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3. Das Jagdfest und das Ansehen
ОглавлениеKörperliche Schönheit führt zu sozialer Geltung; soziale Geltung strebt danach, sich als anschauliche, körperliche Schönheit darzustellen und zu legitimieren. Darum geht es beim Jagdfest des Grundherren. Es wird als ein großes Schauspiel aufgezogen, das Zuschauer braucht.55 Um Ansehen geht es dabei im doppelten, im ästhetischen und sozialen Sinn. Die Herren56 wollen angesehen werden, um sich ihres Ansehens zu vergewissern. Deshalb ist das Volk unverzichtbar. Durch sein Zuschauen soll es die Geltung der Herren bestätigen. Darin vollziehen und erfahren die Herren ihre Geltung. So sind die Bewohner von Oberplan nicht nur Zaungäste, die aus der Ferne dem Treiben der Vornehmen zuschauen dürfen, sondern wesentlicher, unverzichtbarer Teil des Festes. Bei der Netzjagd sind für sie Tribünen aufgeschlagen, „denn die Herren hätten es selber gerne, wenn viele Zuschauer kämen und ihre Kunst bewunderten“ (410,3–5). Das Volk lässt sich bereitwillig darauf ein. Es kamen „sehr viele zum Zuschauen [...], und ihre Augen und Mienen verriethen fast die brennende Neugierde und das klopfende Herz“ (411,20–22). Zwar wird erwähnt, dass sich die Bewohner von Oberplan in soziale Schichten teilen, aber alle freuen sich, dass die Herren so „sehr leutselig“ (418,10) sind und nehmen begeistert am Fest teil. Ebenso ist es beim abschließenden Maskenball: „Unermeßliche Zuschauermengen strömten von allen Gegenden zusammen.“ (430, 26–27) Ein prächtiges Gebäude aus Holz, Blumen und Illuminationen sorgte für den überwältigenden Glanz des Festes. Bislang waren die Herren und ihre Frauen beim Jagdfest vielfältigen Belustigungen nachgegangen. Nun ist es für sie der Höhepunkt aller Vergnügungen, sich in ihrer „außerordentlichen“ Schönheit dem Volk zur Schau zu stellen und von ihm bewundert zu werden.
Damit hat das Jagdfest Rückwirkungen auf das Volk. Sein „Vorstellungskreis“ (418,3) wird – im wörtlichen Sinn – „verrükt“.57 Alles geschieht „nach ganz anderem Maßstabe“ (419,20). „Es kam ihnen vor, als ob Jahrmarkt wäre, oder als ob Theaterspieler gekommen wären, oder als ob zur Fastnachtszeit Vermummungen aufgeführt würden.“ (418,4–6) Zusammenfassend heißt es: Alle hatten nur noch „schöne Kleider und Hoffahrt“ vor Augen (419,22).58 Campes „Wörterbuch“ definiert: Hoffart ist „derjenige Stolz, welcher sich durch äußeres Gepränge, Aufwand in Kleidung etc. äußert, also mit einem hohen Grade der Eitelkeit verbunden ist und sich mehr bei geringern Personen findet.“59 In diesem Wort „Hoffart“ fasst Stifter seine Kritik an Herren und Volk zusammen.
In den Partien der Teile 3 und 4, die das Jagdfest beschreiben, findet sich auffallend häufig das Wort „alle“ bzw. „allgemein“: „... und da das Vergnügen allgemein gewesen war, so redeten jezt auch Alle miteinander“ (413,8–9). Das Jagdfest wird als ein suggestives Geschehen beschrieben, das Herren und Volk gleichermaßen begeistert und zusammenführt – zu einer Einhelligkeit, die alle blendet.60
Folge dieser kollektiven Berauschtheit ist es, dass erst ein „Mann aus dem Volke“ (413,22–23), dann ihm folgend das ganze Volk „gleichsam mit einer Stimme“ (413,31), Hanna und Guido zum schönsten Paar ausruft. Diese Akklamation betrifft das Volk sowie Hanna und Guido auf je spezifische Weise. Schaut man auf das Volk, so spiegelt der spontane Ruf eine kollektive Stimmung, keinen rationalen, ernsthaften Plan. Das Fest hat das Volk ausgelassen gemacht; in seinem spontanen Ruf fasst es den Kult der Schönheit und die Tendenz zur Aufhebung der Standesunterschiede zusammen, die sich beim Fest zeigen. Schaut man auf Hanna, so ertappt sie dieser Ruf bei ihren tiefsten Wünschen und Erwartungen. Durch die Nähe des vornehmen Herrn, der sie mit „scharlachroth[em]“ Gesicht anblickt (414,1–2), sind ihre hochgespannten Erwartungen, die sie bei der Erstbeichte erstmals äußerte, nicht mehr völlig irreal.
