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10 »Jesacht, wies is« »Zille Museum«
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Dit is so Zille-meesich.« Wer so etwas sagt, meint es meist nicht als Kompliment, sondern will seinem Unmut über piefige Alt-Berliner Nostalgie und verstaubten Kleinbürgerhumor Luft machen. Aber wer den Maler, Zeichner und Fotografen Heinrich Zille (1858–1929) auf Folklore, derbe Postkartenmotive und die Zille-Boulette, die Touristenlokale servieren, reduziert, tut ihm mehr als unrecht: Wie kein Zweiter fing der Künstler das soziale Elend in der Millionenstadt Berlin ein. Das von einem privaten Verein geführte Zille Museum im Nikolaiviertel würdigt den »Pinselheinrich« auf 250 Quadratmetern Fläche mit mehr als 150 ausgestellten Zeichnungen, Grafiken und Fotografien aus Heinrich Zilles Schaffen sowie allerlei biografischen Dokumenten.
Beim Betrachten seiner Bilder wird schnell deutlich: Zilles »Milljöh«, das sind die ganz kleinen Leute. Prostituierte, Waschfrauen, aufgedunsene Kinder, Säufer, Obdachlose und Einbeinige. Das sind die Schmuddelecken, Dachkammern, Hinterhöfe, Kohlenkeller und schäbigen Kaschemmen. Die engen Behausungen, in denen sich die Großfamilie ein Bett teilt, über dem die zerlumpte Wäsche aufgehängt ist. Da steht eine Traube gaffender Menschen in einem Hinterhof um eine Mülltonne mit einer Kinderleiche herum. Die Unterschrift zu der Kreidezeichnung, die Zille 1906 für die Zeitschrift Simplicissimus schuf, lautet: »Haben Se sich nich so, Schulzen, draußen in de Lauben buddeln se so wat alle Dage aus de Erde.« Es wird gerauft, geraucht, gesoffen, gestillt, gedöst, geheult, Selbstmord begangen, manchmal auch gelacht und getanzt.
Zille, der als einer der populärsten Künstler seiner Zeit galt, stammte selbst aus ärmsten Verhältnissen. Als Kind musste er miterleben, wie sein Vater, ein Uhrmacher, mehrfach ins Schuldnergefängnis einrückte. Immer auf der Flucht vor den Gläubigern zog die vierköpfige Familie aus dem heimischen Radeburg in Sachsen erst nach Dresden, 1867 dann in die Metropole Berlin. Nahe des damaligen Schlesischen Bahnhofs fand sie eine dürftige Kellerwohnung. Essen gab es oft nur in der Volksküche für Bedürftige. Ehe der Vater eine Stelle als Mechaniker bei der Firma Siemens & Halske bekam, hielten sich die Zilles mit Heimarbeit über Wasser. Heinrich trug Milch, Brötchen und Zeitungen aus, um das karge Leben mitzufinanzieren – aber auch, um bei einem privaten Lehrer Zeichnen zu lernen.
Metzger sollte er werden – so wollte es der Vater. Doch Heinrich konnte kein Blut sehen. So begann er eine Lehre bei dem Lithographen Fritz Hecht in der Alten Jakobstraße. Parallel zu seiner Arbeit nahm er Zeichenunterricht als Abendschüler an der Königlichen Kunstschule. Einer seiner Lehrer, der Maler und Karikaturist Theodor Hosemann (1807–1875) soll Zille den Rat gegeben haben: »Gehen Sie lieber auf die Straße hinaus, ins Freie, beobachten Sie selber, das ist besser, als wenn Sie mich kopieren.«
Nach seiner Lehre arbeitete Zille in verschiedenen lithographischen Betrieben, wo er unter anderem Muster für technische Geräte, Damenmoden und Werbeplakate zeichnete. 1877 erhielt er eine Anstellung bei der Photographischen Gesellschaft Berlin, die Reproduktionen zeitgenössischer Kunstwerke anfertigte und vertrieb. Neben seinem Beruf begann Zille ab 1900, Zeichnungen zu veröffentlichen. Zeitschriften wie Simplicissimus, Jugend und Lustige Blätter druckten seine Milieu-Skizzen ab. Noch lieber waren den meisten Abnehmern freilich Zilles harmlose Witzzeichnungen. 1903 nahm ihn die Künstlergruppe Berliner Secession auf, der auch Edvard Munch und Käthe Kollwitz angehörten – ebenso Max Liebermann, der zu Zilles großem Förderer wurde.
Als knapp 50-Jähriger verlor der unermüdlich Arbeitende seine Anstellung bei der Photographischen Gesellschaft. Nun galt es, den Lebensunterhalt für sich, seine Frau Hulda und die Kinder Margarete, Hans und Walter als freischaffender Künstler zu verdienen. Und das gelang. Für Kaiser Wilhelm II. waren derlei ungeschönte Darstellungen zwar nichts als »Rinnsteinkunst«, seine Untertanen aber liebten die Zeichnungen. Zille publizierte sie in Zeitungen, Zeitschriften und eigenen Büchern wie dem Band Mein Milljöh. Neue Bilder aus dem Berliner Leben von 1914. Das Volk verehrte ihn und Zille mischte sich gerne unter die einfachen Leute, auch wenn er nun ein regelrechter Star war. In den Zwanzigerjahren sang die Schauspielerin und Kabarettistin Claire Waldoff (1884–1957) ein Chanson, getextet von Hans Brennert: »Im Nussbaum links vom Molkenmarcht, Da hab ick manche Nacht verschnarcht, Da malt der Vater Zille! […] Die Jäste, die sind knille!« 1924 wurde der Zeichner auf Vorschlag Max Liebermanns als Professor in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen. Hoch angesehen, starb Zille 1929 nach zwei Schlaganfällen. Er erhielt ein Ehrenbegräbnis und wurde auf dem Stahnsdorfer Friedhof beigesetzt.
Das Zille Museum zeigt Ausschnitte des Dokumentarfilms Det war Zille sein Milljöh von Irmgard von zur Mühlen. Ausgiebig präsentiert wird zudem sein pikantestes Werk, die Hurengespräche. Unter dem Pseudonym W. Pfeifer und mit der falschen Jahresangabe 1913 versehen hatte Heinrich Zille 1921 pornografische Zeichnungen mit kleinen Texten veröffentlicht, die von der offiziellen Zensur sogleich verboten wurden. Allerdings besitzt auch dieses Werk, in dem Frauen berichten, wie sie vergewaltigt, missbraucht und zur Prostitution gezwungen wurden, einen sozialkritischen Hintergrund. Daneben wartet das Museum mit wechselnden Fotoausstellungen auf. Ein Zille-Darsteller lässt bei Themenführungen das Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts lebendig werden. Bisweilen unterstützen ihn dabei andere Berliner Originale wie die Reisigsammlerin, das Blumenmädchen und der Eckensteher Nante. Souvenirs gibt’s im angeschlossenen Zille-Shop.
Wenige Meter vom Museum entfernt steht eine Zille-Statue des Bildhauers Thorsten Stegmann. Der steinerne Zeichner schmaucht zufrieden an seinem Zigarrenstummel. So, als würde er sich diebisch über die Worte freuen, die Kurt Tucholsky 1929 in der Zeitschrift Weltbühne an ihn richtete: »Malen kannste. Zeichnen kannste, Witze machen sollste. Aba Ernst machen dürfste nich. Du kennst den janzen Kleista – den ihr Schicksal: Stirb oda friß! Du wahst ein jroßa Meista, Du hast jesacht, wies is.«
Zille-Standbild im Nikolaiviertel