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4. Gewalt als Konsequenz

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Hanna und Guido werden vom Volk als schönstes Paar ausgerufen, obwohl es weiß, dass Hanna schon mit Hanns verbunden ist. Mehrmals wird hervorgehoben, dass alle das wissen – so schon im Schlusssatz von Teil 2: „Alle Menschen wußten, daß sie Liebende und Geliebte seien.“ (396,23–24) Als Hanns später die Wallfahrtskirche betritt, um für das Gelingen seines Anschlags zu beten, trifft er dort „zwei sehr alte Mütterlein, die vielleicht die einzigen waren, welche von dem Verhältnisse zwischen Hanna und Hanns nichts wußten“ (424,25–27). Sogar die Kinder wissen darum: Als Hanns auf dem Weg zur Wallfahrtskirche ist, sieht ihn ein Mädchen und macht seine Mutter auf ihn aufmerksam. „ ‚Laß ihn gehen‘, sagte diese, ‚das ist eine sehr unglükselige Geschichte.‘ “ (423,28–29)72

Das Volk hat Hanns in eine Lage gebracht, dass ihm – beachtet man, wie er sich bislang in Konflikten verhalten hat – keine andere Möglichkeit bleibt, als sich gewaltsam gegen den erfolgreichen Rivalen zu wenden. Gegen Schluss von Teil 1 heißt es von Hanns: Er „litt keinen Schimpf und Hohn, wie gering er auch war, sondern nahm den Schimpfenden an dem Kragen des Hemdes oder an der Schulter, und warf ihn in das Gras, oder in den Sand, oder in eine Rinne, wie es kam“ (396,12–15). In Teil 2 heißt es: „Hanns war wie ein König in seinem [...] Schlage.“ (400,27–29) Als einer der drei Gründe für sein Ansehen wird angeführt: „... theils scheuten sich manche, weil er große Körperkräfte besaß“ (400,31–32) – sich also in körperlichen Auseinandersetzungen durchzusetzen wusste. Das herausfordernde oder einschüchternde Auftreten von Hanns mag sich in der Aussage spiegeln: „... die Leute sagten, Hanna fürchte und liebe ihn“ (396,7–8).73 Es ist naheliegend, dass ein Holzfäller mit so „ungemeiner Kraft in seinem Körper“ (396,7) zu seinem vertrauten Werkzeug als Mordwaffe greift. Schon in Teil 2 wird bei der Beschreibung von Hanns’ Arbeit im Wald hervorgehoben, dass er oft „die Axt oder die Keile auf der Schulter tragend“ auftritt (403, 22–23), wie es bei den Holzfällern üblich ist (400,17–18).

Gemeinsam drängen die Herren, Hanna und das Volk Hanns in eine Situation, in der Gewalt für ihn fast unausweichlich wird. Damit kommt seine Rolle einem Sündenbock recht nahe. Diesen Vergleich rechtfertigt auch der Bezug auf weit verbreitete Sündenbock-Motive: Hanns ist ziemlich unansehnlich – „vielleicht weniger schön, als alle Andern“ (396,5–6). Zudem hat er „röthlich leuchtendes Haar“ (401,16), ein traditionelles Zeichen, das Außenseiter und Bösewichte kennzeichnet.74 Das Volk ist vom Jagdfest und der Schönheit, die es feiert, so fasziniert, dass ihm die Unansehnlichkeit von Hanns anstößig wird. Hanns wird zum Außenseiter gemacht. Man kann fast sagen: Er wird dafür bestraft, dass er nicht schön ist. Oder: Das Volk bestraft ihn für den Ehrgeiz, Hanna erobern zu wollen.

Die Aggressivität des Jagdfestes hat eine Dynamik, die auf den Menschen ausgreift.75 Auf Hanns konzentriert sich die latente Gewalttätigkeit der Gesellschaft. Erst treibt sie ihn in die Enge, dass ihm Gewalt als einziger Ausweg erscheint, aber beginge er dann einen Mord, würde sie sich mit aller Wucht gegen ihn wenden. Nur weil Hanns fast in letzter Minute seinen Mordplan aufgibt, kann diese Dynamik ins Leere laufen.

