Читать книгу Kunstphilosophie und Ästhetik - Bernhard Braun - Страница 31
4.3.1. Offene und geschlossene Form
ОглавлениеAls Konsequenz der geschilderten Beobachtungen liegt der Schluss nahe, dass die Entdeckung des Raums mit einem bewussten Akt der Reflexion verbunden war. Der eroberte Raum wurde mit Markierungen angezeigt, die mit heute schwer zu rekonstruierenden Bedeutungen aufgeladen waren. Standen sie für einen Totenkult? Waren es astronomische Zeichensetzungen oder dienten sie irgendwelchen anderen Ritualen?
21 Die Anlagen in Carnac sind linear angeordnet
Die Markierungen des Raums, die sich schließlich zu größeren Anlagen bündelten, stützten sich auf einige Grundelemente, die in einem großen Verbreitungsgebiet auftauchen. Solche Elemente der Anlagen sind: Menhire (keltisch men/Stein; hir/lang), Cromlechs (keltisch crom/Krümmung, Kreis; lech/Stein), halbkreisförmige Menhirgruppen, sowie Dolmen (keltisch dol/Tisch), große Decksteine, die von mehreren Tragsteinen (Orthostaten) getragen werden und in der Regel eine Grabkammer bilden.
22/23 Dolmen in Carnac (l.), Dolmen in Scusi, Apulien (r.)
Grundsätzlich gilt, dass megalithische Zeichensetzungen weltweit auftraten und aus ganz unterschiedlichen Zeiten, auch aus dem Paläolithikum, stammen. Allerdings sind größere Anlagen meist tatsächlich nur aus dem Neolithikum bekannt. Sie scheinen kaum von Jägern und Sammlern errichtet worden zu sein. Alle 700 bekannten Steinkreise in England entstanden im späteren Neolithikum.
Maier 2005, 34 Burl 1976
Eine ältere Theorie vertritt die Ausbreitung der Megalithanlagen ab 4000 vom Vorderen Orient aus über die iberische Halbinsel, der Atlantikküste entlang bis nach England und Irland. Diese Ansicht wird heute eher kritisch bewertet. Für plausibler gilt eine gleichzeitige Entwicklung an wenigen geographischen Orten. Grundlage bildete aber stets die vom Vorderen Orient ausgehende Neolithisierung. Demnach existierte eine Idee, die weit verbreitet war, deren Umsetzung aber wesentliche regionale Ausprägungen zeigte. Man könnte versucht sein, von lokalen Stilen zu sprechen.
24 Nuraghe, Sardinien
Megalithische Markierungen treten einzeln auf oder gruppieren sich zu großen Architekturanlagen: Steinreihen (Menhiranlagen), Megalithtempel sowie kegelförmige Turmbauten einer noch schlecht erforschten Kultur auf Sardinien (Nuraghen), auf Korsika und in Süditalien (Trulli). Ihre Funktion ist unklar. Eine Bestattungsfunktion dieser Turmbauten scheint unwahrscheinlich, weil es zusätzliche Megalithgräber gab. Zu den ältesten gehören die prunkvoll ausgestatteten vor-nuraghischen Grabanlagen von Anghelu Ruju in der Nähe von Alghero aus dem Beginn des 3.Jt.s und die etwas später erstellte Anlage von Coddu Vecchiu bei Arzachena, beide im Norden Sardiniens. Dass es in der Bronzezeit jedenfalls regen Austausch zwischen Sardinien und dem östlichen Mittelmeer (Kreta, Mykene, Zypern) gab, ist ein Ergebnis neuerer Forschungen zu Nuraghen-Kultur. Zu den erwähnten Objekten tritt die Höhlenform der Hypogäen (aus dem Felsen gehauene Grabkammern).
