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Brigitta I

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Das war jetzt ganz schlecht. Das war so nicht vorgesehen. Darauf hatte sie niemand jemals vorbereitet.

Ohne Strom und ohne Freunde und Helfer war das jetzt erst mal eine Katastrophe.

Brigitta Becker versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich an ihren Küchentisch setzte und tief durchatmete, so wie Yvonne, ihre Freundin und Lehrerin, es ihr gesagt hatte.

»Du musst, wenn du an Grenzen kommst, von denen du denkst, sie nicht überwinden zu können, dich hinsetzen und zur Ruhe kommen. Es wird nichts geschehen.

Orientiere dich stets neu, finde Deine Position und du kannst in Ruhe über den Weg nachdenken, den du gehen willst oder musst.«

Sie tastete nach ihren Zigaretten, fand sie da, wo sie sie hingelegt hatte und griff selbstsicher nach dem Feuerzeug, das neben der Schachtel lag, Rechts neben der Schachtel.

Ihre Hand zitterte ein wenig.

Sie hielt sie mit der anderen Hand fest und zündete die Zigarette etwa in der Mitte an. Das passierte öfter, vor allem wenn sie nervös war.

»Scheiße«, rief sie, als die Glut das vordere Teil der Zigarette abtrennte und dieses ihr in den Ausschnitt fiel, an einer Seite glühend. Sie schlug gegen ihre Bluse, um die Glut zu löschen.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, rief sie anschließend laut und haute dabei bei jedem »Scheiße« mit der Hand auf die Tischplatte.

Das alles war viel für sie. Zu viel vielleicht.

Neben all den kosmischen und weltlichen und großen und kleinen Problemen, neben all den Katastrophen in ihrem Leben und den Ungerechtigkeiten, die sie seit ihrer Geburt erleben und ertragen musste, nun noch so etwas. »Scheiße«, sagte sie erneut und ihre Gedanken rasten in einem irren geistigen Flipperspiel durcheinander, keine Chance für sie, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Heftig zog sie an der Zigarette, und als sie den verbrannten Filter schmeckte, tastete automatisch ihre linke Hand nach dem Aschenbecher, der stets in der Mitte des Tisches stand. Jetzt aber war er durch das Schlagen auf den Tisch ein wenig weggehüpft und stand nun an der rechten Tischkante.

Sie drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus und rief erneut »Scheiße«, als sie es bemerkte.

In plötzlicher Wut stieß sie den Tisch mit allem, was sich auf ihm befand um. Das Krachen und Splittern dröhnte in ihrem Kopf.

»Yvonne«, schrie sie laut, »Yvonne, komm bitte her und hilf mir«, doch ihre Lehrerin war schon seit über dreißig Minuten tot. Sie konnte das nicht wissen, denn sie bekam kaum etwas von dem, was gerade in der Welt geschah, mit.

Der Strom war ausgefallen, und auch wenn der Akku des Laptop noch funktionierte, so brachte sie keine Internetverbindung zustande. Ihr Braille-Leser schwieg und sie ertastete nur: »Keine Verbindung zum Internet.« Der Fernseher und das Radio ließen sich nicht mehr einschalten und außerhalb ihrer Wohnung konnte sie seit über zwei Stunden sehr beunruhigende Geräusche hören. Schreie und anderes sehr Beunruhigendes.

Sie hörte die schnellen Schritte der Nachbarn, hörte Geräusche von davonrasenden Autos, aber sie bekam erst richtig Angst, als sich vereinzelt Schüsse in das Geräuschinferno mischten.

Sie stand auf, berücksichtigte den umgefallenen Tisch und ging in ihr Schlafzimmer. Natürlich hatte sie Gottes Botschaft erhalten, aber danach hatte sie nur ein wirklich starkes Gefühl: Gott verarscht sie.

Brigitta Becker, genannt »Becki«, war seit ihrer Geburt blind und hatte nicht die geringste Chance, die Menschheit zu retten. Und so, wie sich die Dinge entwickelten, hatte sie eine noch geringere Chance, die zehn Tage bis zum Exodus zu überleben.

