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Kapitel 1

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Die harten, metallischen Schläge des Hammers, mit welchem der Priester den vergoldeten Nagel in den rot bemalten, hölzernen Türsturz trieb, hallten mit einem dumpfen Echo, dem Rhythmus des Herzens gleich, durch den hohen Innenraum des Heiligtums. Nachdem der letzte Schlag verklungen war und er abschließend noch einen großen, in Gold gefassten Bernstein an dem Nagelkopf befestigt hatte, stieg der alte Mann wieder mühsam von der schmalen Leiter hinunter.

Er hatte die sechzig schon überschritten und war von hagerer, untersetzter Statur, die aber nun vom Alter gebeugt war. Schütteres, kurz geschnittenes graues Haar umkränzte seinen hochstirnigen kahlen Schädel, aus dem unter dichten grauen Brauen ein mandelförmiges Augenpaar in dunkler Melancholie aufleuchtete. Die bartlosen, eingefallenen Wangen, die sich beiderseits seiner leicht gebogenen, an einen Adlerschnabel erinnernde Nase und an seinem schmallippigen Mund mit den herabgezogenen Winkeln spannten, zeugten von der strengen Askese, welcher er sich seit seiner Jugend unterworfen hatte. Bekleidet war er neben den ledernen Sandalen, die um seine sehnigen Füße geschlungen waren, nur mit einem weißen, leinenen Lendenschurz, der ihm bis zur Mitte seiner mageren Oberschenkel reichte.

Er trat ein paar Schritte zurück und betrachtete dann für eine Weile nachdenklich sein Werk.

Über den vier mit Öl gefüllten Bronzeschalen, welche hinter ihm auf ihren bronzenen Dreifüßen um den im Zentrum des Heiligtums auf einem quadratischen, von sechs Stufen umgebenen steinernen Postament errichteten Altar gruppiert waren, tanzten irisierende blaugelbe Flammen, die den Raum allerdings nur sehr dürftig ausleuchteten.

In dieses bläulich flackernde Halbdunkel hinein glomm der Bernstein nun mit einem warmen, goldenen Feuer auf.

Der Priester ließ seinen Blick an der Reihe der Nägel herabgleiten, die er und sein Vorgänger in der Vergangenheit Jahr für Jahr, immer einen unter dem anderen, in den linken Torpfosten geschlagen hatten.

Mit jenem, den er gerade in den Sturz gehämmert hatte, waren es genau hundert Nägel, wobei gerade diesem letzten eine besondere, schicksalhafte Bedeutung zukam, symbolisierte er doch zum einen das Ende des ersten der acht Zeitalter, die den Rasna vorausgesagt worden waren, zum anderen aber auch den Beginn des zweiten.

Der alte Mann ließ seine Gedanken weit in die Vergangenheit schweifen.

Sein Name war Thesu, Sohn des Lukomo Avle Tarchne und der Larthi Feluski.

Die Familie der Tarchna, der er angehörte, zählte zu den angesehensten und mächtigsten unter den Rasna, was schon allein darin begründet lag, dass ihr Ahnherr der von unzähligen Mythen umwobene Tarchon war.

Der Legende nach war Tarchon vor mehr als vierhundert Jahren mit seinem Volk, den Thyrsu, in dieses Land gekommen, um hier für sich und die seinen Frieden und eine neue Heimat zu finden. Tarchon entstammte einem uralten Geschlecht von Seekönigen, denn vordem war das Meer die Heimat der Thyrsu gewesen, welches sie schon lange vor den Phoinikes und Craeces als wagemutige Seeleute, aber auch als gefürchtete Piraten über viele Generationen hinweg mit ihren schnellen und kampfstarken Segelschiffen beherrscht hatten.

Nachdem Tarchon das Erbe seiner Väter angetreten und die Führung der Thyrsu übernommen hatte, fügte es sich, dass die Thyrsu auf Betreiben der Hatti ein Bündnis mit andern Seevölkern schlossen, um gemeinsam einen Kriegszug gegen das damals noch reiche und starke Khemet, oder Aigyptos, wie es die Craeces nennen, zu führen.

Die Hatti, welche über Jahrhunderte die unumschränkten Herrscher der östlichen Länder und die militärischen Rivalen der Aigypter gewesen waren, hatten zu jener Zeit den Zenit ihrer Macht bereits überschritten und standen in heftigen Abwehrkämpfen mit den aufstrebenden Assyrern, die ihnen ihre Vorherrschaft streitig machten.

Indem sie sich mit den Seevölkern verbündeten, hatten sie sich erhofft, ihren alten Gegner am Neilos zu vernichten, oder ihn wenigstens so weit zu schwächen, dass er nicht mehr in der Lage gewesen wäre, die Assyrer mit Gold und Waffen zu unterstützen.

So traten die Hatti ihren Verbündeten ein Stück Land an ihrer Küste ab, wo die Seevölker sich eine Hafenstadt errichten durften, von der aus sie ihren Zug nach Aigyptos beginnen konnten. Diese Stadt sollte samt dem sie umgebenden fruchtbaren Land auf immer die neue Heimat der Seevölker werden, wenn sie den Krieg mit Aigyptos erfolgreich beendet hätten.

