Читать книгу Das letzte Sandkorn - Bernhard Giersche - Страница 12
Laurenz I
ОглавлениеOffensichtlich waren alle wahnsinnig geworden. Er selbst war noch ganz erschüttert von dem, was sich vor wenigen Minuten in seinem Kopf zugetragen hatte, und dennoch konnte er sich damit zur Zeit nicht befassen, denn er war damit beschäftigt, zu überleben.
Er hatte in seinem Büro gesessen und gerade Darlehnsanträge bearbeitet, als die Hölle losbrach. Im Filialraum der Bank entstand zum selben Zeitpunkt ein lauter Tumult, als die Nachricht des Allmächtigen endete.
Laute Rufe, das Scheppern umstürzender Blumentöpfe und Aufsteller für Werbeplakate. Gerade wollte er aufstehen, um zu schauen, was draußen los war, da kam ihm in den Sinn, dass seine Bank wohl gerade überfallen wurde, und er drückte mit zitternden Händen den Alarmknopf an seinem Telefon. Der stille Alarm würde die nächste Polizeistation alarmieren und hoffentlich würden dann sehr schnell die Beamten hier sein, um die Situation zu bereinigen.
Plötzlich wurde die Tür zu seinem Büro aufgerissen und einer seiner Mitarbeiter stürzte herein. »Was...« konnte Laurenz Beck noch rufen, bevor der Bankbedienstete über seinen Schreibtisch hechtete und ihm die Hände um den Hals legte.
Durch den Anprall rutschte der Bürostuhl auf seinen Rollen weit nach hinten und prallte gegen den Heizkörperan der Wand. Der Griff um seinen Hals lockerte sich und Laurenz Beck schlug hysterisch nach dem Angreifer, dessen wutverzerrtes Gesicht er dicht vor sich hatte.
Der Regionalleiter und Bankmanager Laurenz Beck rutschte nun von seinem Drehstuhl und fiel zusammen mit dem Bankmitarbeiter, der ihm aus unerfindlichen Gründen vehement nach dem Leben trachtete, zu Boden. Wieder legten sich die Hände des Mannes um seinen Hals, aber diesmal gelang es Laurenz Beck, den Angreifer durch einen festen Schlag gegen das linke Ohr für einen Moment zu lähmen. Er trat und schlug wie besessen auf den Mann ein, dessen Name Frank Wilhelmsen war, und der eigentlich Berater für Kleinkredite und Devisengeschäfte und sonst ganz nett war.
Es gelang ihm, sich aufzurichten und Wilhelmsen auf den Boden zu drücken. »Was zum Teufel soll das?«, schrie er ihn an und schlug weiter auf das hochrote Gesicht von Wilhelmsen ein.
Dieser rammte ihm das Knie zwischen die Beine und für einen Moment versank Laurenz Beck in einem blinkenden Nebel, während er auf den Rücken fiel und sich dabei schmerzhaft am umgestürzten Bürostuhl stieß.
Wilhelmsen stand keuchend auf, ergriff den ledernen Sessel am rollenbewehrten Fuß und hob ihn weit über seinen Kopf, offensichtlich, um ihn mit voller Wucht auf Laurenz Becks Kopf zu schmettern.
In der Sekunde trat ein weiterer Mitarbeiter in das Büro und lenkte Wilhelmsen einen Moment ab.
In seiner Hand hielt der Mann einen Elektroschocker, und er bewegte sich mit schnellen Schritten auf den Schreibtisch zu, hinter dem Beck auf dem Boden lag und immer noch Sterne sah.
Laurenz Beck sah nur die Hand mit dem Elektroschocker, der seine fünf Millionen Volt mit einem hochfrequenten Knistern in das rechte Auge von Wilhelmsen entlud und ihn auf der Stelle lähmte. Ein Gurgeln entrann seiner Kehle und der Fachmann für Kleinkredite und Devisen sackte in sich zusammen, ließ den Drehstuhl fallen und stürzte rückwärts auf den Boden.
»Du bist schuld, wegen dir passiert das alles«, hörte Laurenz Beck seinen vermeintlichen Retter sagen. Er versuchte aufzustehen und sah über die Kante des Schreibtisches hinweg in das Gesicht seines Prokuristen, der ihn mit derselben hasserfüllten Mimik anstarrte, wie der elektrisierte Wilhelmsen.
Draußen konnte man immer noch laute Schreie und Klirren und Poltern hören, als wütete eine Rinderherde in dem großzügigen Schalterraum der Bank. Es gab einen sehr lauten Knall, und der Prokurist wurde wie von Geisterhand quer über den Schreibtisch geworfen, Papiere und Schreibtischutensilien mit sich reißend.