Eine analoge Situation gab es schon bei der früheren Netzjagd, die der alte Schmied als Kind miterlebt hat: Damals war ein Bär ins Netz geraten,76 er diente „bald zum allgemeinen Ergözen [...], indem Jeder so schnell als möglich sein Geschik an ihm versuchen wollte“ (406,28–29). Obwohl bereits verwundet, gelang es dem Bären, das „furchtbar starke Geflecht“ zu zerreißen (407,1): „Der Bär und der ganze gehezte Schwarm, der noch übrig war, fuhr nun mit großem Getöse durch das Loch hinaus ...“ (407,4–6) Entsprechend wird vor der zweiten Netzjagd gefragt, ob sich unter dem eingekesselten Wild ein Bär befinde. Die Antwort lautet: „Ob ein Bär eingegangen sei, wisse man nicht genau, aber gewiß sei auch einer darunter.“ (409,27–29) Zwischen der Netzjagd und dem Schicksal von Hanns besteht eine Analogie. Wie es dem Bären gelungen ist, der tödlichen Hetzjagd zu entkommen, so wird sich Hanns seinem Verhängnis entziehen.

Dass Gewalt Gegengewalt herausfordert, dass das Jagdfest in ein allgemeines Chaos zu führen droht, wird auch indirekt angedeutet: Bei der Netzjagd bildeten Herren und Volk einen Ring um die Tiere in der Mitte. Bei den anschließenden Festen bildet das Volk einen Ring um die Herren in der Mitte77 und schaut ihrem Treiben staunend zu – zuerst beim „Mittagsmahl“ nach der Netzjagd (415,9), dann zum Schluss beim nächtlichen „Tanzfest“ (430,24).

Bei diesem Maskenball wird der gewalttätige Hintergrund des Jagdfestes direkt angesprochen: „Das Höchste waren Spiele und Masken. Es waren Schäfer und Schäferinnen, Bauern und Bäuerinnen, Jäger, Bergleute, Zauberinnen, dann Götter und Göttinnen, insbesondere Venus und Adonis zugegen. Hanna nahm schon an dem Feste in dem kostbaren Gewande der vornehmen Frauen Antheil.“ (431,4–9) Hanna wird Gestalten der antiken Mythologie zugesellt. Man erinnere sich: Auch Adonis war „außerordentlich schön“ und deshalb wurde er zum Geliebten der Venus bzw. der Aphrodite. Er war ein leidenschaftlicher Jäger, Venus mahnte ihn immer zur Vorsicht. Umsonst – er wurde von einem wilden Eber getötet, der vom eifersüchtigen Mars bzw. Ares geschickt war.78 Also: Nichtsahnend spielen die adeligen Herren auf dem Fest, was in diesen Tagen – durch ihren Leichtsinn provoziert – beinahe Realität geworden wäre: die Tötung des Schönlings durch den eifersüchtigen Rivalen. In dem unscheinbaren Hinweis auf Venus und Adonis erreicht die hintergründige Kritik am Jagdfest ihre Spitze. Dieser Maskenball ist ein Tanz auf dem Vulkan. Die Kehrseite der Schönheit, die die Jagdgesellschaft feiert, ist Rivalität und Mord. Oben hatte es bei der Netzjagd geheißen, die Frauen der Jagdgesellschaft dürften nicht selbst jagen; „die Sitte erlaube nicht einmal, daß die Frauen bei dem Tödten der Thiere zugegen seien, weil sie zu zart und zu fein sind, so daß sich nur das Schäferspiel für sie schike“ (411,14–17). Jetzt, in der Rückschau muss man feststellen, dass das nur ein Moment im Selbstbetrug ist, den diese Gesellschaft inszeniert.

Verblendung, Volksglaube und Ethos

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