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5 Geschichte geschrieben Bibliothek des Deutschen Historischen Museums
ОглавлениеBücher machen Geschichte. Das beweist das Deutsche Historische Museum: Das Schreiben, Lesen, Drucken, die Literatur und der Ideenwettstreit haben die Zeitläufte mindestens genauso geprägt wie Feldzüge und Kriege.
Sein Domizil hat das nach der Wende eingerichtete Museum im Zeughaus – dem ältesten Bauwerk am Boulevard Unter den Linden. Das frühere Waffenarsenal wurde selbst zum Schauplatz historischer Umbrüche, als es Anhänger der Revolution 1848 erstürmten und plünderten. Die Dauerausstellung zur deutschen Geschichte vom Mittelalter bis zum Mauerfall, die der barocke Bau auf 8.000 Quadratmetern beherbergt, ist derzeit wegen Bauarbeiten geschlossen. Von rund einer Million Objekte, welche die historische Schatzkammer der Nation aufbewahrt, waren bis zum Jahr 2021 rund 7.000 als Exponate zu sehen. Und jedes zehnte dieser Ausstellungsstücke war ein Buch: »Kaum ein Museum besitzt so viele Bücher«, sagt Matthias Miller, Leiter der Museumsbibliothek und Hüter der präsentierten Papier-Preziosen.
Wann sind Bücher ein Fall für das Museum? Wenn sie Geschichte gemacht haben, Geschichte ausdrücken und transportieren oder auf ihre eigene Geschichte zurückblicken können. Zu sehen und erleben sind sie weiterhin als Teil von informativen Sonderausstellungen im benachbarten Pei-Bau. Die 2003 eröffnete, lichtdurchflutete Ausstellungshalle ist nach ihrem chinesisch-nordamerikanischen Architekten Ieoh Ming Pei benannt.
Als Geheimtipp darf Deutschlands sechstgrößte Museumsbibliothek gelten. Sie findet sich im anschließenden Verwaltungsgebäude direkt am Spreekanal. Unter einem Glasdach, umgeben von Mosaiken und prachtvollen Regalwänden können nicht nur Mitarbeiter, sondern alle historisch Interessierten an 16 Lese- und Arbeitsplätzen forschen. Die feudale Ausstattung erinnert an den früheren Zweck des Bauwerks: Es wurde um 1900 als Kassenhalle der Preußischen Central-Genossenschaftskasse erbaut. Ihre Wertgegenstände bewahrte die Bank damals ein Stockwerk tiefer, im Tresorraum, auf. Dieser war offenbar so gut gesichert, dass nicht einmal die berüchtigten Panzerknacker-Brüder der 1920er-Jahre, Franz und Erich Sass, hier einen Bruch wagten. Heute hütet die Bibliothek unterirdisch die kostbaren Originale, von denen die Ausstellungsbesucher meist Faksimiles zu Gesicht bekommen.
Zum Beispiel ein Pergamentfragment der Heliand-Handschrift aus dem 9. Jahrhundert, die das Leben Jesu Christi als Ritterepos erzählt. Es stammt wahrscheinlich aus dem Kloster Verden und tauchte um 1880 in der Prager Universitätsbibliothek auf. 1953 überreichte es der tschechoslowakische Staatspräsident Klement Gottwald als Staatsgeschenk an den DDR-Ministerpräsidenten Wilhelm Pieck. Mit der Goldenen Bulle von 1356 liegt hier auch ein Stück Verfassungsgeschichte. Das Museum verfügt über den ersten illustrierten Druck des frühen Gesetzeswerkes von 1485, das die deutsche Königswahl regelte. Christoph Kolumbus schrieb 1492 noch an Bord seines Schiffes einen Brief an den spanischen Königshof: Er berichtete darin von seinen jüngsten Entdeckungen – vermeintlich in Indien. Im Museum ist der Brief in Buchform zu sehen, gedruckt bereits 1493 in Rom. Im selben Jahr erschien die Schedelsche Weltchronik: Umfangreich illustriert, beschreibt sie den Lauf der Welt mit den Augen des Nürnberger Arztes, Humanisten und Historikers Hartmann Schedel.
