Читать книгу Der Malik - Bernhard Kreutner - Страница 7

Donnerstag, 9.00 Uhr, Bundesministerium für Inneres, Herrengasse, Wien

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»Sie wollen die Auszeichnung tatsächlich nicht annehmen?«

Hauptmann Michael Lenhart, Leiter der Abteilung für Sonderfälle, sah zu seiner Partnerin, Leutnant Sabine Preiss, und trank einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete. »Frau Ministerin Mannlicher, das Glück gehört denen, die sich selbst genügen.«

»Ihre Vorliebe für philosophische Weisheiten ist schön und gut, aber ich vermute, die Selbstgenügsamkeit ist nicht der einzige Grund für Ihre Ablehnung. Oder gehört das alles zu Ihrem Image als einsamer Wolf?«

»Frau Ministerin, es ist weniger eine grundsätzliche Aversion gegen Auszeichnungen als vielmehr eine Frage der Gerechtigkeit. Die Organmafia haben wir als Team aus dem Verkehr gezogen. Einzig mich als zufällig eingesetzten Leiter dieser Zwei-Personen-Strafabteilung mit einem Preis zu schmücken, halte ich daher für falsch.«

Widerwillig antwortete die Ministerin: »Mag sein, aber so sind nun mal seit jeher die Regeln.«

»Dann, Frau Ministerin, habe ich einen Grund mehr, die Auszeichnung abzulehnen und diese Regel, da falsch, zu brechen.«

Lächelnd schüttelte die Ministerin den Kopf. Offenen Widerspruch war sie nicht gewohnt. Dieser Lenhart war anders als die sonst leitenden Beamten und Polizeioffiziere, mit denen sie zu tun hatte. Parteipolitisch war er einer der seltenen Nullgruppler, seine Arbeitsmethoden waren mitunter unorthodox, und in der Kollegenschaft ging man ihm meist aus dem Weg. Weniger aus persönlicher Animosität, sondern wegen seiner Konsequenz und seines scharfen Intellekts. Neben Lenhart kamen sich die meisten dumm oder zumindest ungebildet vor. Andererseits waren nicht nur seine Zitate legendär, sondern auch seine Erfolge. Insofern wurde er respektiert, aber mit ihm arbeiten wollte fast niemand. Zumindest bis jetzt.

»Einverstanden, Lenhart. Ihre Arbeit, und damit meine ich Sie ausdrücklich ebenfalls, Leutnant Preiss, bei der Jagd nach der Organmafia war herausragend und hat auch international hohe Wellen geschlagen. Speziell die Schweizer stehen nun tief in unserer Schuld. Ich akzeptiere Ihre Ablehnung des Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich. Ihre Degradierung zum Hauptmann ist hiermit aufgehoben. Lenhart, Sie sind ab sofort wieder Major und Sie, Frau Preiss, Oberleutnant. Um den Papierkram wird sich Brigadier Fritsch kümmern. Ich nehme an, damit können Sie leben?«

Während Sabine Preiss lächelnd nickte, antwortete Michael Lenhart ruhig und gelassen: »Ja, damit bin ich einverstanden, danke, Frau Ministerin.«

»Gut, kann ich sonst noch etwas für Sie beide tun?«

Diesmal war es Sabine, die antwortete: »Ja, Frau Ministerin. Wir haben Gefallen an den Sonderfällen gefunden. Mit Ausnahme der Bürokratie. Die Klassifizierung und Weitergabe der ungelösten Fälle nach den Vorgaben der EU ist keine Polizeiarbeit. Das ist reine Administration und, ganz offen gesagt: vielleicht gut gemeint, mehr aber nicht.«

»Ich weiß. Darum wird sich ebenfalls der Fritsch kümmern. Ich brauche Sie als Polizisten, nicht als Ärmelschoner. Die Frau Direktor und die Sektionschefs werden zwar keine Freude haben, wenn ich mich ins Organisatorische einmische, aber ich werde die Abteilung für Sonderfälle institutionalisieren. Sie bleiben im D-Trakt, berichten ausschließlich dem Fritsch beziehungsweise mir und werden sich um genau jene Fälle kümmern, die besonders sind. Einverstanden?«

Michael sah kurz zu Sabine hinüber, bevor er antwortete.

»Ja, Frau Ministerin, wir sind einverstanden.«

»Gut, Sie bekommen weitgehende Sondervollmachten, ähnlich jener der Nachrichtendienste. Ich will, dass Sie ungehindert und rasch arbeiten können.«

Michael Lenhart hob abwehrend die Hände. »Nein, Frau Ministerin. Hausintern hat man uns den schmeichelhaften Spitznamen ›Abteilung für Abfälle‹ gegeben, und seit letzter Woche klopft man uns mitunter neidvoll auf die Schultern. Sondervollmachten würden uns in den Augen der Kollegen zu etwas Besonderem machen, und das Besondere wird, zumal in Wien, gerne nach allen Regeln der Kunst wieder auf das Durchschnittsmaß reduziert. Abteilung für Sonderfälle genügt. Ihre informelle Unterstützung zusammen mit der organisatorischen Spitzfindigkeit von Brigadier Fritsch und dem Genie von Frau Wolf ist mehr, als wir brauchen.«

Ministerin Mannlicher lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schüttelte den Kopf.

