellaarts Beachtung, dass das Geschlecht der Götter und Göttinnen nicht über die sekundären Merkmale (Vulva, Phallus) gezeigt wurde, sondern durch eine »andere Symbolsprache« wie Brust und Schwangerschaft für die weibliche und Hörner bzw. Köpfe gehörnter Tiere für die männliche Seite. Damit wurden Rollen zugeschrieben, welche der Ackerbaugesellschaft entsprachen. Die Darstellungen nährender weiblicher Brüste an den Wänden wurden mit der Idee von Tod und Wiedergeburt in Verbindung gebracht. »This was a wide-spread and well-known practice of Stone and Bronze Age cultures to denote rebirth from death.« Auch die Mauernische, die in der Architektur als Symbol einer Höhle galt, konnotierte die Neugeburt. Das ist deshalb erwähnenswert, weil sich darin eine tiefere Sinngebung der Nische in den Kulträumen der monotheistischen Religionen (Thoranische, Apsis, Mihrab) abzeichnet.

Möglicherweise ist die endgültige Lösung dieser Intentionen nicht mehr zu finden. Interessant ist, dass die Wandmalereien immer wieder übermalt wurden. Das und die Tatsache der Wiederholung von Motiven könnten auf einen besonderen kultischen Anlass bei der Herstellung durch spezialisierte Künstler deuten. Malereien wären dann nur temporär zu sehen gewesen und nach Erfüllung ihrer Funktion wieder übermalt worden.

III.1.2.2.

Spannend ist eine Vulkandarstellung, die früheste, die wir kennen. Vermutlich war sie durch den damals aktiven Vulkan Hasan Dağı in Sichtweite Çatal Hüyüks inspiriert, der zudem wertvolles Material wie den Obsidian an die Oberfläche brachte. Man kann davon ausgehen, dass vulkanische Aktivität mit einem chthonischen Kontext verbunden und vermutlich der Erdgöttin zugewiesen wurde.

Ob man Çatal Hüyük als Stadt bezeichnen soll, ist unklar. James Mellaart spricht von einer »neolithic town«, dann aber wieder von einem »stadtähnlichen Gebilde«. Nach den Kriterien Kolbs kann man wohl von einer Stadt sprechen, zumal auf eine städtische Prägung auch der Luxus verweist, den sich die Gesellschaft von Çatal Hüyük leistete, sowie die Tatsache, dass es bereits ein so spezialisiertes Kunsthandwerk gab, dass man von einer Arbeitsteilung ausgehen muss.

Die vielen technischen und sozialen Entwicklungen um die Stadt im engeren Sinn dürften in relativ knapper Zeit um 3000 entstanden sein. Zusätzlich wurde die menschliche Arbeitskraft geradezu maschinell gebündelt. »Zehntausende von Menschen wurden unter einheitlichem Kommando wie eine Maschine in Bewegung gesetzt und bauten Bewässerungsgräben, Kanäle, Stadtwälle, Zikkurats, Tempel, Paläste und Pyramiden in Ausmaßen, die bis dahin unvorstellbar gewesen waren.«

Mumford 1961, 38

II.1.1.

Sprachen wir hier immer noch von den neolithischen Vorläufern der Stadt, setzte im angrenzenden Mesopotamien die Stadtentwicklung in einer fortgeschrittenen Form endgültig ein. Frank Kolb bringt klimatische und soziologische Gründe für die Entwicklung der Stadt in Mesopotamien und Ägypten in die Diskussion. Aus seiner Sicht waren die Bedingungen für die Entstehung einer Hochkultur in Ägypten durch die Fruchtbarkeit des Nils und das stabile Klima besonders günstig, während Mesopotamien mit wechselnden klimatischen Bedingungen zu kämpfen hatte.

Zwischen dem 6. und 4. Jt. entstand im Zwischenstromland eine neolithische Kultur und ab dem 4. Jt. bildeten sich urbane Zentren. Das ist eine Zeit, wo die Stadtentstehung von schriftlichen Quellen begleitet wurde. Daher sind das religiöse Selbstverständnis und der in die Sesshaftwerdung reichende Wurzelgrund besser sichtbar. Mit der Entstehung dieser Städte konstituierten sich die ersten Hochkulturen. Bevor diese Entwicklung im nächsten Abschnitt geschildert wird, sei noch ein Blick auf eine der faszinierendsten und geheimnisvollsten urgeschichtlichen Kulturen geworfen, deren architektonische Hinterlassenschaft in erstaunlich gutem Zustand auf uns gekommen ist: die Tempelkultur auf dem Maltesischen Archipel.


33 Tempel Hagar Qim, Malta

Kunstphilosophie und Ästhetik

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