Sie hatte aufgrund ihrer gesteigerten Wahrnehmung des haptisch-taktilen und des auditiven Sinnes durchaus wahrgenommen, dass nach der Vergewaltigung ihres Verstandes durch die Gottheit alles anders wurde. Die gesamte Präsenz der Realität hatte sich verändert. Die Grundstimmung, die innere Grundfarbe der Realität, hatte sich verändert. War von »warm« nach »Chaos« gewechselt. Farben konnte sie nicht visualisieren, stattdessen arbeitete ihr Verstand mit Metaphern aus dem Reich der Zahlen, Gefühle und Gerüche.

Instinktiv und von dem absoluten Lebenswillen beseelt, den sie stets bemühte, wenn sich Mauern und Grenzen auftaten, ging sie die wenigen Meter bis zu ihrer Diele und griff nach ihren Leder-Boots, die sie am liebsten dann trug, wenn ihr Ego mal wieder eine Exkursion ins Reich der Depressionen plante.

»Yvonne«, flüsterte sie und sie projizierte den Weg zu ihrer Lehrerin in ihr Bewusstsein. Yvonne hatte Karla abgelöst, die über viele Jahre hinweg ihre Lehrerin in Punktschrift und Blindenlehre war, wie sie es nannte.

Die Welt der Sehenden war auch ihre Welt geworden, auch wenn der Begriff »Sehen« für sie auch nach zweiunddreißig Jahren Blindheit ein abstrakter war. Ihr fehlte nichts, sie hatte nach ihrer Auffassung keine Defizite. Defizitär war nur die Welt.

Sie käme wunderbar zurecht, wäre nur die Gestaltung der Umwelt von Blinden vorgenommen worden und nicht von den Sehenden, die Leute wie sie in ihren Planungen nicht berücksichtigten.

Erst in den letzten Jahren hatte man auch an die »Nicht-Seher« gedacht und Rillen in die Straßen und Gehwege gefräst, um auch ihnen eine Orientierung zu geben.

Akustische Signale an Ampeln und Computer, die in Brailleschrift oder durch akustische Wiedergabe von Texten Informationen übermittelten, erleichterten das Leben. Alles Dinge, die von »Sehenden« erdacht und geschaffen wurden und somit höchst defizitär waren.

»Yvonne.« Yvonne hatte es drauf. Yvonne war zwar eine »Sehende«, aber wie niemand sonst verstand sie es, sich in sie hineinzuversetzen.

Yvonne verband sich die Augen, wenn sie zu Besuch kam und Yvonne hatte ihr versprochen, immer da zu sein, wenn es mal schlecht lief.

Yvonne wohnte gar nicht weit von hier und sie hatte ihre Lehrerin und Freundin schon oft besucht, einfach um zu plaudern und um den Tag nach Feierabend mit ihr zusammen zu genießen. Manchmal hatte Yvonne den Grill angemacht und ihr beschrieben, wie der Garten aussah. Yvonne konnte das. Sie führte sie in den Garten und ließ sie die Blumen und Kräuter fühlen. Sie besaß einige Hühner und Yvonne schickte sie alleine los, um nach Eiern zu »sehen«.

Und kichernd kroch sie manches Mal durch den Hühnerstall und tastete über Hühnerkacke und Stroh hinweg nach diesen warmen, harten und doch so zerbrechlichen, ovalen Dingern, die sie gekocht oder gebraten so sehr mochte. Yvonne hatte Zwillinge, zwei ganz süße Mädchen, die ihr manchmal etwas vorlasen und ihr Dinge beschrieben. »Kinder verstehen Blinde besser«, hatte Yvonne immer gesagt. »Weil sie das Blindsein akzeptieren und nicht interpretieren.« Becki liebte Yvonnes Kinder, sie sahen gut aus. Sie sahen warm aus.

Yvonne würde ihr helfen, sie hatte es versprochen.

Sie nahm ihre Lederjacke vom Haken und öffnete ihre Haustür. Draußen war es nach dem Getöse der letzten zwei Stunden unheimlich ruhig geworden.