»Auch ein Argument, einverstanden. Aber was mich interessiert: Haben Sie das alles bereits vorab bedacht, oder ist Ihnen diese Erkenntnis erst jetzt gekommen?«

»Denken scheint mir ein steter Prozess zu sein. Allerdings bewegt das Denken allein nichts. Es muss auf einen Zweck gerichtet sein, und das Nachdenken darüber, wie es denn nun nach der erfolgreichen Feuertaufe mit der Abteilung für Sonderfälle weitergeht, war naheliegend. Der Rest ist mehr oder weniger eine Frage der Kausalität.«

»Zweckgerichtetes Denken, sehr gut! Vielleicht sollte ich diesen Grundsatz bei meiner nächsten Parlamentsdebatte von der Opposition einfordern.«

»Frau Ministerin, mit Verlaub, Politiker gehören wahrscheinlich zu den zweckgerichtetsten Menschen überhaupt. Das liegt in der Natur der Sache, nehme ich an. Einzig der Zweck, das Motiv ihres Tuns oder Nicht-Tuns, wäre zu hinterfragen. Abgesehen von der Qualität des Denkens an sich …«

Sabine Preiss unterbrach ihren Kollegen: »Michael, hör auf! Die Bemerkung der Ministerin war keine Einladung für einen Vortrag, sondern sarkastisch gemeint.« Und direkt an die Ministerin gewandt: »Frau Ministerin, wir haben in den vergangenen Tagen intern lange über die Zukunft der Abteilung für Sonderfälle diskutiert, lassen Sie uns einfach unseren Job erledigen.«

Die Ministerin sah zuerst Sabine Preiss einige Sekunden in die Augen und musterte anschließend Michael Lenhart. Der letzte Teil, einfach unseren Job erledigen, hallte in ihrem Kopf nach. War es tatsächlich besser, wenn sie sich nicht einmischte?

Michael Lenhart unterbrach das Schweigen: »Frau Ministerin, Sie fragten uns vorhin, ob Sie etwas für uns tun könnten, und das können Sie tatsächlich.«

»Und was, Lenhart?«

»Versprechen Sie uns, abzuheben, wenn wir anrufen, mehr nicht.«

Lachend erwiderte die Ministerin: »Ist das alles? Ich soll Sie in Ruhe lassen und auf Ihren Zuruf warten?«

Wie immer ruhig und sachlich, antwortete Michael Lenhart: »Exakt, Frau Ministerin. Wir machen unseren Job, und sollte uns jemand Knüppel zwischen die Beine werfen, kommen wir gerne auf Ihr Angebot zurück.«

Die Ministerin stand kopfschüttelnd auf, ging zu ihrem Schreibtisch und kam mit einer dünnen Aktenmappe zurück.

»Sie sind das ungewöhnlichste Duo, das mir in meinem gesamten Berufsleben untergekommen ist. Aber ich schätze Ihre offene und ehrliche Art, eine angenehme Abwechslung. Allerdings wird aus Ihnen beiden ab sofort ein Trio. Ihr Kurzzeitkollege, Gruppeninspektor Anton Steinbach, hat den Fritsch ausdrücklich um eine Versetzung zu Ihnen ersucht und mich dabei frecherweise gleich in cc gesetzt. Die Versetzung geht in Ordnung. Sie werden in Zukunft zu dritt arbeiten, viel Glück.«

Nach einer herzlichen Verabschiedung im Ministerbüro gingen die beiden zu ihrem unmittelbaren Vorgesetzten, Brigadier Fritsch, kamen aber nur bis in dessen Vorzimmer. »Na, da schau her, die beidn Schifahrer! Nett, dass wieda da seids, gesund und munter, wie ma scheint.«

»Ja, liebe Frau Wolf, danke der Nachfrage! Und wie geht’s Ihnen?«

»Fragts ned! Da Alte schwebt seit letzter Wochn auf Wolke siebn wegen de Schweiza, und a die Deutschn san plötzlich handzahm. Oba die Arbeit wird ned weniger. Wollt’s an Kaffee?«

»Sehr nett, Frau Wolf, aber wir haben gerade bei der Ministerin einen bekommen.«

»Jo, de is in Ordnung. I mein, i hab ja scho viele Minister geshn und die meisten …, aber lass ma des. Die Auszeichnung habn ma also abgelehnt, wie ich ghört hab?«

»Sie sind wie immer bestens informiert, Frau Wolf.«

»Des is a Lauffeuer, des sag i euch. Schaut’s, so a Ehrenzeichn hättn alle gern, kriegns aber ned, und da Herr Major kriegt’s, will’s aber ned. So was beschäftigt die Leut.«

Sabine Preiss schüttelte den Kopf. »Es ist keine zehn Minuten her, dass wir bei der Ministerin raus sind, und Sie wissen bereits alles. Wie machen Sie das, Frau Wolf?«

Mit einem selbstbewussten Lächeln antwortete sie: »Aber geh, Frau Oberleutnant. Was imma im Büro der Ministerin beschlossn wird, geht üba den Schreibtisch ana Kollegin, so einem Urgestein, wia i ans bin. Mia haltn uns gegenseitig am Laufenden und den Ladn in Schwung. Wenn ma überall den Dienstweg einhaltn würdn oder alls so machn täten, wie’s die Chefitäten wünschn, nicht auszudenkn, speziell in Wahlkampfzeitn. Ja, es gibt da so a Art Informations- und Korrekturnetzwerk, euch kann i’s ja sagn. Aber des bleibt unter uns, versprochn?«

»Versprochen, Frau Wolf«, erwiderte Michael Lenhart. »Ist der Herr Brigadier im Büro?«

»Ja, ihr könnt’s glei zu ihm rein. Aber er hat heut schlechte Laune. Ned wegen euch, wegen seiner NichtFreundin, der Richterin, die hat glei in der Früh angrufn. Des tut sie nua, wenn’s zu Haus Brösl gebn hat. Also Vorsicht beim Altn.«

Im Büro von Brigadier Fritsch, dem stellvertretenden Leiter des Bundeskriminalamtes, war von einer frostigen Stimmung nichts zu bemerken. Mit einem Wink lud der Brigadier die beiden ein, Platz zu nehmen, und beendete das Telefonat.

