Читать книгу Frau ohne Welt. Teil 2: Der Krieg gegen das Kind - Bernhard Lassahn - Страница 6

Das kleine Vergnügen

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Für Kinder wird so ein Programm die Hölle auf Erden. Es wird ihnen von Anfang an deutlich gemacht, dass sie nicht gewollt sind. Sie werden nur noch gebraucht, um das 50/50-Quoten-Modell am Leben zu halten, das jeden Ergeiz und Leistungswillen unterdrückt und Arbeit zur bloßen Pflichterfüllung macht. Damit wird dem Motor, von dem unser kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt abhängt, schon bald der Treibstoff ausgehen.

Der Geburtsfehler der Frauenpolitik liegt darin, dass die Frauen, die sich als »Agentinnen des Wandels« sehen, immer unter sich geblieben sind, damit ihr Weltbild nicht irritiert wird. Ihre Weltanschauung ist nur die halbe Wahrheit (die eine ganze Lüge ist). Sie nehmen die Weltsicht der Männer gar nicht erst zur Kenntnis, sie verkennen das Interesse der Männer am Wagemut, am Spiel und am Aufbruch ins Unbekannte; sie verstehen nicht, was an Dynamik verlorengeht, wenn die Wunschträume der Männer in Fesseln gelegt werden. Schon der kleine Wilhelm Busch wollte, dass er »zauberhaft fliegen und hupfen könnte, hoch in der Luft, von einem Baum zum andern«. Und er stellte sich vor, dass seine Angebetete »es mit ansähe und wäre starr vor Bewunderung«. So sind sie, die kleinen, die mittelgroßen und die großen Männer; sie wollen Höhenflüge wagen, wollen den Frauen gefallen und der ganzen Nachwelt und speziell ihren eigenen Kindern Außergewöhnliches hinterlassen.

Doch wenn das Arbeitsleben zum Dienst nach Vorschrift gerät, der beargwöhnt und überwacht wird, resignieren die Männer. Dann macht sich ein Schlendrian breit, wie man ihn aus der Endphase des Sozialismus mit seinen Propagandaschlachten um die Planerfüllung kennt. In Zukunft könnte es heißen: »Es geht wirtschaftlich bergab, aber unsere 50/50-Quote ist erfüllt.«

Das Privatleben wird ebenso lustlos werden. Es wird nicht nur Dienst, sondern auch Sex nach Vorschrift geben. Die kreative Spannung zwischen Mann und Frau wird abgebaut; es wird spannungslos werden – und langweilig. Schon die Kleinen werden einer zwangsverordneten Sexualisierung unterworfen, an der fremde »Tanten« und »Onkel« mehr interessiert sind als sie selber. Die werden ihnen den Spaß gründlich verderben. Ein Familienleben, wie wir es (noch) kennen, wird es in dieser Welt nicht mehr geben.

Die Liste mit den fünf Punkten, die Dale O’Leary aufgeführt hat, gibt uns einen Universalschlüssel zum Verständnis vieler aktueller Diskussionen an die Hand. Der Schlüssel öffnet mehrere Türen zugleich. Schlagartig wird dasselbe Ziel hinter den verschiedenen Themen erkennbar, als hätte jemand mit einem Hauptschalter auf der gesamten Etage Licht angemacht. Nun stellt sich heraus, dass so mancher Journalist oder Politiker, der lautstark nach neuen Wegen ruft, in Wirklichkeit nur brav einfordert, was längst beschlossen ist. So jemand ist alles andere als mutig. Er passt sich nur im vorauseilenden (oder nachtrabenden) Gehorsam der kommenden Einheitsmeinung an.

Das Gender-Programm kommt von oben, es geht top down. Es geht nicht etwa, wie uns eine treuherzige Vorstellung von Demokratie nahelegt und wie man es bei einem mündigen Wahlvolk, das seine eigenen Interessen an die Politik weiterleitet, erwarten sollte, von unten – also von der Basis aus – nach oben, sondern umgekehrt: Es geht von oben nach unten. Die Würfel sind gefallen, die Weichen sind gestellt. Wir werden nicht mehr gefragt, sondern nur noch manipuliert und immer weiter in die vorgegebene Richtung gedrängt.