Mit seinen 95 Thesen gab Martin Luther anno 1517 den Anstoß für eine Zeitenwende. Das Deutsche Historische Museum besitzt einen der frühesten Drucke, der selbst durch die Hand des Reformators ging. Daneben ist zudem die persönliche Bibel des Luther-Jüngers Joachim Graf zu Ortenburg verwahrt, der sich 1534 eine Ausfertigung auf Pergament drucken und mit kolorierten Holzschnitten versehen ließ. Sein Leitspruch EMW – Eile mit Weile – ist in den Einband geprägt. In der Nachbarschaft findet sich ein Text mit dem Titel Osnabrückischer Frieden-Schluß von 1648, der als Westfälischer Friede den Dreißigjährigen Krieg beendete. Die älteste Darstellung des menschlichen Auges von innen im Universallexikon des Kartäusermönchs Gregor Reisch von 1503 ist hier ebenso aufbewahrt wie ein Medizinbuch mit Pop-up-Darstellungen des menschlichen Körpers von 1632. Dazu alle Bände der ab 1642 erschienenen Topographia Germaniae des Matthäus Merian. Der Kupferstecher und Verleger stellte mehr als 2.000 Ansichten von Städten, Burgen und Klöstern zusammen.
In Erstausgaben besitzt das Museum Literaturklassiker wie Johann Wolfgang von Goethes Faust, Friedrich Schillers Die Räuber, die Kritiken des Immanuel Kant, aber auch Wilhelm Buschs Bildergeschichte von den bösen Buben Max und Moritz. Wie ihr Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 – hier im Erstdruck – die Weltgeschichte beeinflussen würde, ahnten wohl nicht einmal die Verfasser Karl Marx und Friedrich Engels. Ein bedrückendes Zeitdokument ist das Telefonbuch der Stadt Warschau von 1939. Zahllose Bürger jüdischer Abstammung sind dort aufgeführt, die wenig später Opfer der NS-Vernichtungspolitik wurden. Oppositionelle ließen 1941 wahrscheinlich in Amsterdam ein Heftchen mit dem Titel Zehn kleine Meckerlein im Stempeldruck herstellen: »5 kleine Meckerlein, die spielten mal Klavier. Der eine spielte Mendelssohn, das waren’s nur noch vier«, heißt es darin.
Aber auch Literatur der Nazis voller Rassismus und Menschenverachtung lagert in den Giftschränken. Das 1987 gegründete Deutsche Historische Museum übernahm nach der Wende vom Museum für Deutsche Geschichte (MfDG) der DDR das Domizil im Zeughaus sowie dessen Literatursammlung. Dort hatte man nicht nur beträchtliche Altbestände erhalten, sondern auch aufgenommen, was öffentliche Bibliotheken aus politischen Gründen aussortierten. Von 1938 stammt das Protokoll von Adolf Hitlers Staatsbesuch beim italienischen Diktator Benito Mussolini, das der damalige Reichsminister Rudolf Heß als Geschenkausgabe in Ledereinband mit Goldschnitt bekam. Die Museumsbibliothek verfügt über alle Jahrgänge der NS-Parteizeitung Völkischer Beobachter. Aber auch ein Prüfbericht für die ersten Probefahrten mit den Volkswagen-Prototypen 1937 durch Deutschland ist zu finden. Dazu die DDR-Frauenzeitschrift Sibylle, vier politische Pamphlete der Rote Armee Fraktion (RAF), der Koalitionsvertrag von Grünen und SPD in Baden-Württemberg und die Ausgabe des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo, die Terroristen zum Anlass für einen Anschlag nahmen. Es ist unverkennbar: Geschichte und Buch sind nicht zu trennen.
Ein Pop-up-Medizinbuch von 1632 in der Bibliothek des Deutschen Historischen Museums