»Schön, Sie beide gesund und munter wiederzusehen. Am Telefon vorhin war die Ministerin. Sie sind beide befördert, Gratulation! Dass Sie die Auszeichnung ablehnen würden, darauf hätte ich gewettet. Als Philosoph sind Sie ja mehr ein Asket, oder wie man das nennt.«

»Sie meinen die Kyniker, wie Diogenes. Aber das stimmt nicht ganz. Ich lehne Eigentum nicht ab, ganz im Gegenteil. Ich halte persönliches Eigentum für eine der zentralen Voraussetzungen eines friedlichen und prosperierenden Lebens in Gemeinschaft. Und um auf dieses Ehrenzeichen zurückzukommen: Hätte man uns beide ausgezeichnet, hätte ich angenommen, aber wo es nur um mich ging, war es für mich nur logisch, abzulehnen.«

»Wie auch immer, so sind nun mal die Regeln. Der Steinbach ist schon im D-Trakt. Er hat auf einer Versetzung in Ihre Abteilung geradezu insistiert, und mir soll es nur recht sein. Um die Bürokratie wird sich in Zukunft die 2.2., Verbindungsbüro Den Haag, Europol kümmern. Sollen die sich mit Brüssel herumschlagen. Für Sie beide habe ich einen anderen Fall. Die Finanz vermisst seit einigen Tagen einen leitenden Beamten, und niemand, auch nicht die Kollegen von der Abteilung Wirtschaftskriminalität, kann sich einen Reim darauf machen. Schauen Sie sich das an. Irgendetwas stimmt da nicht.«

»Gut, machen wir.«

»Noch etwas: Generalmajor Kollnig hat gemeint, Sie sollen die Laptops und Mobiltelefone behalten, und ich habe nichts dagegen, wenn Sie mit abgeschirmten Computern arbeiten. Für die Inventur muss ich mir allerdings noch etwas einfallen lassen. Geräte vom Kommando Führungsunterstützung & Cyber Defence im Innenministerium, das reicht für eine Titelgeschichte in der Stadtzeitung. Ach was, darum soll sich die Wolf kümmern. In diesem Sinne, an die Arbeit.«

Schon im Hinausgehen rief Brigadier Frisch die beiden nochmals zurück.

»Das hätte ich fast vergessen! In Bern sind sie ganz blass geworden, als ich ihnen das Material über die Organmafia gegeben habe. Die hatten nicht den leisesten Verdacht. Als Zeichen des Dankes und der Anerkennung hat gestern die Botschaft diesen Geschenkekorb im Namen unserer dortigen Kollegen für Sie beide vorbeigebracht. Hier, nehmen Sie. Ich habe auch einen bekommen und kann Ihnen versichern, speziell die Käse sind von ausgesuchter Qualität und die Weine ebenso.«

Mit dem Korb der Schweizer Kollegen machten sich die beiden auf den Weg in den D-Trakt, wo sie bereits von Anton Steinbach erwartet wurden.

»Servus zusammen. Sabine, Michael, melde mich zum Dienst! Und mit einem Blick auf den Geschenkekorb: »Habt ihr da das Mittagessen gleich mitgebracht?«

»Hallo, Michael, nein, das ist ein Geschenk der Schweizer. Der Fritsch hat ihn uns grad eben mitgegeben. Greif zu.«

»Aber der ist doch für euch?«

»Nein, für die Abteilung, also auch für dich. Nimm dir, was du willst.«

Verwundert sah sich Anton den Korb näher an.

»Danke, nett von euch! Wenn ich darf, nehme ich gerne die Schokolade. Sowohl meine Frau als auch die Kinder sind Naschkatzen, und Süßigkeiten von Favarger und Beschle gehören zu den besten.«

»Sicher, und nimm dir auch von dem Käse und dem Wein, Anton. Der Fritsch meinte, die wären ausnehmend gut.«

»Danke, Sabine, aber die Schokolade genügt.«

Wortlos nahm Michael den Korb, teilte alles in drei Teile und schob die gesamten Süßigkeiten zum dritten Teil.

»Anton, keine falsche Bescheidenheit. Wir sind ein Team, und du hast Frau und Kinder. Also nimm, und willkommen in der Abteilung für Sonderfälle.«

Zögernd griff Anton nach einer seiner beiden Weinflaschen und musterte sie. Ein Chardonnay vom Weingut Martha und Daniel Gantenbein.

»Danke euch! Eine solche Aufteilung bin ich nicht gewohnt. Übrigens, der Fritsch hat uns bereits einen Fall zugeteilt. Es geht um einen auf Malta verschwundenen Abteilungsleiter aus dem Finanzministerium. Die Unterlagen habe ich ausgedruckt, sie liegen auf euren Schreibtischen. Wie lauten die Befehle?«

Michael Lenhart schüttelte lächelnd den Kopf, füllte eine Karaffe mit Wasser und ging voraus ins Wohnzimmer. Anton folgte ihm verwundert, Sabine Preiss mit drei Gläsern.

Nachdem alle Platz genommen hatten, sah sich Michael in dem großen Raum mit den riesigen Panoramafenstern um, bevor er aufstand und anfing, auf und ab zu gehen.

»Anton, ich habe eine Bitte: Du hast es ja bei der Jagd auf die Organmafia bereits bemerkt. Die Arbeitsweise von Sabine und mir ist für Polizeibeamte wahrscheinlich so ungewöhnlich wie dieser D-Trakt. Eine Luxuswohnung mit eigenem Eingang, die niemand haben wollte, weil sie sich wegen der riesigen Fenster ab April in einen Backofen verwandelte, wurde interimistisch zum Büro umfunktioniert, und aus der Strafabteilung für zwei Sonderlinge ist eine fixe Abteilung für Sonderfälle geworden. Bei uns gibt es keine Befehle. Strenge Hierarchien mögen in Armeen und Konzernen sinnvoll sein, aber nicht bei uns dreien. Bei uns übernimmt immer der fachlich Kompetenteste die Führung. Als wir diese Ärztin im Imperial geschnappt haben, hat Sabine das Kommando übernommen, und beim Organisieren des Showdowns warst es du. So machen wir das intern. Titel und Ränge sind etwas für extern, einverstanden?«

Anton Steinbach sah seine Kollegen verblüfft an. Michael Lenhart hatte recht. Als sie die Falle in der Herrengasse organisierten, hatte er als deutlich Rangniedrigerer freie Hand. Hier musste er sich umstellen.