In der Bürotür stand der Wachmann der »Kaleido-Security«, der bankeigenen Sicherheitsfirma und der hielt seine rauchende Dienstwaffe in der rechten Hand. Laurenz Beck war halb unter dem nunmehr sehr friedlichen Prokuristen und dem Bürostuhl begraben und rührte sich nicht mehr. Der Wachmann trat näher und ging um den Schreibtisch herum.
Der Mann in der schwarzen Uniform blickte auf die drei Männer, die blutbesudelt in einem grotesken Knäuel auf dem Boden lagen und gab drei Schüsse auf die Körper ab.
Dann wandte er sich ab und verließ das Büro. Er öffnete die Tür zum Treppenhaus.
In den oberen Etagen des Bankgebäudes gab es noch jede Menge Banker, die er töten musste, denn sie waren an allem schuld.
Die drei Schüsse waren so laut gewesen, dass der schrille Schmerz in seinen Ohren die primäre Empfindung war, die Laurenz Beck verspürte.
Unendliche Angst, totale Panik und der Schock ließen ihn viel zu schnell und viel zu flach atmen. Der Körper des Prokuristen lastete schwer auf ihm und Wilhelmsen war nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Würde er auch nicht mehr, denn eine der drei Kugeln hatte ihn in die Brust getroffen. Die zweite steckte im rechten Oberschenkel des Prokuristen und die dritte hatte die lederbezogene Lehne des Bürostuhls durchschlagen und sich zwischen den Beinen des Bankmanagers in den Fußboden gebohrt.
Erfüllt von schierer Todesangst hatte Beck sich eingenässt und begann nun, am ganzen Körper zitternd, sich aus dem grauenvollen Haufen aus menschlichen Körpern, blutbefleckten Papieren und dem Drehstuhl herauszuwinden. Aus der Etage über ihm hörte er erneut Schüsse, die ihn zusammenzucken ließen. Sein weißes Hemd war voller Blut, sein Gesicht war zerschlagen und sein rechtes Auge begann, zuzuschwellen. Seinen nassen Schritt nahm er nicht wahr in diesem Moment.
Er wagte es, hinter dem Schreibtisch hervorzukriechen und schaute zur Tür. In der Schalterhalle war es mittlerweile ruhig geworden. Vor ihm lag sein Telefon, das im Laufe der Geschehnisse vom Schreibtisch gefallen war und kein Ton drang aus dem Hörer. Tot wie der Prokurist.
Der Gestank nach Pulver und Blut vermischte sich mit dem seiner Hose zu einem wenig Mut machenden Geruchs-Ensemble. Laurenz Beck kroch auf allen Vieren langsam in Richtung Tür. Seine Gedanken und Gefühle wirbelten völlig durcheinander. Tränen liefen ihm über das Gesicht und wuschen feine Linien in das Blut, das nicht das seine war.
Erst an der Tür traute sich Laurenz Beck aufzustehen.
Noch immer raste sein Puls, und auch sein Atem hatte sich nicht beruhigt. Durch die Fenster drangen Geräusche zu ihm. Hupen und laute Schreie. Tatsächlich Schüsse und das Klirren von Glas. Überlaut dominierte auf einmal das infernalische Tosen von Flugzeugtriebwerken direkt über ihm. Das ganze Gebäude schien zu zittern, als der Airbus der Ryan-Air in nur dreißig Metern Höhe über das Bankhaus hinwegflog, um sich, in Seitenneigung befindlich, in die Fassade des Hamburger Rathauses zu bohren. Der Aufschlag und die synchron erfolgende Detonation fand zwar über einen halben Kilometer von Laurenz Beck entfernt statt, dennoch barsten die Fenster und ein Scherbenregen ging auf den Bankmanager nieder. Kerosingestank und Brandgeruch mischten sich zu den ohnehin dominierenden Gerüchen im verwüsteten Büro von Laurenz Beck.
Er taumelte durch die Tür, nahm wahr, dass der Schalterraum leer war und keine der über dreißig Neonlampen mehr funktionierte. Der Schalterraum lag in diffusem Halbdunkel und war übersät von Teilen der Deckenverkleidung, die durch die Erschütterung des nahen Flugzeugabsturzes herabgefallen waren, umgestürzten Blumenkübeln und zerschlagenen Glasabtrennungen.
