Читать книгу Das letzte Sandkorn - Bernhard Giersche - Страница 11
Evelyn I
ОглавлениеAls sie die Botschaft ihres Herrn erhielt, war Evelyn Passmann gerade mit dem Auto unterwegs, um letzte Besorgungen zu machen. Schon heute Nachmittag sollte es mit der Fähre Richtung Kopenhagen gehen.
Das letzte Nest vor dem Fährterminal nannte sich Puttgarden und war völlig überfüllt mit dänischen und deutschen Touristen, die hier ihre Besorgungen machten. Die Dänen kauften Bier und Schnaps, , um so der hohen Alkoholsteuer in Skandinavien zu entgehen. Kontrollen waren eher selten und so bog sich manche Sack-Karre unter der Last der transportierten Alkoholika.
Die Deutschen kauften ebenfalls Bier und Schnaps und brachten diese Vorräte zu einem der vielen Campingplätze hier in der Gegend, wo diese während nicht enden wollender Grillmarathons, den ihnen zugedachten Zweck erfüllten.
Evelyn bog gerade auf den Parkplatz zum Supermarkt ein, als sie, wie die anderen sieben Milliarden Menschen auch, den Auftrag erhielt, besser gesagt, die Chance erhielt, die Welt zu retten, bevor sie der Allmächtige zerstören würde.
Als hätte jemand einen gigantischen Gong bedient, waren alle Menschen, Dänen und Deutsche, kleine und große, mitten in ihren Bewegungen erstarrt. Es waren Dutzende Menschen unterwegs um diese Uhrzeit, denn es war ein herrlicher Sommertag. Bis vor wenigen Sekunden herrschte das normale geschäftige Treiben eines Supermarktparkplatzes, Autos parkten ein oder aus, Einkaufswagen ratterten über den Asphalt, Kinder riefen, Mütter schimpften, alles kunterbunt und sommerlich.
Und auf einmal hielten alle im exakt selben Moment inne und lauschten gezwungenermaßen der Stimme in ihrem Kopf.
Als die Botschaft verklungen war, nahmen sie nicht etwa ihre Tätigkeiten wieder auf. Sie wandten sich voneinander ab, Väter blickten ihre Kinder und Frauen an, als hätten sie sie noch nie gesehen und keiner wollte mehr Bier und Schnaps oder Grillwürstchen kaufen.
Die Kassierer des Supermarktes wollten auch nicht mehr kassieren und der Marktleiter wollte den Markt nicht mehr leiten.
Niemand wollte noch irgendetwas tun, außer, die Welt zu retten. Denn jeder von ihnen war von Gott berufen worden, jeder von ihnen als Einziger der sieben Milliarden Seelen.
Kurz bevor Evelyn mit ihrem Wagen gegen eine große Werbetafel prallen würde, erwachte auch sie aus ihrer Starre und trat auf die Bremse. Außerhalb des Autos war mittlerweile das Chaos ausgebrochen. Menschen liefen durcheinander und die meisten eilten zu ihren Autos. Sie sah wie in Trance, wie ein Mann eine Frau grob an den Armen fasste und ihr den Wagenschlüssel entriss, sie dann so heftig schubste, dass sie hinfiel und auf ihrem buntberockten Hintern landete. Doch statt in Tränen auszubrechen, rappelte die Frau sich erstaunlich schnell auf, sprang den Mann von hinten an und schlug mit den Fäusten auf seinen Kopf ein. »Gib mir den Schlüssel, du Wichser«, konnte sie deutlich hören, schließlich waren die Fenster heruntergekurbelt. Überall spielten sich ähnliche Szenen ab, und trotz ihrer Benommenheit brachte sie die Konzentration auf, ihr Auto vom Parkplatz, der so plötzlich zu einem Tollhaus geworden war, zu steuern und aus dem Chaos herauszulenken. Auf den Gehwegen Puttgardens liefen, nein, rannten Menschen hin und her, jeder hatte scheinbar ein sehr konkretes Ziel und eilte dorthin. Und auch sie musste nun handeln.
Wer war schuld an all dem? Gott hatte ihr eine Chance gegeben, das Ende der Menschheit zu verhindern. Waren es nicht all jene, die ohne jede Moral und ohne jedes Mitgefühl Menschen wie sie ausnutzten, nur um Geld zu horten wie Stroh?