Die Szene könnte ein lustiges Intermezzo bleiben, wenn Guido anders reagiert hätte. Aber er lässt sich von diesem Ruf leiten, er begehrt Hanna und heiratet sie sogar – offenbar, weil er zusammen mit ihr als das schönste Paar bewundert werden will. Sein ganzes Verhalten zeigt diese Orientierung an der Meinung und Anerkennung der anderen: Er fällt auf und will gefallen. Deshalb verstößt er gegen die gesellschaftlichen Konventionen. Er liebt es, „der allgemeinen Sitte zuwider“ zu handeln (413,13–14); er schießt riskant und beweist so, welch ein guter Schütze er ist; seine prächtige Kleidung sticht in die Augen, und unter den Herren ist einzig sein Haar ungepudert (413,12–17).61
Die Motivation von Hanna und Guido ist nur indirekt zu erschließen. Hannas Zuwendung zu Guido erscheint als Konsequenz ihres Verhaltens seit dem Erstbeichttag. Es wird kein Wort Hannas oder Guidos berichtet, mit dem sie ihre Heirat rechtfertigen; auch der Erzähler gibt keinen direkten Kommentar. Das entspricht Stifters Stil, dessen „Erzählstandpunkt“ sich strikt auf die „Außensicht“ beschränkt62 und damit auf die Allwissenheit des Erzählers verzichtet, also auf direkte Einblicke in das Innere seiner Personen, auf den Gebrauch psychologischer Kategorien, auf die Beschreibung von Bewusstseinsvorgängen wie Denken und Fühlen, schließlich auch auf den „auktorialen Kommentar“.63 Entsprechend werden die Emotionen von Hanna und Guido nur indirekt angesprochen. „Der menschliche Körper dient als Ausdrucksträger des Seelischen.“64 Angesichts der bewundernden Rufe des Volkes bei ihrer ersten Begegnung reagieren beide ähnlich: Sein Gesicht wird „scharlachroth“ (414,1–2); „ihr Antlitz gleichsam mit dem dunkelsten Blute übergossen“ (414,6–7). Hannas Verhalten wird noch weiter beschrieben: „Sie sah ihn eine Weile mit offenen Augen an, dann drängte sie sich unter das Volk und ging über die Treppe hinab. Ihr Benehmen war wie das einer Trunkenen.“ (414,7–9) Das Erröten der beiden und Hannas schwankender Gang machen deutlich, wie sehr sie der Ruf des Volkes getroffen hat.65 Diese knappe Beschränkung des Erzählers auf unwillkürliche, averbale Reaktionen wirkt eindringlicher als wortreiche Beschreibungen. Ähnlich wird nur in „Außensicht“ von der Werbung Guidos bei Hanna berichtet. Guido hat man „vor ihr im hohen Erlengebüsche auf den Knieen liegen gesehen, ihre Hand mit inbrünstigem Bitten haltend“ (418,20–22).66
Nach Meinung des Erzählers ist die Heirat von Hanna und Guido keineswegs eine „Liebesheirat zwischen Arm und Reich“,67 sondern törichter Leichtsinn. So wie die Jagdgesellschaft sich darstellt, besteht sie aus Menschen, die zur Liebe unfähig sind. Dafür gibt es ein Indiz, auf das schon J. P. Stern aufmerksam gemacht hat – die Szene aus dem 4. Teil, in der den Herren ihr Standort bei der Treibjagd zugeteilt wird. Sie werden namentlich aufgerufen und antworten stets mit „Weiß sie nicht“, „Weiß sie“ oder ähnlich (422). Dass sie nie „Ich“ sagen, kritisiert Stern als Zeichen für Stifters „Entpersönlichung“.68 Doch, wenn man – was weiter unten geschehen soll – den Gebrauch des Wortes „Ich“ im „Tännling“ untersucht, zeigt sich, dass diese Stelle als harte Kritik an den Herren – also auch an Guido – zu verstehen ist.
Kritik zeigt sich ebenso im Gebrauch des Wortes „Liebe“. Bei der Freundschaft von Hanna und Hanns reden zumindest die Leute von Liebe; sie sagen, Hanna „fürchte und liebe ihn“ (396,8). Am Schluss von Teil 1 heißt es – wie schon zitiert: „Alle Menschen wußten, daß sie Liebende und Geliebte seien.“ (396,23–24) Auch wird nur bei Hanns von seiner Liebe zu Hanna gesprochen: „Die Liebe, die Zuneigung und die Anhänglichkeit wuchs immer mehr und mehr. Hanns that Alles, was ihm sein Herz einflößte.“ (404,27–29)69 Später, bei der Verbindung von Hanna und Guido, wird das Wort „Liebe“ nicht gebraucht.
