Читать книгу Das letzte Sandkorn - Bernhard Giersche - Страница 8
Welt I
ОглавлениеDie Stimme der endgültigen und letzten Instanz, die Stimme, die Gott, Jahwe, Buddha, Allah und Manitou und unzähligen anderen menschengemachten Gottheiten entsprach, war kaum verstummt, als in jeder Gesellschaft auf dem Planeten, in jeder Gemeinschaft und in jedem Land auf jedem Kontinent dasselbe geschah. So, wie die Menschen stets handelten, immer gehandelt hatten und, würde es eine Zukunft geben, auch in dieser so handeln würden, so handelten sie jetzt auch.
Sie veränderten, indem sie vernichteten.
Jede Form von Autorität ging in jener Sekunde verloren, jede Hierarchie und jede Kontrolle war ausgelöscht.
Und niemand sah sich mehr als Teil des Ganzen, als Zahnrad im gewaltigen Weltengetriebe, sondern als alleiniger Retter der Menschheit, versehen mit göttlicher Prokura.
Nun gab es keine Regeln und keine Obrigkeiten mehr, denn sie alle, ob Herrscher oder Beherrschte, waren gleich geworden. Und die Position im Schwarm, die sie bislang innehatten, wurde bedeutungslos.
Zehn Tage, um die Welt zu retten.
Ein Befehl Gottes. Nichts konnte die Retter aufhalten, denn in göttlicher Mission zu handeln, von Gott selbst den Auftrag bekommen zu haben, diese Bürde zu tragen, konnte durch nichts relativiert oder interpretiert werden.
Erst recht nicht durch Menschen oder deren Handeln.
Und so verließen alle ihre Plätze, die sie in den Gesellschaften eingenommen hatten. Der Mechaniker, der Ingenieur und der Arzt. Der Medizinmann und der Geistliche. Der Politiker und der Obdachlose, um die Welt zu retten.
Und was taten die Menschen, um Gottes Chance zu nutzen? Eben das, was Menschen immer taten. Die Verantwortlichen für Gottes Zorn mussten vernichtet werden. Die, die nach Gottes Worten Schuld hatten. Das waren zuerst die Geistlichen aller Religionen. Und auch, wenn diese, wie alle anderen Menschen auch, von Gott berufen worden waren, das Ende der Menschheit abzuwenden, wurden sie doch Minuten nach Gottes Offenbarung hinweggefegt, von Hunderten, von Tausenden, die der Überzeugung waren, erst das Falsche vernichten zu müssen, bevor sie das Richtige erschaffen konnten.
Allein zwölf Passagierflugzeuge schlugen auf dem Gebiet des Vatikans in Rom ein, gelenkt durch Piloten, die durch diese Tat die Welt zu retten gedachten. Als das erste Flugzeug in den Petersdom raste, lebte der Papst schon über zwölf Minuten nicht mehr, da sich alle Anwesenden im Vatikanstaat gegen ihn gewandt hatten. Dem heiligen Vater folgten die Kardinäle, die Bischöfe, die gesamte Hierarchie wurde von unten nach oben ausgelöscht durch Schwerter, Schusswaffen oder die bloße Hand.
Die, die überlebten, weil sie keine Position innehatten, starben Minuten später bei den Flugzeugabstürzen.
Und so erging es den Menschen in allen Religionen überall auf dem Erdball, in Mekka genauso wie in Varanasi, der Hauptstadt der Hindus oder Bodnath, der Wiege des Buddhismus.
Und nicht nur die geistliche Obrigkeit wurde Ziel der Weltenretter. Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft folgten den Millionen von Würdenträgern der Religionen der Menschheit. Verantwortlich für Gottes Zorn waren sie. Das war der Impuls der sieben Milliarden Berufenen.
Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte nach der göttlichen Eingebung keine Minute mehr zu leben, Mitarbeiter von FBI und CIA, die das Weiße Haus auch in der tiefsten Nacht bewachten und den Präsidenten und seine Familie schützten, erkannten in ihm einen der großen Teufel, deren Handeln Gott bewogen hatte, die Menschheit auszulöschen.