Es sind nur kleine Vergnügungen, die uns die Gender-Agenda gönnt. Wir sollen nur ein bisschen Spaß haben – wie in dem Lied Ein bisschen Frieden von Nicole, nur der »kleine Hunger«, den man aus der Werbung kennt, soll gestillt werden. Es geht um die sparsamen Vergnügungen für Leute, die ihre Leidenschaft nicht mehr aus der Unterschiedlichkeit der Geschlechter beziehen, denn die Unterschiede zwischen Mann und Frau, die für den großen Spaß sorgen, werden abgeschafft.

Das heißt, dass es einen neuen Begriff von Sexualität geben wird. Wir sollen einem Partner zukünftig nicht mehr tief in die Augen blicken, um nach ungeborenen Kindern Ausschau zu halten. Die Bryan-Adams-Frage, ob man jemals eine Frau wirklich geliebt hat, wird demnächst nicht nur pauschal mit Nein beantwortet werden, es wird auch viele geben, die auf Nachfrage zugeben müssen: Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt eine Frau war.

Wir neigen dazu, hochnäsig zu sein, unsere Kultur für überlegen zu halten und jede Literatur, die aus einem Teil der Welt kommt, den wir früher als die »dritte« bezeichnet haben, als literarisch minderwertig anzusehen, womöglich als Kitsch. Mit der Liebesgeschichte, vor der Morgendämmerung erzählt hat die vietnamesische Autorin Duong Thu Huong das Glück und Unglück eines Paares beschrieben, dem wir seine besondere Liebe herzlich gönnen, das aber aufgrund von Verwicklungen, die mit Frauenrechten und mit Beschlüssen der Partei zusammenhängen, nicht heiraten und keine Kinder bekommen darf. Die beiden müssen sich heimlich treffen, ihre Liebe ist so schön wie »frische Blumen in einer Vase«; ihre Liebe ist wirklich wunderschön, aber sie ist zugleich tieftraurig und schon halbtot, weil die Blumen, so anmutig sie auch sein mögen, in einer Vase keine Wurzeln schlagen können.

Auch wir sollen keine Wurzeln schlagen können. Das Modell der Gender-Agenda erinnert an die Bedingungen im Paradies oder an die Geschichte von Blaubart. Im Paradies war es Gott, der zu Adam und Eva sagte: Ihr dürft alles, nur eins nicht. Im Märchen war es der unheimliche Blaubart, der seiner Frau einen Schlüsselbund anvertraute, von dem sie alle Schlüssel ausprobieren durfte, nur einen nicht. Das Gebot von heute lautet: Habt noch mehr sexuelle Vergnügungen als bisher, aber kriegt keine Kinder.

Das heißt, dass wir uns auf Vergnügungen spezialisieren sollen, die nicht mit Zeugung verbunden sind. Deshalb soll es auch mehr Homosexualität geben, mehr Verhütung, mehr Abtreibung – mehr Pornofilme. Die werden zwar im Programm von Peking nicht ausdrücklich erwähnt, gehören aber ins Gesamtbild.

Pornos sind Propagandafilme gegen das Kinderkriegen. Eine Befruchtung findet ganz offensichtlich nicht statt. Dazu wird der bildhafte Beweis geführt; es gibt eindeutige Szenen, die zeigen, dass auf diese Art keine Kinder gezeugt werden. So wie neuerdings im Abspann mancher Filme zu lesen ist, dass »für diesen Film keine Tiere gequält« wurden, so könnte es im Abspann von Pornos heißen: »Bei den Dreharbeiten wurden garantiert keine Kinder gezeugt.« Dabei geht es fast ausschließlich um das »Instrumentarium« der Zeugung, das nun für andere Zwecke genutzt wird: zum bloßen Vergnügen, das damit allerdings zum zweifelhaften Vergnügen wird.

Die Filme folgen einem Schema, bei dem festgelegte Stationen durchlaufen werden. Sie erinnern an einen sportlichen Wettkampf, an einen Dreikampf – oral, genital, anal – bei dem wir zum Schluss nicht überrascht wären, wenn die Kamera auf eine Jury schwenkte, die nach Punkten wertet, wie sich das Paar in den drei Disziplinen geschlagen hat.

Auf zweierlei Weise wird damit eine gigantische Gleichmacherei vorangetrieben. Zum einen durch die unendliche Menge der weltweiten Porno-Produktionen, die immergleiche Szenenfolgen mit austauschbaren Darstellern vorführen, als würde ein Ideal von »ewiger Gleichgültigkeit« angestrebt. Zum anderen dadurch, dass die jeweiligen »Disziplinen« – wie beim Dreikampf Werfen, Springen, Laufen – als gleich bedeutend hingestellt werden, was sie nicht sind. Sie sollen aber so gesehen werden.