25 Grab in Coddu Vecchiu, Sardinien (um 2200a)
Kreis und Gerade
Die Urformen, die bei den großen überirdischen kombinierten Anlagen in aller Regel realisiert wurden, sind der Kreis und die Gerade. Diese beiden Formen konnotieren das richtungslose Umschreiten und das richtungsbezogene, offene Abschreiten. Es ist die geschlossene und die offene Form, die sich aus der Polarität von dynamischer Zielgerichtetheit und der scheinbar sich im Kreis erschöpfenden Ganzheit und Ruhe ableiten ließen. Vermutlich waren die Megalithanlagen mit der Heiligkeit des Ortes aufgeladen. Vielleicht symbolisierten sie den (stabilen) Ort des Zyklus der Natur. Dann stünden sie für eine Sakralisierung des Zyklus, den der Mensch auf sich und seine Bedürfnisse hin funktionalisiert hatte.
van Scheltema 1950, 49
Dazu passt ihre gut belegte Funktion als Grablege. Der Neolithiker erhob das Grab zu einer »hervorragend bezeichneten, spezifisch geistigen und geheiligten Mitte, auf welche die endlose Natur ringsum bezogen erscheint. […] Schon die Dolmen, die ältesten Steingräber unseres nordischen Kulturkreises, zeigen mit bemerkenswerter Reinheit den Baugedanken: auf einem niedrigen Hügel als Postament erhebt sich ein Steinkranz um die freistehende, aus vier bis fünf Tragsteinen und einem gewaltigen Deckstein erbaute Grabkammer.«
Neben die Verwendung als Grabanlage treten in der Diskussion die astronomischen Bezüge. Solange diese sich auf Sonnen- oder Mondkulte beschränkt, besteht kaum ein Widerspruch zum Totenkult mit seinen Fortlebenserzählungen. Die Anordnungen bleiben auf vielfältige Bezüge offen, den Sonnen- und Lebenszyklus, aber auch auf phallische oder vaginale Symbolik.
Stein
Der ungeheure Aufwand, der mit derart aufwendigen Steinbauten verbunden war, lässt auf eine intensive Motivation schließen, auch eine Motivation dafür, genau dieses Material zu wählen. Man darf vermuten, dass der Stein mit verschiedenen Narrativen ausgestattet war. Neben der Dauerhaftigkeit ging es vermutlich auch um die Symbolik von Tod und neuem Leben. Durch die Durchdringung der Steine mit den beigesetzten Toten werden sie zur Quelle unendlichen Lebens. In der später erzählten hethitisch-hurritischen Kumarbi-Theogonie erzeugt Kumarbi durch Schwängerung eines Felsens Steinmenschen. Die Zyklen des Lebens werden in die Unvergänglichkeit des Steins gebannt, der wiederum die Mitte des Kosmos zeigt.
II.2.6.
Stimmte das, wäre der Stein keineswegs nur für Dauerhaftigkeit und Statik gestanden, sondern auch für eine Dynamik, die sich durch ihre Kreisform als statisch erwies. Dies lehrt auch ein Blick auf die spätere Kunst Ägyptens mit ihrer Ambivalenz von dynamischem Naturgeschehen, das auf das Material der Dauer, den Stein, graviert war. Ina Mahlstedt interpretiert den Stein als Symbolik »des Nicht-Seins« und des Todes, freilich meint sie nicht »den Tod als endgültiges Verlöschen«, sondern »als Kreislauf des Lebens.« Sie kritisiert Mircea Eliades Deutung des Steins als ausschließliches Symbol von Dauer, Ewigkeit und majestätischer Allmacht. Dies entspräche nicht dem Wesensmerkmal zyklischer Ordnung. Davon, dass in dieser Zeit der dynamische Aspekt eine wichtige Rolle spielte, ist mit Blick auf Schlangenmotive und das allgegenwärtige Spiralsymbol auch Marija Gimbutas überzeugt: »[…] ›making the world roll‹ with the energy of their spiralling bodies.« Folgte man dem Vorschlag, in dieser zyklischen Ordnung die Sicherung von Stabilität zu sehen, löste sich dieser Widerspruch auf. Der Stein dürfte demnach eine hohe Symbolkraft besessen haben. »Die steinerne Mächtigkeit dieser frühen Kultanlagen ist weniger bautechnisch als vielmehr religiös begründet.«
Mahlstedt 2004, 68
Gimbutas 1974, 94
Mahlstedt 2004, 8
Zweite 1997, 230
Dazu kam die Bedeutung der mit aufragendem und zeigendem Gestus ausgezeichneten Säule bzw. des Pfeilers: »Der senkrechte Pfahl hat immer auch die Bedeutung einer ›axis mundi‹ und gilt in vielen Kulturen als abstraktes Symbol der menschlichen Präsenz.«
Manchmal scheint die Säule als Sitz der Seele zu fungieren, vor allem als Symbol der Weltachse, die Himmel und Erde verbindet. In Căscioarele, südlich von Bukarest, wurden zwei Säulen aus sehr früher Zeit (vielleicht 4000) entdeckt, in denen man einen derartigen Säulenkult vermutet.