Dies und die verlockende Aussicht auf die unermesslichen Reichtümer Aigyptos, die ihnen im Falle ihres Sieges zufallen würden, ließ die Seevölker dann auch auf diesen verhängnisvollen Handel eingehen. Mit ihren Frauen und Kindern und all ihrem Hab und Gut verließen sie ihre Dörfer, in denen sie bis dahin auf den Inseln und an den namenlosen Küsten am Rande des großen westlichen Meeres ein kärgliches Dasein gefristet hatten, und segelten nach Osten, um das ihnen versprochene Land in Besitz zu nehmen. Dort angekommen, gründeten sie ihre Stadt, die sie Tarsos nannten, legten einen Hafen an und begannen sich eifrig für den Krieg gegen Aigyptos zu rüsten.

Doch das kühne Unternehmen scheiterte, denn ihre Pläne waren verraten worden, und so trafen sie unvermutet auf die wohl gerüsteten Heere des aigyptischen Königs, die sie bereits an den Grenzen des Reiches erwartet und sie dann in einer gewaltigen Schlacht zu Lande und zu Wasser vernichtend geschlagen hatten.

Der siegreiche König erwies sich indes als großmütig. Er ließ den wenigen Überlebenden seine Gnade angedeihen und bot ihnen sogar an, sich in seinem Reich anzusiedeln, was viele auch dankbar annahmen. Im Laufe der Zeit vermischten sie sich mit der dort einheimischen Bevölkerung, begannen einen schwunghaften Seehandel und nannten sich fortan Phoinikes.

Tarchon jedoch kehrte nach dieser schrecklichen Niederlage mit den Thyrsu und all denen, die nicht in dem heißen Südland bleiben wollten, nach Tarsos zurück, wo sie versuchten, ein zurückgezogenes und bescheidenes Leben zu führen.

In dieser Zeit geschah es nun, dass die Hatti von den Assyrern letztendlich besiegt und gänzlich aus dem Lande vertrieben wurden. Die neuen Herren aber, die in ihrer maßlosen Rachsucht alles vernichteten, was an die Hatti erinnerte, duldeten auch die Thyrsu nicht mehr länger in ihrem Reich und begannen ihnen zunehmend feindselig gegenüberzutreten.

In dieser bedrohlichen Lage beschloss Tarchon, mit den Thyrsu in jenes namenlose westliche Land auszuwandern, aus dem seine Frau Tecme stammte, da ihr Volk durch eine gemeinsame, schicksalhafte Vergangenheit mit dem seinen verwandt war. Die Vorfahren beider Völker hatten nämlich vor undenklich langer Zeit an den Küsten des Nordmeeres gelebt, bis eine furchtbare, Land verschlingende Flut über sie hereingebrochen war und sie ihrer Heimat beraubt hatte. Mit ihren Schiffen, aber auch auf dem mühseligen Landwege waren sie darauf in alle Winde fortgezogen, um sich einen neuen Lebensraum zu suchen.

Während jedoch die Thyrsu seit jener Zeit ruhelos die Meere durchstreiften, waren die Vulci, wie die Ahnen von Tecmes Volk sich nannten, mit ihren schwerfälligen Ochsenkarren auf einer entbehrungsreichen Wanderung nach Süden schließlich in dieses damals nahezu unbesiedelte und mit fruchtbaren Böden gesegnete Land gelangt. Dort bauten sie ihre Dörfer auf Hügeln, legten in den Tälern ihre Äcker an und ließen das Vieh auf saftigen Weiden grasen. Mit den wenigen einheimischen Stämmen, auf die sie bei ihrer Ankunft getroffen waren, lebten sie in friedlicher Nachbarschaft zusammen, denn das Land war groß und weit und bot Nahrung im Überfluss, sodass es allen wohl erging und keiner dem anderen etwas neiden musste.

In jenen fernen Tagen wurde den Vulci vorausgesagt, dass einst ein Volk gleichen Blutes über das Meer zu ihnen kommen würde, um bei ihnen eine neue Heimat zu finden.

Mit der Ankunft Tarchons erfüllte sich die Prophezeiung, und die lange Wanderung der Thyrsu hatte ihr glückliches Ende gefunden.

Und sie kamen nicht mit leeren Händen.

Mit sich brachten sie das unschätzbare Wissen um die überlegene Kunstfertigkeit der alten Völker des Ostens, mit denen sie, während sie in Tarsos weilten, in enger Nachbarschaft gelebt und welches sie sich mit der Zeit zu Eigen gemacht hatten. So lehrten sie die Vulci, wie man Erz gewinnt, um daraus Waffen und andere Gerätschaften aus Eisen zu schmieden, jenem harten, grauen Metall, welches zuerst von den Hatti gefunden wurde, und dessen Herstellung und Verarbeitung damals zu deren bestgehütetsten Geheimnissen zählte. Auch machten die Thyrsu die Vulci wieder mit der von ihnen längst vergessenen Kunst des Schiffbaus und der Navigation vertraut, sodass sie fortan in der Lage waren, ihren Handel auf die Inseln und die entfernt gelegenen Küstenregionen auszudehnen.