Körper lagen vereinzelt auf dem Boden und durch die großen, erstaunlicherweise intakten Fensterscheiben erkannte Laurenz Beck, dass vor dem Bankhaus mindestens zwei Autos auf der Seite lagen und brannten. Was in diesem ganzen Bild fehlte, waren heulende Alarmanlagen, die Sirenen der Feuerwehr und der Polizei und die Menschen, die retten, bergen und helfen. Stattdessen hörte man ein Knistern und Krachen, ein immer lauter werdendes Rauschen, unterbrochen von Splittern und lauten Schreien. Er tastete sich instinktiv nach Halt suchend an der Wand entlang, bis er die Tür zum Treppenhaus erreicht hatte. Im Keller des Gebäudes gab es einen Tresorraum, der gleichzeitig als Panikraum konstruiert war. Man hatte diesen Raum für den Fall konzipiert, dass Bedienstete während eines Überfalls sich dorthin begeben und sich einschließen konnten, bis die Polizei eingetroffen war und sie befreite. Dorthin wollte Laurenz Beck nun. Dieser Ort schien ihm angesichts des totalen Chaos der sicherste zu sein.
Im Treppenhaus roch es stark nach Rauch und von den oberen Etagen fielen Ascheflocken herab. Er stieg die Stufen hinab und fand den Tresorraum offen vor.
Frau Martens, die Kassiererin, die normalerweise hinter schusssicherem Glas Geld an Kunden ausgab oder Bareinzahlungen bearbeitete, lag mit zerschmettertem Schädel vor der offenen Tür. Ihr Rock war hochgerutscht und gab den Blick auf einen geblümten Schlüpfer frei, ihre Beine waren weit gespreizt, in einer letzten, frivol anmutenden Geste.
Laurenz Beck übergab sich und fügte der Farbpalette auf seinem Anzug noch einige Akzente hinzu.
Der Panikraum befand sich hinter dem eigentlichen Tresorraum. Er stieg mit geschlossenen Augen über die Leiche von Frau Martens hinweg und ging durch den Tresorraum, der im Grunde nur aus Regalen mit hunderten von Schließfächern bestand. Die Notbeleuchtung, die durch Batterien betrieben wurde, warf diffuses Licht in den Raum und das Blinken an der elektronischen Konsole, an der man den Code eingeben musste, warf monoton abwechselnd grünes und rotes Licht in den Raum.
Er öffnete die Stahltür zum Panikraum, betrat diesen und schloss die Tür hinter sich. Es gab in diesem Raum nur eine Pritsche und einen kleinen Schrank, in dem sich eigentlich Wasserflaschen und Eimer befinden sollten, der jetzt aber leer war. Im Grunde rechnete schon seit Jahren niemand mehr damit, dass man diesen Raum beutzen würde, denn die Sicherheitssysteme waren so ausgefeilt, dass ein Überfall mehr als unwahrscheinlich geworden war. An der Innenseite der Tür war ein großes Rad angebracht, mit dem man die Tür verriegeln konnte.
Es war nun nicht mehr möglich, die Tür ohne Schneidbrenner und andere Werkzeuge von außen zu öffnen. Laurenz Beck setzte sich auf die Pritsche und weinte hemmungslos, völlig unter Schock stehend und bis zum Platzen mit Adrenalin vollgepumpt.
Als er sich langsam beruhigte, nur dieses schluckaufartige Zittern nach dem Weinkrampf, das er nicht bewußt abstellen konnte, in kurzen Abständen seinen Körper erschauern ließ, konnte er von der anderen Seite der Tür merkwürdige Geräusche hören. Geräusche, die durch die Stahltür gedämpft wurden und so einen sehr unwirklichen Klang bekommen hatten.
Ein Knirschen und Poltern, erst weit weg, dann näherkommend. Die batteriebetriebenen Lüfter summten und das fahle Neonlicht flackerte und erlosch schließlich, und auch das Summen, das den Raum bislang erfüllt hatte, verstummte. Laurenz Beck saß in völliger Dunkelheit in einem Raum von zwei mal drei Metern und draußen schien, den Geräuschen nach zu urteilen, die Welt unterzugehen, schien sich die Apokalypse zu vollziehen.
»Was zum Teufel ist da los?«, fragte sich Beck immer wieder. Er tastete sich zu der Stahltür vor und presste sein Ohr an diese, in der Hoffnung, irgendwelche Informationen über das, was draußen vorging, zu erhalten. Auf keinen Fall wollte er länger in dieser Gruft bleiben, als unbedingt nötig. Ihm war klar, dass in den oberen Etagen des Gebäudes ein Feuer ausgebrochen sein musste, und die Detonation des abstürzenden Flugzeuges klang ihm noch in den Ohren. Dass plötzlich alle Menschen um ihn herum wahnsinnig geworden zu sein schienen, konnte er ebensowenig verdrängen.