26 Dolmen mit geritzten Fußumrissen (2900–2000); MPC
II.1.2.2.1.
Nunn 2012, 95
Über ganz Zentraleuropa zog sich eine große Zahl von monumentalen, streng kreisförmigen Kultstätten mit einem durch Erdwälle und Palisaden geschützten Innenbereich. Die Erbauer – vermutlich neolithische Viehzüchter – scheinen in der Umgebung in festen Häusern gewohnt zu haben. In dem inzwischen dem Kohlebergbau gewichenen Dorf Eythra nahe Leipzig wurde eine solche Anlage mit 200 Langhäusern ausgegraben. Ihre Benützung datiert auf einen Zeitraum zwischen 7000 und 4500 Jahren. Nach 4000 verschwanden sie. Die Bauwerke werfen aufgrund ihrer Besonderheiten viele Fragen auf. Man hat den Eindruck einer genormten Bauweise mit einheitlichen Größen und Volumina. Die Wälle waren für Verteidigungs- oder Schutzzwecke ungeeignet. Eher dienten sie der symbolischen Abschirmung eines heiligen Bereichs, eine Funktion, die später Mauern übernahmen. Schließlich ging eine solche Funktion auf die Mauer der Siedlung und der Stadt über. Ihre Mächtigkeit stand bisweilen in keinem Verhältnis zu der zu beschützenden Siedlung. Mit Blick auf die kleine urukzeitliche Siedlung Abu Salabikh und ihre 15 Meter hohe Mauer meint Astrid Nunn: »Offenbar stellten Mauern bereits sehr früh auch einen symbolischen Wert für Stärke und Macht dar.«
Die polare Spannung von Kreis- und Linearform zeigt sich in Steinsetzungen, die als Allee ausgebildet waren. In Carnac, (Bretagne, ab ca. 4000) münden rund 3000 Menhire einer Anlage, die als offene Form angesprochen werden kann, in ein (geschlossenes) Halbrund.
Stonehenge
Ausdrücklich astronomisch-kosmische Deutungen ranken sich in der Rezeption um Anlagen wie jene von Stonehenge. Unbestritten sind kultische Funktionen, darunter die Benützung als Bestattungsort, wobei die Gräber im Reichtum ihrer Ausstattung sehr differieren. Die astronomische Bedeutung für die ab 3100 (Erdwall) bis 2500/2000 (Megalithstruktur; es gibt Neudatierungen, welche die Anlage rund 500 Jahre älter schätzen) entstandene Anlage ist gut belegbar. Verschiedentlich wird Stonehenge als Werk kontinentaler Erbauer angesehen, nicht zuletzt deshalb, weil es sich von anderen Steinkreisen auf den Britischen Inseln unterscheidet. Das am reichsten ausgestattete Grab in der Nähe von Stonehenge enthielt einen Notabeln (Bogenschütze von Amesbury), der aus dem Alpenraum stammte und Geräte bei sich hatte, die in Spanien gefertigt worden waren.