Die, die immer davon redeten, dass nur schöne Menschen ihre Daseinsberechtigung hatten, und die andere ablehnten, nur weil sie nicht den Schönheitsidealen entsprachen? Diese selbstgerechten Modezaren, diese Manager, die andere zu einer bestimmten Art von Prostitution zwangen? Sie schämte sich, selbst bei diesem Spiel mitgemacht zu haben. Die waren schuld, die, die jede Moral und jede Ethik über Bord geworfen hatten, um Gottes Gaben für sich alleine zusammenzuraffen. Sie wusste, wohin sie musste, um diejenigen dafür bezahlen zu lassen, die verantwortlich waren für Gottes Entschluss. Mit verengten Augen trat sie das Gaspedal durch, innerlich bebend vor Zorn auf die Schuldigen.
Plötzlich sprang ein beleibter Mann mit glänzender Halbglatze und hochrotem Kopf direkt vor ihr auf die Straße und sie konnte wieder nur in letzter Sekunde das Auto zum Halten bringen.
Der Mann schlug mit beiden Händen auf die Motorhaube und trat dann erstaunlich behände an ihre Tür, riss sie auf und fasste sie sehr grob an den Arm, um sie herauszuziehen.
»Raus da, ich muss das Auto haben«, brüllte der Mann ihr ins Ohr und nur der Gurt verhinderte, dass er sie aus dem Wagen zerren und auf die Straße werfen konnte.
Sie trat instinktiv das Gaspedal durch und mit quietschenden Reifen schoss das Auto vorwärts, den schwitzenden Mann mit sich reißend. Der brüllte wie am Spieß und ließ dennoch nicht ihren Arm los.
Der Schmerz in ihrem Arm war unerträglich, so sehr krallte der Mann sich fest. Die offene Fahrertür schlug gegen den Kopf des Mannes und endlich ließ er los.
Im Rückspiegel sah sie ihn über die Straße rollen. Die Verletzungen an seinen nackten Beinen und den halb abgerissenen Fuß sah sie nicht.
Das Blut schien in ihren Adern zu kochen, sie atmete schnell, und ihr ganzer Körper war mit einem Schweißfilm überzogen. Evelyn hatte das Gefühl, ihre Knochen seien aus Gummi, und sie zitterte am ganzen Körper. Das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf übertönte jedes Geräusch, und sie raste heraus aus Puttgarden und bog nach rechts in Richtung Lübeck ab. Völlig außer sich nahm sie nicht wahr, dass von hinten ein schwarzer Mercedes heranraste und sie überholte. Der Fahrer des schweren Wagens lenkte diesen viel zu früh wieder auf ihre Spur und so knallte der Kofferraum seitlich mit großer Wucht gegen ihre Motorhaube. Sie fuhr nur einen kleinen VW Polo und die Wucht des Aufpralls reichte aus, um ihren Wagen von der Straße zu drücken.
Die Reifen verließen den Asphalt, der Wagen schoss mit hoher Geschwindigkeit über den Straßengraben und landete auf dem Acker rechts der Landstraße. Der Polo überschlug sich in Längsrichtung, rutschte noch wenige Meter auf dem Dach weiter und kam zum Stehen.
Sie hatte die ganze Zeit geschrien, unfähig, an dem Unfallverlauf irgendetwas zu ändern. In dem Moment, in dem sich der Wagen in den Acker bohrte, löste der Airbag aus und verhinderte so schwerere Verletzungen. Die Sekunden, bis das Auto zum Stillstand kam, waren unerträglich lang für sie, und mit einem Mal war Stille, von dem Ticken des Motors abgesehen. Kopfüber hing sie in ihrem Gurt und eine gnädige Ohnmacht hatte Evelyn Passmann, Fotomodell und Mannequin, für den Moment erlöst.
»Ich muss die Fähre kriegen«, war das Erste, was sie dachte, als sie langsam ihr Bewusstsein wiedererlangte. Danach strömten die Bilder des dicken Mannes, der sie aus dem Auto zerren wollte, und sein anschließender Purzelbaum auf der Straße, in den Kopf. Sie öffnete die Augen und bemerkte erstaunt, dass der Himmel erdfarben war und nach Gülle roch. Nach und nach kam die Erinnerung an den Unfall, an den schwarzen Wagen, der sie von der Straße gedrängt hatte, an den kurzen Flug über den Straßengraben und die harte Landung zurück. Endlich wurde Evelyn klar, dass sie kopfüber in ihrem Gurt hing und machte sich am Gurtverschluss zu schaffen. Mit einem »Klick« gab der Verschluss den Gurt frei und sie fiel unsanft auf den Kopf.