»Sorry, Michael, ich muss mich erst daran gewöhnen. Allerdings weiß ich nicht genau, was du mit extern meinst?«

»Die Welt da draußen, Anton. Unsere Kollegen legen meist großen Wert auf Titel und Ränge, und diese Eitelkeit machen wir uns zunutze. Ein Beispiel: Du willst etwas von einem Sektionschef, kommst aber nur bis zu dessen Assistenten, denn der Sektionschef ist ziemlich sicher Akademiker und gibt sich nicht gerne mit einem kleinen Gruppeninspektor ab. Also übernehme ich das für dich. Umkehrt ist es manchmal besser, wenn nicht gleich ein Major in Erscheinung tritt, in diesem Fall übernimmst du. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, das Ziel bestimmt die Mittel.«

»Genau, Anton! Glaube mir, auch für mich war es anfangs ungewohnt, so zu arbeiten, aber ich möchte es nie wieder anders haben«, meldete sich Sabine zu Wort und fuhr entschlossen fort: »So, und jetzt holen wir uns die Unterlagen, lesen uns ein, und dann sehen wir weiter.«

Der Bericht war kurz. Magister Walter Denk, Abteilungsleiter im Wiener Finanzministerium, zuständig für internationale Amtshilfe, vierundvierzig Jahre alt, geschieden, Vater einer neunzehnjährigen Tochter, war am Montag nach Malta geflogen, aber nicht zum vereinbarten Treffen erschienen. Nachdem der maltesische Kollege ihn auch am darauffolgenden Vormittag nicht erreichen konnte, rief er in Wien an, anschließend in der österreichischen Botschaft, und am Dienstagnachmittag machte er Meldung bei der Polizei. Eine Überprüfung im Hotel ergab nur, dass Walter Denk eingecheckt und kurz darauf das Hotel wieder verlassen hatte. Als man später das Zimmer überprüfte, war es leer. Auch die weitere Fahndung blieb erfolglos. Walter Denk war spurlos verschwunden.

»Nun, was meint ihr?«, fragte Michael.

»Väter verschwinden nicht einfach spurlos. Die Kollegen von der Wirtschaft wissen nichts, und es gibt keinen Hinweis auf einen Selbstmord.«

»Exakt, Anton. Außerdem wissen wir nicht, warum er tatsächlich nach Malta geflogen ist.«

»Tja, Abteilungsleiter arbeiten eben nicht in Teams und können sich ihre Auslandsreisen anscheinend selbst genehmigen«, ergänzte Anton sarkastisch.

»Sabine, was ist dein erster Eindruck?«

»Ich halte die Reihenfolge und die Zeit für interessant. Angenommen, wir laden jemand aus dem Ausland ein und unser Gast erscheint nicht am vereinbarten Treffpunkt, dann würden wir es sofort über dessen Mobiltelefon sowie im Hotel versuchen und noch am selben Abend zur Polizei gehen. Schließlich geht es hier nicht um einen Kurzurlaub, sondern um ein Treffen von zwei hochrangigen Finanzfahndern. Aber die Malteser lassen sich alle Zeit der Welt. Die Sache stinkt.«

»Also gehen wir ihr auf den Grund. Sabine, bitte übernimm du die Botschaft und versuche, mehr über unseren Ansprechpartner und die Finanzbehörden in Malta herauszufinden. Aber bleib allgemein, mach keinen Druck. Vorläufig soll alles nach reiner Routine aussehen. Anton und ich besuchen die Kollegen von der Wirtschaft und Finanz, einverstanden?«

»In Ordnung. Bitte kümmere du dich um das Mittagessen und nimm auch etwas fürs Frühstück mit.«

»Gern, besondere Wünsche?«

»Nein. Schau, was es bei Henry im Buffet Warmes gibt. Und ein Salat wäre gut.«

Anton folgte diesem scheinbar alltäglichen Dialog mit zunehmender Neugierde. Hatte Sabine tatsächlich von Frühstück gesprochen?

»Moment, Frühstück? Heißt das etwa das, was ich gerade denke?«

Während Sabine nur lächelnd zu Michael hinübersah, antwortete dieser ganz sachlich: »Ja, du hast es zwar nicht ausgesprochen, aber unsere Partnerschaft geht seit unserem Skiurlaub über das Berufliche hinaus.«

»Und ich soll das für mich behalten, nehme ich an?«

»Ja, selbstverständlich! Es geht niemanden etwas an.«

»Das widerspricht aber den Regeln.«

»Ich weiß, und ich, vielmehr wir widersetzen uns dieser Regel, da wir keinen Grund sehen, inwiefern unser Privatleben unsere Arbeit beeinträchtigen könnte.«

»Machen da der Philosoph und die Mathematikerin ihre eigenen Regeln? Wie geht das mit euren hohen Standards zusammen?«, wollte Anton, nach wie vor verblüfft, wissen.

Nach einem Blick zu Michael antwortete Sabine: »Das Pflänzchen ist noch sehr jung. Wenn wir bereits jetzt unser privates Verhältnis melden, ist diese Abteilung, unsere Abteilung, erledigt, das wollen wir nicht. Wir werden uns daher ein wenig Zeit lassen. Um beim Bild des Pflänzchens zu bleiben: Wenn es gewachsen ist und starke Wurzeln hat, werden wir es melden. Wenn nicht, war es die Meldung nicht wert. Zufrieden?«

Anton hob lachend die Arme und entgegnete: »Ja, absolut. Dieses kleine Geheimnis bleibt intern. So, und jetzt zum Externen, zu den Kollegen von der Wirtschaft. Lass uns gehen. Michael, hast du noch den Wagen?«

»Ja, es hat mich niemand nach den Schlüsseln für den BMW gefragt.«

Während Anton Steinbach in Richtung Josef-Holaubek-Platz im neunten Wiener Gemeindebezirk fuhr, studierte Michael Lenhart nochmals die Unterlagen. Als er die Mappe zuklappte, fragte ihn Anton: »Du hast früher selbst in Wirtschaftsfällen ermittelt. Kennst du die dortigen Kollegen?«