»Scheiße«, sagte sie wieder. Zurück ins Wohnzimmer. Den umgestürzten Tisch einschätzend, begab sie sich auf ihre Knie und tastete nach der Zigarettenschachtel, die sie schnell fand. Das Feuerzeug allerdings blieb unauffindbar, und wieder fluchte sie laut vor sich hin.

Ihre Nase nahm nun einen Geruch war. Brand. Feuer. Gestank.

Darauf war sie geschult worden von Kindesbeinen an. Dieser bestimmte, unverwechselbare Geruch eines Brandes. Olfaktorisch war die Analyse klar, mit Ohren und Nase konnte sie den Herd des Feuers in seiner Richtung und Ausdehnung bestimmen. Das Haus brannte.

Becki wollte gerade aufstehen, als ihr kleiner Finger gegen das Feuerzeug stieß.

Sie nahm es an sich, steckte es in die Brusttasche der Lederjacke und ging erneut in Richtung Haustür.

Direkt neben der Tür stand ihr Blindenstock, ihre lebensnotwendige Verlängerung des Tastsinnes. Den ergriff sie, verließ die Wohnung und zog die Haustür zu. Der Stock ließ sich so zusammenfalten, dass er zur Not in einen Rucksack passte.

Ein Geruchsinferno drang in ihre Nase, sämtliche taktilen Rezeptoren übermittelten die Information »Hitze, Brand, Feuer« in ihr Hirn und sie eilte die zwei Stockwerke die Treppe hinunter, um aus dem Haus zu kommen.

Ganz klar und ohne jede Gefühlsregung nahm sie zur Kenntnis, dass keine Menschen riefen und keine Sirenen heulten und alles vollkommen anders war, als es hätte sein müssen in so einer Situation.

Auch die Geräuschkulisse auf der Straße war anders. Überall knackte und knisterte es, aus der Ferne war ein Dröhnen zu vernehmen – nur für sie. Das Flugzeug, das sich näherte, um in acht Minuten in den Dom zu stürzen, war für »Sehende« noch nicht zu hören. Hier gab es sonst keine Flugzeuggeräusche.

Sie nahm das alles in Sekundenbruchteilen wahr. Es veränderte das innere Bild, das sie von ihrer Umgebung hatte, und das war eindeutig und schrecklich zugleich.

Andere sahen. Becki fühlte und hörte. Intensiver und unendlich feiner als Augen Wahrnehmungen an das Gehirn weitergeben konnten.

Was Brigitta Becker wahrnahm, war die totale Veränderung der Sphäre, ihrer inneren Landkarte.

In Verbindung mit dem, was in ihrem Kopf stattgefunden hatte, war ihr schneller als den meisten der sieben Milliarden Menschen auf dem Erdball klar, dass alles was war, nun zu Ende ist. Sie musste zu Yvonne.

In ihrem Kopf existierte eine sehr exakte Landkarte über ihre Umgebung. Details, die die »Sehenden« gar nicht mehr wahrnahmen, weil sie ohne Bedeutung sind, sind für Blinde Leuchttürme.

Ein Busch, eine Unebenheit im Gehweg, ein Geruch, ein Gullydeckel. Tausende Fragmente fügen sich zu einem inneren Bild zusammen und »Nicht-Sehende« erschaffen daraus eine eigene Geographie.

Brigitta stolperte allerdings schon nach wenigen Metern und fiel unsanft. Sich bei Stürzen abzurollen, den Sturz zu mildern und sanfter als »Sehende« zu landen, hatte sie von Geburt an gelernt. Trotzdem war der Sturz hart. Sie war zu schnell gelaufen, hatte den Blindenstock eigentlich gar nicht benutzt und so war das Hindernis auf dem Gehweg zur Stolperfalle geworden.