27 Stonehenge (um 2500a); Wiltshire
van Scheltema 1950, 50
Ebd., 58
Schon angesichts der unvorstellbaren Strapazen und der komplexen Logistik des Baus solcher gigantischer Anlagen muss man von einer ausgesprochen starken Motivation der Erbauer ausgehen. Dreihundert Tonnen schwer sind die Blöcke, die man, teilweise aus knapp 400 km Entfernung herangeschafft, am Ort aufrichtete, und hundert Tonnen wiegen die Platten, die mit aus dem Stein gehauenen Zapfverbindungen darauf gelegt wurden. Die Steine sind bearbeitet (es gab noch keine Metallwerkzeuge!). Manche von ihnen tragen Abbildungen (Gravuren), deren Sinn kaum mehr entschlüsselt werden kann. Die Achse des gebildeten Kreises ist auf den Sonnenaufgang am Tag der Sommersonnwende ausgerichtet. Stonehenge war – wie bei diesen Anlagen die Regel – zugleich Bestattungsort und damit Ausdruck eines gewaltigen Totenkults. Frederik Adama van Scheltema, der die Anlage als »Peterskirche unserer Vorzeit« bezeichnete, bestritt diese Funktion allerdings. Für ihn war Stonehenge »eine dem unlösbar miteinander verknüpften Sonnen- und Erdkult geweihte Stätte […].«
Hawkins 1966
König 1973, 64
Nach Gerald S. Hawkins umstrittener These wiederum war Stonehenge ein System der Kalenderbestimmung. Marie König verweist in ihrem ähnlich gelagerten Interesse auf sumerische Vorgaben, wonach die Beobachtung der Gestirne ein kultisches Gebot war. Solches konnte man von diesem »megalithischen Observatorium« aus durchführen.
Zu Stonehenge gehört das gut drei Kilometer entfernte rund-ovale Erdwerk Durrington Walls mit einem Durchmesser von 400 Metern samt einer kreisrunden Kultanlage aus Holzpfählen gegenüber dem Eingangstor. Außer einer generellen Himmelsausrichtung tut man sich schwer, besondere astronomische Codes zu finden.
Welche Formfindung auch immer die neolithischen Baumeister inspiriert und für welche Bedeutung sie Symbolkraft erlangt haben mag, ganz allgemein kann man jedenfalls von einem prägnanten Weltbild ausgehen. »Es ist der Gedanke der geordneten Kulturwelt, dem die Großsteinbauten Ausdruck verleihen. Dieser Plan ist immer wieder in die großen Steinplatten eingeschlagen worden und kündet vom Sieg des Geistes über die Natur.«
Ebd., 222
Zuntz 1971, 8, 25
König 1973, 205f
Dass Kreis und Gerade die Formen der Natur sind, liegt auf der Hand, insofern ist dieser »Sieg des Geistes über die Natur« zu relativieren. Die Kulturleistung besteht eher in einem höchst kreativen Entwerfen von kulturellen Erzählungen auf der Basis dessen, was die Natur dem Menschen vorlegte. Welche Erzählungen das gewesen sein könnten, wurde in 4.2. resümierend berichtet und es lässt sich zusammenfassen, dass die erste Architektur, namentlich Grabarchitektur, aus der formalen Umsetzung der Erfahrung des Zyklus von Leben und Tod geboren worden sein könnte. Dazu passten die in Europa und im Nahen und Mittleren Osten verbreiteten Spiralzeichnungen (auch als altes tantrisches Symbol bekannt), die als Wiedergeburtssymbolik gelten. Prägnant etwa im Umfeld des (ebenfalls auf den Sonnenlauf ausgerichteten) neolithischen Hügelgrabs von Newgrange (Irland, um 3000), wo sich in der Anlage die lineare Symbolik mit jener des Kreises trifft. In der dreidimensionalen Architektur lassen sich solche kulturelle Erzählungen performativ nachvollziehen. Nach Günther Zuntz vollzog der Myste durch die Gebärmutterform des Höhleneingangs ein Eindringen in den Schoß der Urmutter. »Vielleicht dachte man sich die ›Welthöhle‹ als Spiegelbild des Mutterschoßes. Der archaische Mensch fühlte sich noch im Kosmos geborgen ›wie das Kind im Mutterleib‹.«
Kreis, Gerade und ihre Verschneidung, die Spirale, das Dynamische und dessen Bannung im Stein wären dann als zentrale Topoi der gestaltenden Kunst aus dieser Zeit festzuhalten.