»Kaum. Ich war bei der 5.3., Verdeckte Ermittlungen. Allerdings hatte das Siebener-Büro, Wirtschaftskriminalität, selten Freude an meiner Arbeit. Sie meinten, ich würde in ihrem Teich fischen. Es könnte also sein, dass unser Empfang ein wenig frostig ausfällt. Wie sieht es bei dir aus?«

»Mit 7.2., Finanzermittlungen, hatte ich immer wieder zu tun. Die waren ganz in Ordnung. Aber wir sollen uns an den Abteilungsleiter, Major Ernst Tschiller, halten, den kenne ich nicht, du?«

Nachdenklich blickte Michael aus dem Fenster. »Den Boss, ja, den kenne ich. Recht gut sogar. Ich würde sagen, er gehört eindeutig in die Kategorie extern.« Auf einen fragenden Blick seines Kollegen hin fuhr Michael fort: »Ich nehme an, du kennst das Gebäude dort?«

»Du meinst die dortige Tintenburg? Sicher, warum?«

»Weil der Tschiller in meinen Augen diesem Gebäudetypus genau entspricht. Streng, zweckorientiert, nüchtern, machtbewusst und bar jeder Schönheit und Eleganz.«

Verwundert erwiderte Anton: »Du beurteilst Menschen nach ihrem Aussehen?«

»Nein, zumindest nicht bewusst. Mit Schönheit und Eleganz meine ich nicht das Äußere. Es geht vielmehr um eine Schönheit und Eleganz des Denkens, des Ausdrucks, des Seins. Aber der Mangel an Schönheit scheint mir insgesamt eine Krankheit unserer Zeit zu sein. Wir huldigen der nackten Funktion und lassen die Schönheit nur zu leicht verkümmern. Schau aus dem Fenster: Die moderne Architektur hat das Besondere, Regionale, Schöne durch das Glatte, Austauschbare, Uniformierte ersetzt. Friedensreich Hundertwasser sprach in diesem Zusammenhang von der gottlosen Geraden, und sein Freund, Arik Brauer, philosophierte darüber schon vor rund vierzig Jahren in seinem Buch Das Runde fliegt. Ja, in meinen Augen ist die moderne Architektur meist funktionell, aber seelenlos. Konrad Lorenz, ein anderer großer Österreicher, bezeichnete diese Gebäude als Batterien für Nutzmenschen. In diesen Beton- und Glasschluchten arbeitet man nicht, man funktioniert, man flaniert nicht, man hastet, man lebt nicht, man vegetiert.«

»Und der Tschiller ist so: funktionell und seelenlos?«

»Nein, nicht seelenlos. Ich spreche keinem Menschen eine Seele ab. Das steht mir nicht zu. Er definiert sich sehr stark über seine Funktion, seinen Titel. Insofern ist er ein ideales Übungsfeld für unsere Intern/extern-Arbeitsweise.«

»Hast du sonst noch einen Tipp? Wir sind gleich da.«

»Ja, nimm auf keinen Fall einen der nummerierten Parkplätze. Die Kollegen hier sind diesbezüglich sehr empfindlich.«

Nachdem sie den Wagen auf einem der Gäste-Parkplätze abgestellt hatten, gingen die beiden zum Empfang und ließen sich bei Major Tschiller anmelden. Wie erwartet, ließ der Herr Major sie zuerst warten und schickte dann einen jungen Assistenten.

»Herr Lenhart, ich bin Revierinspektor Klaus Brandtner. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Der Herr Major, Magister Tschiller, hat mir den Auftrag gegeben, mich um Sie zu kümmern. Er ist sehr beschäftigt und kann Sie daher im Augenblick nicht empfangen, so leid es ihm tut. Was kann ich für Sie tun?«

Zur Verblüffung von Revierinspektor Brandtner blieb Michael Lenhart freundlich lächelnd stehen und schwieg. Nach einigen Sekunden des Schweigens fragte der junge Revierinspektor leicht verunsichert: »Herr Lenhart? Ist etwas?«

Weiterhin lächelnd erwiderte dieser: »Aber nein, wo denken Sie hin, Herr Revierinspektor! Ich wollte Ihnen nur, wie es die Höflichkeit gebietet, die Gelegenheit geben, sich auch bei meinem Kollegen vorzustellen, Gruppeninspektor Steinbach«, und mit diesen Worten trat er demonstrativ einen Schritt zur Seite.

Revierinspektor Brandtner reagierte aalglatt und begrüßte auch Anton Steinbach mit falscher Herzlichkeit, wurde beim Händeschütteln allerdings zunehmend rot, während Anton Steinbach bis über beide Ohren grinste.

Michael Lenhart wechselte die Aktenmappe von der linken in die rechte Hand und sah sich demonstrativ um. »Sehr schön, nun, da wir uns alle vorgestellt haben, sollten wir uns auf den Weg machen. Wenn ich mich recht erinnere, geht’s hier entlang.«

Lenhardt ging los, und Revierinspektor Brandtner eilte ihm nach und erwiderte mit einem Anflug von Panik in der Stimme: »Aber ich bitte Sie, Herr Lenhart! Der Herr Major ist, wie gesagt, verhindert. Wenn Sie mir bitte in das Besprechungszimmer folgen wollen. Ich habe den ausdrücklichen Auftrag, mir Ihre Bitte anzuhören und Sie nach Kräften zu unterstützen.«

Michael Lenhart blieb stehen, sah sich um und dann dem verunsicherten Brandtner direkt in die Augen. »Mein lieber Herr Revierinspektor, Sie haben wirklich Ihr Bestes gegeben, aber wir gehen jetzt diesen Gang hinunter, und wenn wir beim Büro von Major Tschiller angekommen sind, werden Sie artig anklopfen, die Türe öffnen und uns persönlich beim Herrn Major vorstellen. Haben Sie mich verstanden?«

Revierinspektor Brandtner ließ die Schultern hängen und gab sich geschlagen. Beim Büro von Major Tschiller angekommen, klopfte er leise, öffnete die Tür und ließ die beiden eintreten. »Es tut mir leid, Herr Major. Er hat darauf bestanden, mit Ihnen persönlich zu sprechen. Ich konnte nichts tun.«