Weiter wird mit einer gewissen Betonung gesagt: „Da wollte es der Zufall ...“ (413,9), dass Hanna neben Guido zu stehen kam. Das Wort „Zufall“ ist zu beachten. Denn ein paar Seiten später wird noch einmal von ihrem „zufälligen Nebeneinanderstehen“ gesprochen (418,13). Dieses ist nicht nur Anlass für die Verbindung von Hanna und Guido, es ist – zumindest von Guidos Seite her – zudem der entscheidende Grund für die Heirat: der Eindruck, den ihre gemeinsame Schönheit auf das Volk macht.
Auf eine Differenz zwischen Guido und Hanna ist hinzuweisen: An ihrem Erstbeichttag glänzten ihre Gefährtinnen durch feine Kleidung und gepudertes Haar. Sie dagegen trug ein grobes Kleid und litt darunter, dass die Mutter ihr keinen Puder kaufen konnte (392,22–27). Später beim Jagdfest ist dann allein Guido nicht gepudert. Während die anderen Herren alle weiß gepudert sind (411,4), will Guido mit seinen schönen Locken auffallen (413,14–16). Was soll diese Differenz bedeuten? Sie mag auf die unterschiedlichen Ausgangspunkte hinweisen: Hanna will ihre Schönheit in Reichtum verwandeln. Guido ist sein Reichtum so selbstverständlich, dass er seine Schönheit in der Unterscheidung von seinen Standesgenossen zur Geltung bringen will – er will anders sein als sie.70
Charakteristikum dieser adeligen Gesellschaft ist die Orientierung an glänzender Selbstdarstellung, am Scheinen. Die kostbaren Kleider, die ihr so wichtig sind, bezeugen, dass es ihr vor allem um ihr Ansehen, ihre Geltung bei den anderen geht. Wenn aber so das Ansehen bei den anderen, ihre Anerkennung oder Bewunderung zum entscheidenden Kriterium des Handelns und Verhaltens wird, macht man sich von den anderen, ihren Erwartungen und Meinungen abhängig, wie das bei Guido besonders deutlich wird. Das alles ist kritisch gemeint. Die Erzählung tadelt die Herren, weil sie die Maßstäbe des Volkes verderben, es zu einem illusionären Rausch verlocken. Dem Volk wird vorgeworfen, dass es sich so selbstverständlich darauf einlässt. Niemand distanziert sich von diesem Jahrmarktstreiben.
Dabei kann man das Jagdfest nicht als den Einbruch verdorbener höfischer Lebensweise in die archaisch heile Welt von Oberplan verstehen. Dazu lässt sich das Volk zu bereitwillig auf das Fest ein. Schon oben wurde auf die Spannung zwischen Oberplan und den Dörfern in seiner Umgebung hingewiesen. Sie wird durch das Erscheinen der Jagdgesellschaft gewissermaßen aktiviert. Von Jugend an orientiert sich Hanna an den Werten, die auch die Herren bestimmen; bei Hanns ist es anfangs ähnlich. Das Erscheinen der Herren hat Neigungen verstärkt, die schon vorher in Oberplan und seiner Umgebung virulent waren, aber bislang nicht offen hervorgetreten sind. Auch deshalb hat die Erzählung drei Hauptfiguren: Hanna und Hanns repräsentieren die beiden unterschiedlichen Lebensmöglichkeiten, die in der Gegend von Oberplan nebeneinander stehen; Guido dagegen repräsentiert die Lebensweise der Herren allein, weil es bei ihnen nichts zu differenzieren gibt.
Der Leser soll sehen, dass sich in dieser Heirat die Faszination außerordentlicher Schönheit ad absurdum führt, sie zeigt die Gefährdung dieser Gesellschaft, ihre innere Hohlheit und Oberflächlichkeit. Zudem richtet sich der Ruf des Volkes „Das ist das schönste Paar“ negativ gegen Hanns. Der Ruf ist auch als mehr oder weniger aggressive Äußerung des Unbehagens über die unmögliche Verbindung von Hanns und Hanna zu verstehen,71 als ein Anruf an Hanna, sich nicht auf einen so unansehnlichen Kerl einzulassen. Erst durch die unvorhergesehene Reaktion Guidos gewinnt die Akklamation eine positive Bedeutung. In dieser Rücksichtslosigkeit des Volkes Hanns gegenüber kommt die Wahrheit des Festes zutage. Die Orientierung an der Schönheit, das Streben nach Ansehen zerstört die Ordnung, droht in Gewalttätigkeit und sogar Mord abzugleiten.