Und so starben alle Staatschefs und Präsidenten, alle Minister und politischen Verantwortlichen durch die Hand ihrer jeweiligen Völker. Gott hatte es ihnen gesagt.
Alles was bisher war, war falsch und nicht nach Gottes Regeln. Und was falsch war, musste vernichtet werden.
Der für Menschen einzig logische Schluss.
Bis in die kleinsten Hierarchien setzte sich das Töten fort.
Jeder Mann und jede Frau in einer Position mit Macht und Befugnissen wurde von den einstigen Untergebenen noch in dem Moment angegriffen, in dem sie selbst ihre Vorgesetzten als Quelle des Unheils zu töten gedachten.
Nur ihre Vernichtung konnte die Menschheit noch retten. Dies war der Impuls in nahezu jedem denkenden Wesen in jenen Minuten der Apokalypse. Und kein Geschichtsschreiber würde je darüber berichten, denn auch diese gehörten zu den üblen Wurzeln des Bösen, die herauszureißen jedes Weltenretters Ziel war.
Und all jene in den Kraftwerken, den Atommeilern und Staudämmen, die Abertausende von Arbeitern, die durch ihr Tun die Menschheit mit Energie versorgten, verließen ihre Arbeitsplätze. Sie hatten alle Gottes Auftrag, der keinerlei Verzögerung erlaubte. Und die Kraftwerke und alle Geräte, die an deren Nabelschnur hingen, schalteten sich ab.
Und als nach weniger als einer Stunde kaum noch einer dieser Verantwortlichen lebte, begann das Brennen.
Die Paläste und Kirchen, die Gebetshäuser und Banken, die Ministerien und Ämter. Sie waren alle Tempel des Bösen, Zeichen des falschen Weges, den die Menschheit eingeschlagen hatte. Die Konsumhallen, in denen die falsche Welt verkauft wurde, Supermärkte und Shopping-Meilen. Zeichen des Verderbens.
Und jedermann besaß Feuerzeug und Streichhölzer und wo kein Strom mehr ist, wo keine Kommunikation mehr ist, wo Pumpen nicht liefen und keine Sprinkleranlage funktioniert, da brennt es gut und lange.
Keine Feuerwehr und keine Polizei. Kein Tropfen Wasser aus den Leitungen.
Brennen müssen die Orte, die Gottes Zorn geweckt haben, brennen müssen sie, nur so kann Gott milde gestimmt werden. Er hat es gesagt. Jedem ganz deutlich und unmissverständlich.
Was war, ist schlecht.
Was schlecht ist, muss vernichtet werden, muss inexistent werden, muss ungeschehen gemacht werden. Nur so kann die Welt gerettet werden.
Und so erhoben sich große Feuer in den Städten und Dörfern, und die Flammen fanden keinen Widerstand. Sie fanden Nahrung und immer noch mehr Nahrung, als Tankstellen und Öltanks, Pipelines und Raffinerien ihre hoch entzündlichen Flüssigkeiten dem Inferno hinzufügten.
Und es waren Feuerstürme in den Städten. Stadtviertel brannten in geschlossener Flamme und der Sog riss in Orkanstärke noch mehr Brennstoff in die Höllenglut innerhalb der Städte der Welt. Nach weniger als zwei Stunden brannte jede Stadt auf dem Erdball, sie brannten noch am zehnten Tag.
Und auf jeden Menschen, der als Mitverursacher des göttlichen Zorns erkannt und getötet wurde, kamen Hunderte und Aberhunderte, die das entfachte Inferno nicht überlebten.
Sie verbrannten in ihren Häusern, starben bei Flugzeugabstürzen oder bei den unendlich vielen Unfällen, die sich im Anschluss an die Offenbarung ereigneten. Kollateralschäden im Namen der Nemesis.