Da das Dach des Polo auf der Beifahrerseite stark eingedrückt war, war es sehr eng in dem Fahrzeug. Sie lag nun auf ihrem Nacken, die Knie am Lenkrad. Sie versuchte gar nicht erst, ihre Tür zu öffnen, sondern kroch nach einigen Verrenkungen durch das Fenster der Fahrertür.
Ihre Jeans war am rechten Knie zerrissen und etwas Blut hatte das Loch rot umrahmt.
Sie spürte Schmerzen an der Stirn, dort wo der Airbag sie getroffen hatte.
Evelyn hielt sich am Radkasten des Hinterrades fest, als ihr schlecht wurde und sie in einem hohen Bogen ihren Mageninhalt auf den Acker spie. Sterne tanzten vor ihren Augen, und bevor sie auch nur die Chance erhielt, ihre Gedanken zu ordnen, verlor sie erneut das Bewusstsein.
Nach weniger als fünf Minuten öffnete Evelyn wieder die Augen.
Sie lag neben ihrem Auto, das wie ein Käfer auf dem Rücken lag und seine Beine in den Himmel reckte, und blinzelte in die Sonne.
»Ich heiße Evelyn Passmann, bin 24 Jahre alt und Fotomodell«, murmelte sie. »Mama und Papa leben in Köln, und ich wohne in Düsseldorf.« Der Geruch von Gülle durchdrang die Realität wie eine olfaktorische Bombe.
»Es stinkt«, dachte sie.
»Ich muss doch die Fähre kriegen«, dachte sie und wandte den Kopf nach rechts, wo ihr zerstörter Wagen lag.
»Ich hatte einen Unfall«, konstatierte sie in geradezu karikaturhafter Naivität, die ihre Wurzeln in dem Schockzustand hatte, in dem sie sich befand.
Sie lag immer noch auf dem von Gülle durchtränkten Ackerboden, als sie begann, ihren Körper auf Verletzungen zu untersuchen. »Rechter Arm? Ok. Linker Arm ... naja, fast ok. Beine: Null Defekte, außer der Wunde am rechten Knie. Im Nacken tut es weh und das Gesicht fühlt sich an, als wäre da einiges verändert worden. Die Nase ist zugeschwollen ...«
Langsam versuchte sie, sich aufzurichten. Der Motor des zertrümmerten Polo tickte noch immer, und auf einmal bekam sie Angst, dass das Auto wie in diesen Hollywood-Filmen explodieren könnte. Hastig robbte sie einige Meter weg von ihrem Wagen.
Warum kam denn keiner, um ihr zu helfen?
Der dicke Mann. Was hatte der von ihr gewollt?
Sie bekam das nicht wirklich in den Kopf. Sie wollte einkaufen. Ja. Das wollte sie. Da war ein Supermarkt. Und der dicke Mann. Und ein dunkles Auto und dann Krach, Bumm, Peng.
»Ich muss die Polizei rufen!«. Der erste vernünftige Gedanke.
Ihr Handy lag allerdings im Wagen, und so fasste sie sich ein Herz und kroch zu dem Trümmerhaufen zurück. Sie blickte in das Innere
des Autos und sah ihr Mobiltelefon auf dem stoffbespannten Himmel des Polo liegen, der jetzt den Boden bildete. Es gelang ihr, ihren Arm so weit in das Auto zu schieben, dass sie ihr Handy greifen und an sich nehmen konnte. »Kein Netz«, lautete die Botschaft auf dem Display.
Evelyn Passmann nahm einen tiefen Atemzug und zog sich am Radkasten des Polo auf die Beine. Dann wandte sie sich Richtung Straße, und zwar genau in dem Augenblick, in dem ein Lastzug, von rechts aus Richtung des Fährterminals kommend, mit vollen neunzig Stundenkilometern einen entgegenkommenden Bus rammte. Ein infernalisches Krachen rollte heran. Das Führerhaus des Lastwagens faltete sich wie ein Akkordeon, der Bus wurde aus ihrem Blickfeld geworfen, während der Lastzug mit der zerstörten Zugmaschine von der Straße gerissen wurde und geradewegs auf sie zuschoss.
Fast die Hälfte der dreißig Meter von der Landstraße bis zu ihr legte das vierzig Tonnen schwere Geschoss im freien Flug zurück. Wie erstarrt stand Evelyn da, und bevor sie auch nur einen einzigen Muskel aktivieren konnte, rollte der Koloss dicht an ihr vorbei und kam unweit des winzig wirkenden Polos völlig zertrümmert zur Ruhe. Der Gestank von Diesel und verbranntem Gummi mischte sich mit dem der Gülle. Ein Dreckregen ging auf sie nieder, und wenn es bislang noch eine saubere Stelle an ihr gegeben hatte, war diese nun auch beseitigt.