Wie auch immer wir uns sexuell betätigen und auf welche Art wir zum Orgasmus kommen, es soll stets gleichwertig sein.

Doch selbst wenn wir »die Sache«, wie man früher in der DDR dazu sagte, sportlich sehen, merken wir, dass nicht alle Disziplinen gleichermaßen beliebt sind, es haben auch nicht alle dieselben Risiken und Nebenwirkungen. Selbst wenn wir nur das Vergnügen suchen, die Sache rein hedonistisch angehen und nach dem »besten Sex« fragen, wie er uns in Ratgeberbüchern empfohlen wird, finden wir eine eindeutige Antwort:

Es ist nicht alles gleich.

Es gibt eine »Königsdisziplin« unter den sexuellen Praktiken, die alle anderen zweitklassig macht. Sie ist die Grundform der sexuellen Betätigung, alles andere sind Varianten, Trostpreise und Verlegenheitslösungen, die durchaus ihre besonderen Reize haben, auf die man aber notfalls auch verzichten könnte. Sie haben die Melancholie des Zweitbesten und den Nachgeschmack von Methadon. Sie bringen uns nicht die Befriedigung, die uns der Idealfall einer sexuellen Vereinigung verschaffen kann, sie führen uns bestenfalls in den sechsten, nicht aber in den siebenten Himmel.

Frauen haben ausgerechnet dann am meisten Vergnügen, wenn sie die Pille abgesetzt, gerade ihre fruchtbaren Tage haben und obendrein das Ticken der biologischen Uhr vernehmen. Es gibt nach wie vor nur eine Art der sexuellen Begegnung, bei der die Geschlechtsteile beider Partner aufeinandertreffen, im Film A Clockwork Orange wird es hämisch »das alte Rein-Raus-Spiel« genannt. Es ist die Grundform, von der alle anderen Möglichkeiten abgeleitet sind, die tendenziell näher an der Selbstbefriedigung liegen, was die Austauschbarkeit erleichtert und unversehens den Beitrag des Gegenübers zu einer Art Dienstleistung macht. »I guess, you call it love«, heißt es in einem Song von Leonard Cohen, »I call it service.«

Den Zeugungsakt haben wir nie als Ersatzbefriedigung oder als Perversion bezeichnet. Unsere Körper belohnt uns, indem er im idealen Fall all das an Oxytocinen, Endorphinen und sonstigen Neurotransmittern ausschüttet, was er auf Lager hält. Mehr noch: Es wird ein Fenster zur Unendlichkeit aufgemacht; es erfüllt sich uns der Wunsch, die Sehnsucht, der biologische Auftrag … wie immer wir es nennen wollen, uns fortzupflanzen und zu »verewigen«.

Wenn es nicht so wäre und andere Praktiken eine genauso vollständige Befriedigung böten, bräuchte man keine Verhütungsmittel und hätte auch nie welche gebraucht. Dann würde es uns leichtfallen, auf den »klassischen« Geschlechtsakt zu verzichten, der das Risiko der Schwangerschaft enthält, weil wir problemlos auf andere sexuelle Betätigungen ausweichen könnten, die gleichbedeutend wären (was sie jedoch nicht sind), die uns genauso ein Gefühl von Befriedigung verschaffen könnten (was sie aber nicht können) und nichts vermissen ließen (was sie eben doch tun).

Unser Sexleben ist selbst dann nicht folgenlos, wenn wir meinen, wir hätten alles dafür getan, dass es nicht zu einer Schwangerschaft kommt. Die vielzitierten Risiken und Nebenwirkungen, die auf keinem Beipackzettel stehen, betreffen aber nicht nur eine ungewollte Schwangerschaft, sondern auch die Folgen eines Lebens ohne Kinder, sie betreffen die Bedeutung, die wir dem Leben selber geben. Es genügt nicht, mögliche Nebenwirkungen für die nächsten neun Monate zu beachten, wir müssen auch die Langzeitwirkungen bedenken.

Wenn wir die »Liebe«, die zunehmend zum Synonym für sexuelle Aktivität verkümmert, von der Zeugung trennen, trennen wir zugleich die Zeugung von der Liebe. Der Schnitt wirkt in beide Richtungen. Von der Liebe, wie wir sie früher besungen haben, bleiben nur Restbestände; sie wird immer unvollständiger und schließlich verzichtbar. So wird der Weg frei für eine künstliche – eine lieblose – Befruchtung. Allein dadurch, dass Verhütungsmittel und Möglichkeiten zur künstlichen Befruchtung existieren, finden bedeutende Veränderungen in unseren Wertvorstellungen statt.