Und er hatte einen Auftrag, eine Mission zu erfüllen. Und das ging schlecht in diesem Loch, in dem er festsaß und aus dem er sich nicht heraustraute.
Zuerst konnte er nicht sagen, ob er sich das einbildete, aber ihm schien, als würde die Tür sich erwärmen. Er nahm seinen Kopf zurück und legte beide Hände auf die glatte Fläche der Stahltür. Tatsächlich. Die Tür war warm und sie wurde immer wärmer. Bis sie so heiß war, dass er sie loslassen musste. Instinktiv zog er sich an die Wand zurück, die am weitesten von der Tür entfernt war. Drei Meter. Maximal.
Augen können sich an Dunkelheit gewöhnen. Die sensiblen Rezeptoren auf der Netzhaut vermögen auch kleinste Lichtmengen zu sinnvollen Informationen zu verarbeiten. Aber wo jedes Licht fehlt, nicht die geringste Beleuchtung ist, wo absolute Dunkelheit herrscht, sind Menschen und Tiere blind.
Laurenz Beck sah trotz der Dunkelheit Lichtflecken, skurrile Schatten und kleine Blitze. Die Dunkelheit in dem Panikraum war wie zäher Brei und sein Gehirn füllte die dem Sehnerv fehlenden Informationen mit Fantasiebildern. Er hatte sich an die hintere Wand gekauert und spürte bis hierhin, dass sich die Luft im Raum erwärmte. Der Geruch von seinem Erbrochenem, seinem Urin und der metallische Geruch von Blut lag in der Luft.
Ihm war klar, leider völlig klar, dass das Bankgebäude wohl in voller Ausdehnung brennen musste. Außer den Inhalten der Schließfächer gab es hier unten kaum etwas Brennbares. Die Türen waren aus Stahl und die Böden waren gefliest.
Lichtschalter und Lampen, Bilder und derartige Kleinigkeiten mochten brennen, aber die Hitze, die die Stahltür, die ihn schützte und gleichzeitig gefangen hielt, abstrahlte, konnte ihre Ursache nur darin haben, dass das Gebäude komplett in hellen Flammen stand.
Unwillkürlich musste er an die Twin-Tower in New York denken. Vor allem daran, wie die Konstruktion irgendwann kollabiert und in sich zusammengestürzt war. Das Bankgebäude hatte nur sieben Stockwerke und er hoffte, dass die Feuerwehr schnell genug den Brand gelöscht haben würde, bevor ihm hier unten die Luft ausging oder er gebacken wurde. Egal, was früher eintrat, er hatte keine favorisierte Todesart. Gar nicht sterben war sein klares Ziel.
Mittlerweile war er zwei Stunden in dem Raum.
Die Temperatur mochte etwa 40 Grad betragen und Laurenz Beck hatte sich bis auf die Unterwäsche entkleidet. Seine Zunge klebte an seinem Gaumen und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er hatte Erschütterungen wahrgenommen, als einzelne Gebäudeteile einstürzten und jedesmal aufgeschrien, weil er dachte, nun unter den Trümmern des ausgeglühten Hochhauses zerquetscht zu werden, statt zu ersticken oder zu verbrennen. Und das alles in völliger Dunkelheit.
Was ihn bei Verstand hielt, war die Tatsache, dass Gott ihm wohl kaum den Auftrag zur Weltrettung gegeben hätte, wenn er die Absicht gehabt hätte, ihn hier unten sterben zu lassen. Also würde alles gut werden, musste einfach.
Wo blieb nur seine Rettung? Sein Mobiltelefon lag in der Schublade seines Schreibtisches und war nun wohl längst in Rauch und Asche aufgegangen. Im Panikraum gab es ein Telefon, und er hatte so lange in der Dunkelheit umhergetastet, bis er es gefunden hatte. Das Telefon war allerdings tot. Nicht mal ein Knistern oder Rauschen war zu hören.
Von draußen waren auch nach acht Stunden immer noch die Geräusche der Zerstörung zu hören, aber sie wurden weniger.
Die Luft in dem kleinen Zimmer wurde immer schlechter. Laurenz Beck stellte fest, dass er dicht am Boden besser atmen konnte, als wenn er stand, und so lag er auf dem gestrichenen Estrichboden und atmete langsam und flach, um möglichst wenig Sauerstoff zu verbrauchen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass er aus dieser Situation lebend hervorgehen würde, schätzte er von Stunde zu Stunde geringer ein, und auch die Rettung der Welt wurde ihm nach nunmehr acht Stunden in seinem Kerker immer gleichgültiger. In seinem Privatleben gab es wenig, woran er denken musste. Er hatte keine Frau. Das lag daran, dass er irgendwie asexuell war. Es interessierte ihn nicht wirklich, dieses Leben an der Seite eines geliebten Menschen, das die meisten anderen als höchsten Lebenszweck ansahen. Er war noch nie verliebt gewesen.
