Читать книгу Der Malik - Bernhard Kreutner - Страница 11
Donnerstag, 16.40 Uhr, D-Trakt, Herrengasse, Wien
Оглавление»Wieder nichts, verdammt!«
In seine Unterlagen versunken, antwortete Michael Lenhart, ohne aufzublicken: »Den Gang der gemessen ablaufenden Zeit beschleunigen zu wollen, ist das kostspieligste Unternehmen.«
»Dein Aristoteles nützt uns jetzt auch nichts, Michael.« Frustriert schob Anton die Unterlagen beiseite, während Michael aufblickte und ebenfalls seine Papiere weglegte.
»Das war ein Gedanke von Schopenhauer, einem deutschen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts, der die Überzeugung vertrat, dass der Welt ein irrationales Prinzip zugrunde liegt.« Trocken fügte er hinzu: »So etwas kommt heraus, wenn man Platon mit Kant verbindet und zeitlebens einen Pudel namens Atman hält.«
»Wie kann man ein Leben lang einen Pudel haben?«, wollte Anton wissen.
»Es war nicht ein Pudel, sondern einer nach dem anderen, und alle nannte er Atman, nach dem Sanskrit-Wort für Lebenshauch. In den Upanishaden ist der Atem die Essenz des Selbst, der Einzelseele, die wiederum Teil des Brahman, der Weltseele, ist.«
Verblüfft erwiderte Anton: »Wie kannst du dir das alles merken?«
»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.«
»Na ja, wenigstens zeigen uns deine Philosophen, dass sie auch nicht immer eine Lösung gefunden haben. Aber wenn wir schon dabei sind, ein irrationales Prinzip klingt für mich wie die Geschichte vom alten Knaben oder dem trockenen Wasser.«
Michael stand auf und verbeugte sich lächelnd vor seinem verblüfften Kollegen. »Ausgezeichnet, Anton! Ein Prinzip ist ein Grundsatz, ein Regelwerk, allerdings heißt Prinzip wörtlich übersetzt Anfang oder Ursprung, insofern kann man nicht unbedingt von einem logischen Fehler sprechen.«
Anton gefiel diese Diskussion zusehends. »Also ist auch die atheistische Religion nicht unbedingt ein Widerspruch in sich, solange man sich nicht auf die Bedeutung von Atheismus und Religion geeinigt hat, richtig?«
»Gut erkannt! Darum ist auch der Kampf um die Semantik, um die Deutungshoheit, ein mitunter erbittert geführter. Manchmal hat man den Eindruck, die Vertreter verfeindeter Denkschulen würden lieber die abgelegte Zahnbürste ihrer Konkurrenten benutzen als deren Begriffe.«
Anton lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf: »Das erinnert mich an meinen Vater. Wenn er sagte: Es ist, wie es ist, wussten wir Kinder, Ende der Diskussion.«
»Ja, und dies ist wiederum ein gutes Beispiel für die normative Kraft des Faktischen.«
»Du meinst, ich bin der Chef im Haus und mache die Regeln, richtig?
»So könnte man es auch sagen, ja. Hinzu kommt, dass man sich als Mächtiger, in diesem Fall dein Vater, über Regeln, mitunter die eigenen, hinwegsetzt, obwohl man sie bei anderen selektiv einfordert. Die Weltpolitik folgt übrigens weitgehend genau diesem Grundsatz.«
»Interessanter Aspekt, Michael. Aber wenn dein Schopenhauer von einem irrationalen Prinzip spricht, dann heißt das nach meinem laienhaften Verständnis: Ich habe keine Ahnung, also ist es irrational. Für mich klingt das nach einer verkappten Religion.«
»Du weißt, die Grenze zwischen Ratio, Unerklärlichem und Glaubenssystemen ist immer fließend. Zumindest findet man bei Schopenhauer besagte Sanskrit-Anleihen und eine scharfe Polemik gegen jene, die nicht seine Meinung teilten. Diesen warf er gerne Hegelei vor. Damit hat er dem ihm überlegenen Superstar der Philosophie quasi von unten eines mitgegeben. Aber nun genug der Philosophie, woher rührt deine Frustration?«
Anton zeigte auf die am Tisch liegenden Papiere: »Daher. Wir sind alles gründlich durchgegangen: Strafregister, Grundbuch, Firmenbuch, die Finanzen, so weit die dortigen Kollegen bisher gekommen sind, und haben genau genommen, nichts, nada! Keinen Malik mit einem Flug nach Malta, keine Firmenbeteiligung eines österreichischen Malik auf Malta, kein Malik-Konto auf Malta, eben nichts. Stattdessen haben wir einen Haufen Kindergartenkinder und Schüler namens Malik, einen kleinen Taxiunternehmer, einen Teppichhändler, einen Hochschullehrer, einen Anwalt, zwei Ärzte, einen Schwung Arbeitslose, drei Schuster, vier Friseure und was weiß ich noch. Das war’s.«