Selbst wenn wir die Mittel und Möglichkeiten nicht nutzen.

Die intime Begegnung wird zu einem Akt, der immer banaler wird, je mehr er sich von der Zeugung entfernt. Sie wird zum Liebesspiel, das zwar leidenschaftliche Züge annehmen kann, aber doch immer nur Spiel bleibt. Es fehlen die Ernsthaftigkeit und die Bereitschaft, die süße Mühsal, die ein neues Leben mit sich bringen würde, zu ertragen.

Mit den Verkümmerungen, die der Liebe angetan werden, wenn wir die einmalige Qualität durch vielfältige Quantitäten ersetzen, schleicht sich eine unstillbare Sehnsucht ein und führt zu einer süchtigen Suche nach mehr und immer mehr. Auf die Dauer lässt sich der Gedanke nicht verdrängen, dass wir uns gegen das Leben entschieden haben, ohne dass es uns aufgefallen wäre und ohne dass wir uns an den Termin, an dem die Entscheidung gefallen ist, erinnern könnten. Es stimmt schon: Ein Orgasmus ist eine auf das Höchstmaß gesteigerte Lebenslust. Wenn jedoch der Wille zum »Leben« an der »Lust« fehlt, wird die Lust, die nun auf sich allein gestellt ist, immer schaler. Vielleicht kann man sich, wenn wir den Vergleich nicht auf die Goldwaage legen, so ein Sexleben als eine Art von Bulimie vorstellen: Wir wollen essen, uns aber nicht ernähren.

Verhütungsmittel verführen uns dazu, Beziehungen auf Vor behalt einzugehen. Doch der Vorbehalt ist trügerisch, er ist keine wirkliche Neutralität, keine Indifferenz. Er ist bereits ein ganzes Nein zum Kind und ein halbes Nein zum Partner. Wir leben mit einem unausgesprochenen Nein, ohne dass es uns bewusst ist.

Unter solchen Umständen sollen Kinder, die nicht gewollt sind, ihrerseits ja zum frühkindlichen Sex sagen. Das wollen sie nicht. Erwachsene wollen es. Die wiederum haben verschiedene Interessen. Die einen pflegen ihre (noch) verbotenen Gelüste nach Sex mit Kindern – womöglich schämen sie sich dafür und suchen nach Auswegen. Die anderen schämen sich nicht. Sie sehen in so einem hochsensiblen Punkt die geeignete Stelle, die Gesellschaft im großen Stil anzugreifen und womöglich umzustürzen. Wir haben es also mit zwei Varianten von Kindesmissbrauch zu tun: Die einen benutzen Kinder für ihre Gelüste, die anderen für ihre Vorstellung von Revolte und Aufruhr.

Genau das will – wie schon der Name sagt – die Frauen-Bande Pussy Riot, die für den Martin-Luther-Preis Das unerschrockene Wort nominiert wurde. Die Damen nennen sich nicht etwa Bunt Kiski, wie ihr Name auf Russisch lauten würde, sie haben sich von Anfang an der Aufmerksamkeit des sexbesessenen Westens versichert, wo sie gepriesen und gefördert werden. Auf Spiegel online wurde eine von ihnen sogar als »Heilige« bezeichnet. Bekannt wurde die Gruppe durch eine Randale mit Terroristenmasken in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Vorher schon waren sie durch verschiedene provozierende Aktionen aufgefallen und hatten beispielsweise in einem Supermarkt gefrorenes Hähnchenfleisch in ihre »Pussys« eingeführt.

Von besonders klarer Symbolsprache war ein Spektakel im Moskauer Naturkundemuseum, wo sie in Anwesenheit von Kindern einen Pornofilm drehten, der nach herkömmlichem Verständnis gar kein richtiger Pornofilm war, weil er nicht zur sexuellen Stimulierung dienen sollte, sondern den Geschlechtsverkehr als etwas Belangloses oder gar Widerwärtiges darstellte, auf dass einem die Lust darauf vergehe.