Manchmal hatte er so seltsame Impulse, aber die gingen eher in eine ganz andere Richtung. Er hatte sich immer gegen Gedanken in diese Richtung zur Wehr gesetzt, und das ziemlich erfolgreich. Er konnte nicht ausschließen, dass er schwul war. Jedenfalls ein bisschen. Aber auch das war ihm egal.
Im Moment war er froh darüber, dass es da draußen niemanden gab, um den er sich Sorgen machen musste. Er war der klassische Karrierist, und er fühlte sich gut in der Rolle. Er konnte gut mit Menschen umgehen, und er war zeitlich frei und ungebunden. Seine Energie hatte er in seine Ausbildung gesteckt. Studium, dazu Praktika und immer schön lächeln auf dem Weg nach oben. Und mit Geld konnte er umgehen. Er genoss die Macht, bei Kreditanfragen »Ja« oder »Nein« sagen zu dürfen und so Handlungsstränge schaffen zu können. Oder zu verhindern. Hatte Gott nicht auch davon gesprochen? Er hatte Handlungsstränge geschaffen. So wie er, Bankdirektor und Liebling des Vorstandes, auch. Und er sah gut aus. Gut. Irgendwie so, wie man sich einen Banker vorstellte.
Kurze, dunkle Haare, ein leicht schelmenhaftes Lächeln und kleine Fältchen um die Augen, die ihm Seriosität verliehen, und gleichzeitig besaß er etwas jugendhaftes, lausbubenartiges. Die Kunden vertrauten ihm sofort, und niemand nahm ihm je eine Entscheidung übel.
Glatt und sauber, gut gekleidet, tolle Armbanduhr, die zwar über tausend Euro gekostet hatte, die ihm aber nichts zu trinken geben konnte, was sie hier für ihn absolut wertlos machte. Er besaß eine Eigentumswohnung, und in der Tiefgarage der Bank verbrannte wohl gerade sein imposanter BMW.
Das alles war ihm allerdings im Moment völlig egal.
Er wollte nur raus hier, aber er hatte gleichzeitig auch diese schreckliche Gewissheit, dass er sterben würde, in dem Moment, in dem er die Stahltür öffnete.
Der Durst wurde unerträglich, und die Hitze in dem Raum raubte ihm den Verstand. Er musste schon seit Stunden Wasser lassen. Nun hielt er es nicht mehr aus und urinierte in eine Ecke des Raumes. Der Uringestank machte die Luft noch unattraktiver für das Atmen.
Nach weiteren sechs Stunden war Laurenz Beck alles gleichgültig. Seine Lippen waren aufgesprungen und brannten . Seine Augen schmerzten bei jedem Blinzeln und seine Lungen fühlten sich an, als als sei jedes Sauerstoffmolekül mit Widerhaken versehen, die sich in das empfindliche Lungengewebe gruben. Der Durst war überwältigend, und schon lange dachte er nicht mehr an Gott und Auftrag und Bedrohung durch wahnsinnig gewordene Prokuristen, sondern nur noch daran, etwas trinken zu wollen. Er konnte nicht mehr durch die Nase atmen, sie war völlig zugeschwollen. Durst, unsäglicher Durst. Seine Kehle war trocken. Die Schleimhäute hatten ihren Dienst versagt, und jeder Atemzug war einer Qual geworden.
Er hasste sich dafür, einfach in die Ecke uriniert zu haben. Er kroch in die betreffende Ecke, in der Hoffnung, dort würde eine Pfütze Flüssigkeit auf ihn warten, doch der Urin war bei der hohen Temperatur völlig verdunstet.
Er kniete sich hin und versuchte, in seine hohle Hand zu urinieren. Der klägliche Spritzer Pisse, den er ausschied, landete neben seiner Hand auf dem Boden und er warf sich darauf und leckte den Estrich ab. Die Stahltür knackte.
Laut und deutlich.
Nach einigen Sekunden wieder. Knack.
Knack. Knack.
Schwer atmend kroch er in Richtung Tür und wagte es, sie anzufassen. Sie war nicht mehr so heiß, das Knacken rührte daher, dass sie abkühlte. Knack.
Er war jetzt achtzehn Stunden hier unten. Und deutlich weniger Zeit vom Wahnsinn entfernt. Sehr deutlich weniger.
Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!
Martin Luther