Wie gewohnt hatte Michael begonnen, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen, die Hände in den Hosentaschen. »Wenn diese Informationen richtig sind, bleiben uns drei Schlüsse. Erstens: Es gibt keine Verbindung zwischen ›der Malik‹, also der Notiz, und dem Verschwinden unseres Kollegen auf Malta. Zweitens: Wir haben diese Verbindung übersehen. Oder drittens: Die Verbindung liegt im Verborgenen.«
Nachdenklich wiegte Anton den Kopf und legte die Stirn in Falten: »Mit anderen Worten, wir müssen tiefer graben.«
»Richtig. Das könnte sich allerdings als knifflig erweisen.«
»Es ist immer schwierig, oder hast du einen konkreten Verdacht?«
»Nein, es ist kein Verdacht, es liegt vielmehr an den besonderen Gegebenheiten in Malta.«
Jetzt stand auch Anton auf und folgte seinem Kollegen beim Rundgang durch das Wohnzimmer. »Du meinst Malta als Steueroase mitten in der EU?«
»Malta ist nicht unbedingt eine klassische Steueroase, sondern ein Niedrigsteuerland, und daraus ergeben sich für geschickte Konstrukteure Möglichkeiten zur …, nennen wir es Steuer- und Abgabengestaltung. Aber ich meine vor allem den Umstand, dass wir dort nicht tätig werden können. Wir können nicht einmal bei den maltesischen Kollegen um Amtshilfe bitten. Bei der Polizei wissen wir nicht, an wen wir geraten, und der Kollege von der Finanz befindet sich möglicherweise im Fadenkreuz unserer unbekannten Gegner.«
»Glaubst du, die Informationen von Sabines Freund werden uns hier weiterhelfen?«
»Ich hoffe es. Auf jeden Fall ist es gut zu wissen, wie diejenigen arbeiten, die professionell beim Verstecken und Waschen von Geldern helfen.«
»Steuerberater als Betrugshelfer? Lehnst du dich da nicht ein wenig zu weit aus dem Fenster, Michael?«
»Nein, ich fürchte nicht. Wie überall gibt es auch in dieser Branche schwarze Schafe. Abgesehen davon: Je komplexer die Gesetzestexte und Bestimmungen werden, desto mehr scheint es mir eine Frage der Semantik zu sein, zumal speziell die großen internationalen Kanzleien nicht nur Unternehmen beraten, sondern auch Regierungen.«
»Die Verlockung einer kreativen Interpretation, ich verstehe. Andererseits ist das ein klarer Interessenkonflikt. Man kann nicht auf der einen Seite Unternehmen beim Steuernsparen beraten und auf der anderen Seite Regierungen bei der Gestaltung ebendieser Steuern und Abgaben.«
»Praktisch gelöst, indem man die unterschiedlichen Aufträge unterschiedliche Teams bearbeiten lässt, seitenlange Vertraulichkeitsvereinbarungen aufsetzt und Compliance-Regeln auf Hochglanzpapier druckt. Aber es gibt noch einen ganz anderen Grund, errätst du ihn?«
Anton war stehen geblieben und legte wieder die Stirn in Falten. »Deine normative Kraft des Faktischen und der Umstand, dass es derartige Steueroasen und Niedrigsteuerländer überhaupt gibt, richtig?«
»Ausgezeichnet! Ein wichtiger Faktor kommt noch dazu, wie bei fast allem, errätst du auch den?«
»Die Verlockung des großen Geldes. Sowohl bei denen, die Steuern hinterziehen, als auch bei denen, die dabei helfen?«
»Ja, pecunia non olet. Kaiser Vespasian im alten Rom musste noch die Latrinen besteuern. Im Moment heißt es für uns also warten.«
»Warum und worauf warten? Entweder wir finden einen Ansatzpunkt, oder wir müssen den Fall zu den Akten legen.«
Die Hände immer noch in den Hosentaschen, stand Michael vor den Panoramafenstern, sah in den Innenhof und erwiderte, fast mehr an sich selbst gerichtet: »Warten ist Zeit. Eine Zeit, mit der wir nicht gerechnet haben. Nennen wir sie eine freie, eine verwendungsoffene Zeit. Eine weitere Bedeutung von ›Warten‹ lautet übrigens pflegen, instand halten. So gesehen haben wir diese geschenkte Zeit des Wartens gut genutzt. Wir haben diskutiert, den Verstand trainiert und unsere Beziehung gepflegt.«
»Hast du auf alles eine Antwort, Michael?«
Er wandte sich um und seinem Kollegen zu: »Nein, ganz im Gegenteil! Und jetzt genug von derlei Gedankenspielchen! Lass uns für heute Schluss machen. Auf dich warten Frau und Kinder und auf mich ein paar Hanteln und anschließend Helmut mit seiner Familie.«
»Du meinst den Helmut? Deinen Freund?«
»Ja, ich bin zum Essen eingeladen. Sabine kommt auch.«
»Na dann, das ist ja fast so, wie wenn man die Braut den Eltern vorstellt.«
»Nicht ganz, aber ich muss zugeben, ich bin ein klein wenig nervös.«