Als sie herauszufinden versuchte, was sie da zu Fall gebracht hatte, hielt sie plötzlich die Hand eines Menschen in der Hand. Da lag jemand auf der Straße. Sie tastete ganz schnell an dem Arm entlang, ihre Finger glitten federleicht in Richtung des Gesichtes des Menschen, der da auf dem Gehsteig lag und sie tastete über dessen Kinn in eine große, feuchte und noch warme Öffnung an der Stelle, wo die Augen des Menschen hätten sein müssen. Sie begriff, dass sie ihre Hände eine fürchterliche Verletzung berührten und dass der Mensch vor ihr, ein Mann, tot war.

Ein kehliger Laut entrann ihrem Mund und sie stolperte von der Leiche weg. »Aaaaahhhhhhhh, IIiiiiiihhhhh« schrie sie aus voller Kehle und »Hiiiilfe« und »Scheiße«, sowieso ihr Lieblingswort.

Am Randstein fand sie ihre Orientierung wieder und sie lief, so schnell es ihre Sinne zuließen, weiter die Straße entlang Richtung Yvonnes Haus.

Ihren Blindenstock hatte sie in ihrer Panik bei der Leiche des Mannes zurückgelassen.

Sie hörte, dass sich ein Auto näherte, sehr schnell näherte, und so schnell an ihr vorbeifuhr, dass sie keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, ob sie versuchen sollte, den Wagen anzuhalten. Bald verlor sich das Geräusch des Motors in der Ferne.

Brigitta wusste, dass sie jetzt in Höhe von Yvonnes Haus sein musste. Da war die niedrige Buchsbaumhecke, anschließend ein Eisenstab, der in einer Einfahrt stand (in Wirklichkeit eine Laterne), und danach begann Yvonnes Reich. Yvonne musste zu Hause sein, sie tastete den Wagen, der in der Einfahrt stand. Es roch seltsam. Ein neuer Geruch, den Brigitta nicht kannte, drang aus dem Wagen. Doch, sie kannte ihn doch. Aber erst seit wenigen Minuten.

Yvonne und sie waren öfter mit diesem Auto gefahren, Becki hatte das Auto sofort an der Form identifiziert. Es war ein Cabriolet und Becki hatte unendliche Freude daran gehabt, mit Yvonne darin zu fahren. Das Verdeck war nun allerdings geschlossen.

Sie tastete an der Fahrerseite entlang und fand den Türgriff. Als sie daran zog, öffnete sich die Tür und der neue, seltsame und irgendwie abstoßende Geruch verstärkte sich.

Es roch wie der tote Mann auf dem Gehweg.

Brigitta weinte, ihre funktionslosen Augen ließen Ströme von Tränen fließen. Sie brauchte ihre Hände nicht, um zu wissen, was in dem Auto war. Sie nahm es auf eine höhere Art und Weise wahr.

Nicht, um sich Gewissheit zu verschaffen, sondern um Abschied zu nehmen, griff sie nach dem Kopf der toten Yvonne, die hinter dem Lenkrad saß. Sie streichelte die erkaltenden Wangen und fuhr mit den Händen die Konturen des Gesichts nach. An der schrecklichen Kopfwunde verharrten ihre Finger und tiefste Trauer durchströmte sie. Aber da war noch mehr in dem Wagen.

Sarah und Emelie, die Zwillinge, saßen auf der Rückbank, und auch in ihnen war kein Leben mehr.

Die selbe Axt, die ihre Mutter getötet hatte, war auch auf ihre Köpfe geschlagen worden. Die kleinen Händchen berührten sich in der Mitte der Rücksitzbank. So ertastete Brigitta sie.

Dann brach sie zusammen und krümmte sich in unendlichem Schmerz, ihr Schluchzen und Weinen erfüllte die tote Straße. Nach einigen Minuten hörte sie Schritte, nicht weit weg, direkt auf sie zukommen.

Die Pommes behalte ich, aber den Burger gebe ich zurück. Und wenn noch einmal Mayonnaise auf dem Burger sein soll, komm ich zu dir nach Hause, hack dir die Beine ab, leg Feuer und sehe zu, wie du mit deinen blutigen Stümpfen aus dem Haus kriechst.

Bruce Willis in The last Boyscout

Das letzte Sandkorn

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