Der ohnehin schwere Schock, ausgelöst durch ihren eigenen Unfall, verstärkte sich noch und das Bild dieses roten, fleischfarbenen, zappelnden Flecks an der total zerstörten Stelle, an der man das Fahrerhaus des Sattelschleppers vermuten konnte, brannte sich in ihr Gedächtnis.
Sie sackte auf die Knie, und der Schmerz, den sie verspürte, holte sie in die Realität zurück, bevor sie erneut die Besinnung verlor.
Der Sattelzug stand auf seinen Rädern, die sich trotz der Trockenheit bis zu den Achsen in den Acker gegraben hatten. Sie sah nur noch die Rückseite des Aufliegers, und das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das Zischen der sich entleerenden Luftdruckbehälter des Bremssystems.
Sie stand wieder auf und taumelte barfuß auf die Straße zu – ihre Schuhe hatte sie schon im Polo verloren – noch größerem Schrecken entgegen.
Sie hatte die Straße erreicht und schaffte es, die kurze Böschung hinaufzuklettern. Der Asphalt war übersät von verbogenen Fahrzeugteilen. An der Stelle, an der der Zusammenprall von Bus und LKW erfolgte, war auf der Fläche von über einem Quadratmeter der Fahrbahnbelag aufgerissen und gab den Blick auf hellen Schotter frei. Ölige Lachen und tiefe Riefen auf dem Asphalt bildeten mit dem Trümmerfeld eine surreale optische Komposition, die von Evelyn wie ein Bild in einer Vernissage betrachtet wurde.
In ihrem Schockzustand nahm sie das Grauen dieses Ortes nicht mehr bewusst wahr.
Das völlig zerrissene Wrack des Busses lag 50 Meter weiter auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.
Die Reifen zeigten in ihre Richtung und von dort kam keinerlei Lebenszeichen. Sie wäre eher gestorben, als zu dem zerstörten Linienbus zu laufen.
Wo blieben nur die Polizei und die Feuerwehr, die Krankenwagen, die Hubschrauber und die Schaulustigen? Sie hatte noch in ihrem Kopf, dass hier reger Verkehr geherrscht hatte und es immer wieder zu Staus kam, weil die Fähren, die kaum zwei Kilometer von hier Richtung Dänemark ausliefen, die Mengen an Fahrzeugen kaum zu transportieren vermochten. Jetzt herrschte hier gespenstische Ruhe. Das hatte sie kaum bewusst gemacht, als sie eine heftige Detonation aus Richtung des Fährhafens hörte. Erst gab es eine Art Grummeln, lauter werdend, und dann einen heftigen Schlag, wie bei einem mächtigen Gong. Sie riss den Kopf in die Richtung, aus der dieser Krach zu hören war und sah einen Glutball in den Himmel steigen, vom Aussehen her wie eine kleine Nuklearexplosion.
Gewaltige, tiefschwarze Qualmwolken folgten dem dunkler werdenden Feuerball und verschlangen ihn schließlich.
Das Weinen kam urplötzlich aus ihr heraus. Sie legte sich auf den warmen, stinkenden und von Trümmern übersäten Asphalt und zog die Knie an. Evelyn lag dort minutenlang schluchzend und wiegte sich selbst hin und her. Und sie betete, betete zu Gott, er möge sie aus diesem Alptraum befreien.
In dem Buswrack begann jemand laut zu schreien, das einzige Geräusch in dieser grauenvollen Kulisse.
Kleine, schwarze Ascheflocken tanzten durch die Luft.
Ein fernes metallisches Knirschen und Quietschen zeugte vom Untergang einer Fähre am Terminal, aber sie hörte es nicht. Und sie sah auch nicht die Menschen, die wie Ameisen aus dem Dorf strömten, zu Fuß, mit dem Auto oder mit Fahrrädern.
Dasselbe Dorf, in dem sie noch vor einer halben Stunde Seidenstrümpfe, eine Zahnbürste und eine Kleinigkeit zum Essen kaufen wollte. Sie ahnte nichts von ihrem Glück, nicht überfahren worden zu sein, denn es waren fast hundert Autos, die an ihr vorüberfuhren.
Gnädige Ohnmacht hatte sie erneut umfangen.
Denn von nun an über sieben Tage will ich regnen lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erdboden alles, was Wesen hat, was ich gemacht habe.
1.Mose 7,4