Es war ein Angriff auf das Patriarchat, auf die Vaterschaft, auf Kinder, auf die Zeugung. Mit der Zeugung entsteht Vaterschaft, und die wurde durch die Aktion lächerlich gemacht und in einer Hässlichkeit zur Schau gestellt, die ihr vom Wesen her fremd ist. Für eine Geburt, bei der Mutterschaft entsteht, brauchen wir einen geschützten Raum; wenn es nicht anders geht, tut es auch ein Stall, wie ihn Maria und Josef fanden, ohne dass sie, wie man heute sagt, einen »Anspruch auf einen Krippenplatz« gehabt hätten. Doch auch die Zeugung, die ebenfalls eine Grenzsituation darstellt, sollte einen geschützten Raum haben. Eben diesem Schutzraum galt der Angriff von Pussy Riot.

Ein Kind entsteht durch Zeugung und durch Geburt. Ein Kind braucht Vaterschaft und Mutterschaft. Es gibt religiöse Sekten, die beide Ereignisse feiern; ein Kind hat dann zwei »Geburtstage«. Der Angriff der laienhaften Porno-Darsteller galt ebenso den Kindern, die in das pornographische Treiben mit einbezogen wurden, um ihnen zumindest den ersten von zwei Geburtstagen zu vermiesen.

Wir schaffen Schutzräume für Frauen. Aber nicht für den Vorgang der Zeugung oder Geburt, sondern für den Fall, dass sie Sport treiben, in einem Frauen-Café etwas trinken, in einer Bibliothek »Nur für Frauen« etwas lesen oder auf Frauenparkplätzen rückwärts einparken wollen. Intimitäten werden heutzutage nicht mehr geschützt. Auch Geburten wurden schon in allen Einzelheiten gefilmt und in ihrer Gesamtheit zur Kunstaktion erklärt. Das öffentliche Interesse mit seiner unstillbaren Lust an peinlichen Enthüllungen und Bloßstellungen ist bis in die letzten Winkel des Privaten vorgedrungen. Am Rande von Christopher-Street-Day-Paraden gibt es nicht selten Open-air-Geschlechtsverkehr. Da dürfen auch Kinder zugucken.

Neil Postman spricht davon, dass unseren Kindern nicht das »Geheimnis« und vor allem nicht die »Scham« fehlen dürften. Für ihn sind das die entscheidenden Elemente, die eine Kindheit ausmachen: Ohne Geheimnis und ohne Scham keine Kindheit.

Mit dem Verschwinden der Kindheit, so der Titel seines Buches, schreiten wir vorwärts in die Vergangenheit. Eine Kindheit, wie wir sie heute verstehen, gab es früher nicht, wie Postman uns am Beispiel von alten Gemälden zeigt. Im Mittel alter etwa war »Kind« lediglich die Bezeichnung für den Verwandtschaftsgrad, nicht für das Alter, ein Junge konnte fünfzig sein. Postman befürchtet, dass die neuen elektronischen Medien, die kein Geheimnis mehr zulassen und rund um die Uhr Schamlosigkeit verbreiten, die Kindheit, die überhaupt erst mit der Aufklärung entstanden ist, wieder zum Verschwinden bringt und dass wir damit zurückfallen in Zustände, wie es sie vor der Aufklärung gab.

Doch wir brauchen gar keine elektronischen Medien, um mit schamlosen Selbstdarstellungen konfrontiert zu werden. Es geht auch mit Plakaten, die uns zeigen, wie sich die übergroßen »Vorbilder« von heute ihre sexuellen Abenteuer wünschen, für die sie ungeniert Reklame machen. Es sind allerdings keine echten Abenteuer, der Umgang mit Sexualität wird wie ein Einkauf in einem Supermarkt dargestellt, bei dem man sich aus dem gutsortierten Angebot seine Lieblingsstückchen aussuchen darf. So groß die Plakate auch sind, sie machen die Sache klein. Die angepriesenen Varianten des Geschlechtsverkehrs sind billige Vergnügungen, für die in erster Linie Kondome benötigt werden, als wären sie das Wichtigste dabei. »Ich will’s romantisch« oder »Ich will’s wild«, heißt es angeberisch, doch es wirkt so beiläufig, als wollten sie sagen: »Heute möchte ich den Kaffee ohne Zucker.«

In einer ihrer Kurzgeschichten erzählt Doris Dörrie von einem einschneidenden Kindheitserlebnis, nämlich von ihrer ersten Begegnung mit einem Kondom, das ihr geheimnistuerisch von einer Freundin vorgeführt wird, von der sie den Eindruck hat, dass sie ihr damit etwas antun wolle. Sie ist fasziniert und verstört zugleich. Sie sagt es genau in den Worten: Sie hatte das Gefühl, ihre Kindheit wäre damit vorbei.

Frau ohne Welt. Teil 2: Der Krieg gegen das Kind

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