Major Tschiller blickte nur kurz von seinem Computer auf und tippte weiter. »Das hatte ich befürchtet«, sagte er leise, und an seinen Assistenten gewandt: »Du kannst gehen.«

Nachdem Revierinspektor Brandtner die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, klappte Major Tschiller den Laptop zu, stand auf, richtete seinen Hosenbund und sah die Besucher feindselig an. »Was wollen Sie, Lenhart?«

»Es geht um das Verschwinden von Walter Denk auf Malta.«

»Verstehe, der Fritsch hat Ihnen also einen neuen Fall gegeben. Ich hatte zwar gehofft, dass sich unsere Wege nie mehr kreuzen, aber diese Bitte ist anscheinend nicht erhört worden. Wie auch immer, zum Denk kann ich nichts sagen. Wir haben keinerlei Informationen. Da müssen Sie sich zur Finanzpolizei bemühen.«

»Sie arbeiten doch eng mit denen zusammen. Gibt es von Ihrer Seite keinerlei Hinweise oder Verdachtsmomente?«

Weiterhin frostig antwortete Major Tschiller: »Ist das Ignoranz, oder macht es Ihnen einfach Spaß, anderen auf die Nerven zu gehen? Wenn ich sage, wir haben keinerlei Hinweise, dann ist das auch so. Als wir die Meldung bekamen, sind wir alles durchgegangen, genau und streng nach Vorschrift. Von unserer Seite gibt es nichts. Das steht auch alles im Bericht. Sie hätten sich den Weg und mir ein Wiedersehen mit Ihnen sparen können.«

Michael Lenhart blieb gewohnt höflich. »Trotzdem vielen Dank, Herr Major. Wir werden uns selbstverständlich auch bei den Kollegen im Finanzministerium umhören. Sollten sich neue Verdachtsmomente oder Fragen ergeben, werden wir uns im Bedarfsfall wieder vertrauensvoll an Sie wenden. Am besten per E-Mail, nehme ich an?«

Major Tschiller setzte sich und klappte seinen Laptop wieder auf. »Wenn es sein muss. Jede Arbeit hat eben ihre Schattenseiten. Die Tür ist dort.«

Zurück im Auto, sah Anton seinen Partner verdutzt an. »Du hast mit diesem Empfang gerechnet, Michael, stimmt’s?«

»Ja, und ich bin sehr zufrieden, ein voller Erfolg.«

»Inwiefern war das ein Erfolg? Ganz abgesehen von der frostigen Atmosphäre?«

»Erstens hast du dich ausgezeichnet geschlagen und nicht provozieren lassen, von der fast zerquetschten Hand des Assistenten einmal abgesehen, aber das war der Situation angemessen und nicht wirklich aggressiv. Höchstens ein wenig kindisch.«

Lachend unterbrach ihn Anton: »Ja, der hat nicht gewusst, ob er schreien oder betteln soll. Aber ich wollte diesen Schleimer nicht so einfach davonkommen lassen. Also habe ich bei der Begrüßung seine Hand bei den Fingergrundgelenken genommen und ordentlich zugedrückt. Aber ich habe dich unterbrochen, sorry. Nach erstens kommt bekanntlich zweitens.«

»Zweitens war das eine Lehrstunde in der hohen Schule der verbeamteten Unfreundlichkeit. Es hat so gut wie nichts gefehlt.«

»Unnötiges Warten und das versuchte Abwimmeln durch einen subalternen Mitarbeiter?«

»Gut erkannt, was noch?«

»Er hat uns nicht eingeladen, Platz zu nehmen, der feine Herr Major.«

»Richtig, aber das war noch nicht alles.«

»Das Weglassen der Titel. Der Knilch hat dich immer nur mit Nachnamen angesprochen, während er seinen Vorgesetzten stets Magister und Major nannte.«

»Richtig. Damit waren von Anfang an alle Fronten geklärt und die Niederlage von Herrn Major Tschiller fast perfekt.«

»Sorry, aber das verstehe ich jetzt nicht.«

»Aus ihrem Bericht wussten wir, dass sie keine Kenntnisse im Zusammenhang mit dem Verschwinden des Herrn Denk auf Malta haben, trotzdem sind wir hierhergefahren, haben uns weder abweisen noch provozieren lassen und klargemacht, dass wir den Fall verfolgen und einer Konfrontation nicht aus dem Weg gehen.«

Anton Steinbachs Miene hellte sich auf: »Daher auch dein Hinweis auf die E-Mails! Die Botschaft dahinter: Entweder du antwortest auf meine Mails, oder ich stehe immer wieder genau hier in deinem Büro als dein persönlicher Albtraum, sehr schlau! Aber sag, warum kann dich der Tschiller nicht ausstehen?«

»Eine alte Geschichte. Er war damals noch nicht Abteilungs-, sondern erst Büroleiter, ermittelte in einer Fälschungssache und legte den Fall schließlich zu den Akten, aus Mangel an Beweisen. Gleichzeitig bin ich bei meinen Ermittlungen, unabhängig von ihm, auf diesen Fall gestoßen und habe ihn, sagen wir, mitgenommen und zum Abschuss gebracht. Weder er noch seine Mitarbeiter hatten die Unterlagen richtig interpretiert und die Zusammenhänge erkannt. Die Sache machte die Runde und war ihm unglaublich peinlich.«

»Kann ich mir vorstellen. Wir sind gleich bei der Hinteren Zollamtsstraße. Wird uns hier ein ähnliches Theater erwarten?«

»Nein, die dortigen Kollegen habe ich immer als sachorientiert und fair erlebt.«

»An wen wenden wir uns hier?«

»Sektionsleiter Thomas Berger, er ist der Vorgesetzte von Walter Denk, ein alter Bekannter.«

