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5. Die Verblendung von Herren und Volk

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Herren wie Volk sind gleichermaßen in Blindheit und Verblendung gefangen;79 sie können den inneren Zusammenhang zwischen ihrer Fixierung auf Schönheit als äußerlichem Ansehen und der Gewalt nicht sehen, wollen ihn nicht sehen. Es besteht ein greller Gegensatz zwischen dem Streben von Herren und Volk nach Ansehen und ihrer Unfähigkeit zur Selbstwahrnehmung, geschweige zur Selbstkritik. Die Gewalt, in Form der Jagd noch gehegt und begrenzt, droht auszubrechen und sich gegen Menschen zu richten. Zwischen dem Streben nach Schönheit und der Gewalt besteht ein innerer Zusammenhang, den Herren und Volk weder erkennen wollen noch erkennen können. Verblendete können ihre Situation nicht durchschauen. Der „Tännling“ beschreibt sie, überlässt es aber dem Leser, das zu erfassen.

Ist damit die Bedeutung der Verblendung in der Erzählung nicht zu stark betont? Das Wort kommt nur einmal vor, als die Leute kritisieren, wie sich Hanns gegen Hanna verhält: „... daß er so verblendet ist, und ihr Alles anhängt“ (402,31–32).80 Doch ist die Erwähnung der Masken von Venus und Adonis ein zwar zurückhaltender, aber eindeutiger Hinweis. Vor allem ist die „Erscheinung“ am beschriebenen Tännling als Befreiung des Hanns von Blindheit bzw. Verblendung zu verstehen, die allein er erfährt, wie weiter unten analysiert wird.

Um Verblendung geht es auch in einem anderen Werk Stifters, der kleinen Erzählung „Zuversicht“ aus dem Jahre 1846 (HKG 3,1; 83–91), auf die kurz eingegangen sei. Sie berichtet von einer „großen Gesellschaft“ (85,1), in der sich das Gespräch auf eine Diskussion über die französische Revolution zuspitzt, besonders darauf, dass viele ihrer Akteure Untaten begangen haben, die man ihnen nie zugetraut hätte. Nach längerem Hin und Her einigt man sich auf die „Phrase [...], daß es ein Unglück sei, daß gerade diese merkwürdige Zeit auf Menschen getroffen sei, die in ihrer entsetzlichen Gemüthsart dieselbe verdreht haben und ihr einen so abscheulichen Stempel aufdrückten, daß sich jedes Gefühl davon abwenden müsse“ (85,22–86,1). Da widerspricht ein alter Mann, der bislang noch kein Wort gesagt hatte: Nicht die Zeit sei auf problematische Charaktere gestoßen, vielmehr habe sie dieselben gemacht: „Mancher, der einen ganzen Berg von Thaten gethürmt hatte, und zuletzt davon erdrückt worden war, wäre zu einer andern Zeit ein harmloser Mensch und ein guter Hausvater gewesen.“ (86,6–9) Als ihm das bestritten wird, geht er noch weiter: „Wir Alle haben eine tigerhafte Anlage, so wie wir eine himmlische haben, und wenn die tigerartige nicht geweckt wird, so meinen wir, sie sei gar nicht da, und es herrsche blos die himmlische, darum beurtheilen wir die Charaktere stürmender Zeiten so ganz unrecht.“ (86,13–17) Als eine Dame darauf beharrt, es gäbe doch „gewisse Dinge [...], von denen man gewiß weiß, daß man nie fähig wäre, sie zu begehen“ (87,3–4), erzählt er die Geschichte eines Vatermords, zu dem es in den Wirren der Revolution gekommen ist. Danach ruht das Gespräch „eine Weile“ (91,3) und wendet sich dann gleichgültigen Dingen zu: „Da die Stunde der Trennung gekommen, sagten sie sich schöne Dinge, gingen nach Hause, lagen in ihren Betten und waren froh, daß sie keine schweren Sünden auf dem Gewissen hätten.“ (91,11–13)

Der Titel „Zuversicht“ mag befremden;81 er wird verständlich, wenn man ihn mit dem eben zitierten Schlussabsatz verbindet; er ist ein ironischer Kommentar zur Gemütsruhe, mit der sich die guten Bürger zu Bett begeben.82 Es wäre besser um sie bestellt, wenn ein solches Gespräch sie nicht schlafen ließe und sie sich nach ihrer tigerhaften Anlage fragten.83 Im „Tännling“ geht es um das Böse, das im Hinter- oder Untergrund menschlichen Handelns wirkt und zum Ausbruch drängt. Es geht darum, sich diese Gefährdung einzugestehen und so die eigene Blindheit zu erkennen.84 Das ist ein personales Geschehen und deshalb wird dem Kollektiv der Jagdgesellschaft, zu der sich Herren und Volk zusammengefunden haben, ein einzelner gegenübergestellt: Hanns, der einsam im Wald seinen Ausweg aus der Krise findet.

Verblendung, Volksglaube und Ethos

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