»Na, dann bin ich mal gespannt, wie die Begrüßung ausfallen wird.«

Anders als bei der Abteilung Wirtschaftskriminalität wurden die beiden im Finanzministerium freundlich begrüßt, und der Sektionsleiter kam ihnen auf dem Gang entgegen. »Servus Michael, schön, dich zu sehen.«

»Ebenfalls servus, Thomas. Darf ich vorstellen, mein Partner, Anton Steinbach.«

»Bitte kommt rein.«

Nachdem alle Platz genommen hatten und mit Kaffee und Wasser versorgt waren, schob Sektionsleiter Berger eine dünne Aktenmappe über den Tisch. »Das ist leider alles, was wir in der Sache wissen. Ganz ehrlich, wir haben keine Ahnung, warum der Denk verschwunden sein könnte.«

Michael Lenhart blätterte kurz in den Unterlagen und legte sie dann beiseite. »Sehe ich das richtig, es gab keinen konkreten Fall, sondern der Denk ist aufgrund eines Telefonats mit seinem maltesischen Kollegen in den Flieger gestiegen?«

»Ja, er rief mich am Freitag gegen zwanzig Uhr an und teilte mir mit, dass er am Montag für ein bis zwei Tage nach Malta müsse. Das war’s.«

»Eine sehr spontane Reise.«

»Ja, und der Denk ist ein erfahrener und sehr genauer Mann. Wenn er also am Freitag beschließt, nach Malta zu fliegen und damit seinen gesamten Terminkalender durcheinanderzuwirbeln, dann muss es wichtig gewesen sein.«

»Weißt du, ob er seinen maltesischen Ansprechpartner schon länger kannte?«

»Nicht genau, aber ich nehme es an. Der Denk war, nein, ist für die internationalen Kontakte, beispielsweise die EGMONT-Gruppe, zuständig. Allein durch die regelmäßigen Treffen im Rahmen der internationalen Kooperation dürfte er ihn gekannt haben. Ich meine, so groß ist Malta und das dortige Finanzministerium nicht.«

»Ein gutes Argument. Ich nehme an, du hast auch mit Denks Mitarbeitern gesprochen.«

»Sicher, aber die tappen ebenfalls im Dunkeln und haben keine Erklärung.«

»Du sagtest, der Denk ist ein sehr penibler Mann, und als solcher hat er sich auf das Treffen doch sicher vorbereitet. Gibt es dazu irgendetwas?«

»Nein. Er war am Wochenende nicht im Büro. Wir haben seine Logfiles überprüft. Er hat am Freitag um sechzehn Uhr sieben das Büro verlassen und davor nichts im Zusammenhang mit Malta aufgerufen.«

»Trotzdem, es muss etwas geben. Was sagt dir dein Gefühl? Du kennst den Mann. Wie ist seine Arbeitsweise? Wofür ist er bekannt?«

Sektionsleiter Berger dachte nach, stand dann plötzlich auf und griff zum Telefon. »Lass mich etwas überprüfen.« Eine Minute später hatte er die Antwort: »Der Denk hat sich immer über Land und Leute schlaugemacht. Ich bin sicher, in seiner Wohnung werdet ihr Unterlagen zur Geschichte Maltas finden, von der Besiedelung bis zur Botanik.«

»Danke für den Hinweis. Wir werden darauf achten.«

»Macht das. Mehr kann ich im Moment leider nicht für euch tun.«

»Dass es bei dir im Haus keinen aktuellen Fall gibt, ist für uns schon eine große Hilfe.«

Michael Lenhart stand auf und gab damit das Zeichen zum Aufbruch.

Bei der Verabschiedung an der Tür klopfte Sektionschef Berger ihm anerkennend auf die Schulter: »Bevor ich’s vergesse: Gratulation zu dieser Geschichte in der Herrengasse. Das scheint ja ein ganz dicker Fisch gewesen zu sein. Ich schätze, damit hat sich das anfangs fragwürdige Ansehen der Abteilung für Sonderfälle schlagartig verbessert.«

»Na ja, ich habe den Eindruck, die Wirtschaftskriminalisten sind da anderer Meinung, zumindest der Tschiller.«

»Du warst bei ihm?«

»Ja, vorhin.«

»Und? Ist er noch immer beleidigt?«

»Es scheint so.«

»Tja, die eigenen Fehler einzugestehen, ist nicht leicht.« Und an Anton Steinbach gewandt ergänzte er freundlich: »Und Sie sind laut Flurfunk das Organisationsgenie von Michael. Falls Sie berufliche Abwechslung suchen und Ihnen die philosophischen Weisheiten von unserem Professor zu viel werden, rufen Sie mich an.«

Lächelnd erwiderte Anton: »Danke für das Kompliment, aber bis jetzt fühle ich mich bei den Sonderfällen pudelwohl.«

Im Auto und zurück auf dem Weg in die Herrengasse fragte Anton: »Woher kennst du den Sektionschef?«

»Privat. Er hat mit meinem Freund, Helmut Schober, studiert.«

Nachdenklich erwiderte Anton: »Meinem Freund. Soll das heißen, du hast nur einen einzigen Freund?«

»Ja, allerdings definiere ich Freundschaft nicht nach Facebook-Kriterien. Ich halte es eher mit Aristoteles. Der unterscheidet bei der Freundschaft drei Motive: um des Wesens, des Nutzens und der Lust willen. Hinzu kommt noch der Faktor Zeit, man könnte es auch Bewährung oder Gewohnheit nennen. Wahre Freundschaft ist in meinen Augen nur jene des Wesens, denn sie ist von hoher Toleranz und einer gewissen Bedingungslosigkeit geprägt. Ja, mein Freund, oder sagen wir, mein bester Freund ist der Helmut.«

Anton Steinbach schüttelte den Kopf. »Da muss ich noch viel lernen. Neben dir kommt man sich schnell ein wenig dumm vor.«

»Ganz im Gegenteil, Anton! Im Grunde geht es um Lebensklugheit, gepaart mit Offenheit. Du verfügst über beides.«

»Danke für die Blumen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Könnte auch ich dein Freund werden, trotz unseres Wesensunterschieds?«

»Da habe ich mich vielleicht ein wenig missverständlich ausgedrückt. Mit Wesen ist primär eine Art Gleichklang im Charakter gemeint, und hier scheinen mir die Voraussetzungen durchaus gut. Aber Freundschaft ist nichts, was man hat, sondern was man tut. Sie lebt von der Pflege, und zwar gegenseitig. Beziehungen, egal welcher Art, unterliegen immer einer Entwicklung, entscheidend ist die Richtung und, wie gesagt, das Tun, die Pflege. Aber nun zu anderen Dingen: Wir müssen noch fürs Mittagessen einkaufen. Lass uns beim Büro parken und zu Fuß zum Neuen Markt gehen, so bekommen wir noch ein wenig frische Luft.«

Zurück im D-Trakt, erwartete Sabine sie bereits. Michael sagte, er wolle noch schnell etwas überprüfen, und währenddessen stellten Sabine und Anton die mitgebrachten Speisen auf den Tisch.

»Und? Was habt ihr mitgebracht?«

»Chicken Tikka Masala, Rosmarin-Zitronen-Huhn und Kalbsbutterschnitzel, dazu Salat und als Nachspeise Marmorgugelhupf.«

»Sehr gut, und wie war’s sonst?«

»Interessant! Michael hat mir die drei Motive der Freundschaft erklärt.«

Lachend erwiderte Sabine: »Ja, unser Philosoph. Ein brillanter Kopf mit Problemen bei der Umsetzung.«

»Wie meinst du das?«

»Michael denkt zu viel. Oder sagen wir so, er denkt nicht zu viel, sondern begnügt sich privat zu oft mit der Erkenntnis.«

Nachdenklich musterte Anton seine Kollegin. »Darum auch sein sehr überschaubarer Freundeskreis?«

»Ja, aber das ist eine eigene Geschichte. Wie war’s bei den Kollegen?«

»Bei den Wirtschaftskriminalisten ist Michael nicht gerade beliebt, und im Finanzministerium haben sie keine Ahnung, warum der Denk nach Malta geflogen ist. Dafür war der Empfang deutlich freundlicher. Mit anderen Worten, in Wien gibt es nichts, womit wir arbeiten können. Hast du die Kollegen in Malta erreicht?«

»Ja, ich erzähle es euch nach dem Essen. Hol du unseren Sherlock.«

Nach dem zweiten Ruf gesellte sich Michael zu den beiden und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. Als ihn Anton fragend ansah, meinte Michael nur: »Nach dem Essen, Mahlzeit.« Und Sabine ergänzte: »Michael spricht beim Essen nicht gerne über die Arbeit. Das widerspricht seinem Verständnis von Achtsamkeit, und ganz ehrlich, im Grunde hat er recht. Beim Essen hat die Arbeit Pause.«

Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten und Michael für alle Kaffee brachte, nahm Anton den Faden wieder auf. »Also erzähl, was hat es mit diesem Blatt Papier auf sich?«

Michael Lenhart drehte die einzelne Seite um. Es war nur der Fotoprint eines Post-its. »Die Kollegen von der Finanz haben dankenswerterweise auch Denks Arbeitsplatz fotografiert, und das ist womöglich eine Spur.«

Die beiden sahen es sich an, aber die handschriftlichen Worte »der Malik« sagten ihnen nichts.

»Mir sagte das auch nichts, aber es war das einzige Post-it auf einem penibel aufgeräumten Schreibtisch. Ich habe es vor dem Essen noch schnell überprüft. Malik hat zwei Bedeutungen: Im Islam ist Malik der Name eines Zebani, eines Höllenwärters. Letztere sind Engel, und Malik ist der größte und mächtigste unter ihnen. Im Arabischen bedeutet Malik König oder Stammeschef.«

»Interessant, allerdings steht hier nicht Malik, sondern der Malik. Daher scheint mir die Bedeutung König zutreffender.«

»Ja, Sabine. Aber diese Vermutung allein ist nicht genug. Wir müssen es bei Gelegenheit überprüfen. Wie sieht es in Malta aus?«

»Eigenartig. Zuerst habe ich mit unserer Botschaft gesprochen. Der Denk ist trotz landesweiter Suche nach wie vor verschwunden, und die Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus, zumal sein Zimmer von Unbekannten geräumt wurde. Beim dortigen Finanzministerium will man von nichts wissen. Der Verbindungsbeamte, Antonio Casar, erklärte zwar, den Denk von einer Konferenz in Deutschland zu kennen, mehr aber nicht. Einen Anruf in Wien schloss er kategorisch aus. Allerdings wirkte er nervös und berief sich mehrmals nur auf den Kontakt bei einer Konferenz in Frankfurt.«

Michael begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Nervös, sagtest du. Warum sollte ein Anruf aus Wien einen hohen Beamten nervös machen?«

»Der Mann hat Angst, die Frage ist nur, wovor?«

»Das müssen wir herausfinden. Hat er dich irgendetwas gefragt?«

»Ja. Er wollte wissen, ob wir eigene Ermittlungen anstellen und schon Kontakt mit der maltesischen Polizei aufgenommen hätten. Ich habe ihm erklärt, dass unser Anruf reine Routine wäre und wir bei den Ermittlungen auf die Kollegen in Malta vertrauen. Das scheint ihn beruhigt zu haben.«

»Gut, je ruhiger die im Moment sind, desto besser.«

»Warum ist das gut?«

»Weil der Unwissende Mut hat und der Wissende Angst. Der Mann weiß etwas, hat aber Angst, den Grund dafür einer ihm unbekannten Wiener Polizistin zu nennen. Also ist es nur gut, wenn wir seine Angst oder vielleicht auch sein Risiko durch Unachtsamkeit nicht noch vergrößern. Wir wissen einfach zu wenig, noch.«

»Dann sollten wir der Wohnung von Denk einen Besuch abstatten. Mal sehen, ob sich dort etwas findet.«

»Ja, aber das machen wir zusammen. Sabine, ruf bitte seine Tochter an, sie hat die Schlüssel.«

Der Malik

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