Unter der Regierung Tarchons und seiner Söhne wuchsen die drei Dörfer der Vulci, welche einst nah beieinander auf dem felsigen Plateau oberhalb des Flusses errichtet worden waren, nach östlichem Vorbild zu einem einzigen großen Gemeinwesen, einer Stadt, zusammen, die nach ihrem Gründer Tarchnal genannt wurde.

Tarchnal war die erste Stadt, die in diesem Lande erbaut worden war, doch schon bald lebten in ihr so viele Menschen, dass es zum Problem wurde, sie alle zu ernähren. Da beschloss der hohe Rat, dass ein Teil der jüngeren Bevölkerung die Stadt verlassen sollte, um sich anderen Ortes anzusiedeln und ihrerseits eine Stadt zu gründen. So entstanden zuerst Chaisrie und Velchal, später dann, als auch dort die Zahl der Einwohner zu groß geworden war, Velznal, Vethluns, Veia und Fufluns.

Nur zwei Generationen waren vergangen, da prangten diese stolzen Städte auf den felsigen Höhen entlang der Küste, gleich den leuchtenden Edelsteinen einer schmückenden Kette. Kupfer und Erz wurden in den nahen Bergen abgebaut, der Handel blühte auf, und großer Reichtum begann in die Städte zu fließen.

Doch wie trotzige Kinder, die endlich dem bevormundenden Elternhaus entwachsen waren, lösten die neuen Städte alsbald ihren Verbund mit Tarchnal, hüteten ihre Eigenständigkeit und grenzten ihr Territorium sogar eifersüchtig gegen ihre Schwesterstädte ab. Obwohl sie alle dem Volk der Rasna angehörten, verstanden sie sich in ihrer Selbstherrlichkeit eher als Chaisrier, Veianer oder Velchali.

Wie in Tarchnal wurde nun jede Stadt von einem Lukomonen regiert, welcher zwar offiziell vom hohen Rat auf Lebenszeit gewählt wurde, aber in Wahrheit auch gleichzeitig das Haupt der jeweils reichsten und damit einflussreichsten Familie der Stadt war.

Das hatte mit der Zeit dazu geführt, dass neben dem unerbittlichen Konkurrenzkampf, den die Städte gegeneinander ausfochten, nun auch noch die großen, adligen Familien in den Städten in heilloser und blutiger Rivalität um die Macht stritten. Als dann, vor nunmehr hundert Jahren, die Phoinikes und Craeces mit ihren Schiffen über das Meer gekommen waren und an der Küste ihre Handelsniederlassungen gegründet hatten, erkannten sie recht schnell die Uneinigkeit, die zwischen den Städten der Rasna schwelte, und nutzten sie geschickt und perfide zu ihrem Vorteil aus.

Die beiden Völker führten nämlich schon zu jener Zeit einen erbarmungslosen Handelskrieg gegeneinander, wobei es ihnen vor allem um den Besitz der reichen Kupfer- und Erzvorkommen ging, die es auf den zumeist dünn besiedelten westlich gelegenen Inseln und Küstenregionen gab. Während sich aber die primitiven Eingeborenen dort gegen die Fremden, die ihr Land ausbeuteten, kaum zur Wehr setzten oder sie einfach gewähren ließen, da sie von ihnen mit billigen, bunten Töpferwaren und einer Hand voll Gold abgespeist wurden, mussten sie sich gegenüber den Rasna, die ihnen militärisch zur See, aber auch zu Lande ebenbürtig waren, wesentlich vorsichtiger verhalten, um Handelskonzessionen oder gar Schürfrechte zu bekommen.

Also begannen sie um die Gunst der neuen Städte zu buhlen, indem sie sich die mächtigen Familien mit kostbaren »Geschenken«, wie Purpurstoffe aus Byblos und Sidon oder prachtvoll ornamentiertes tönernes Tafelgeschirr und silberne Mischkrüge aus Euboia, gewogen machten.

Und sie hatten Erfolg damit, denn schon bald zeigte es sich, dass die nördlichen Städte, wie Tarchnal, sich zunächst den Phoinikes zuwandten, während die südlichen, vor allem Chaisrie, die Craeces begünstigten.

Doch am Ende setzten sich die Craeces, unterstützt von der Kriegsflotte ihrer Bundesgenossen aus Velchal und Chaisrie, gegen ihre unliebsamen Rivalen aus Phoinikia durch, sodass diesen nur noch die das Meer im Süden und im äußersten Westen anrainenden Länder blieben, um sich dort anzusiedeln.

Nun, da sie ihren Gegner aus dem Felde geschlagen hatten und somit ihr Handelsmonopol auch im Westen gesichert wussten, gründeten die Craeces unter der wohlwollenden Billigung Chaisries in dessen Machtbereich zwei Kolonien, Cyme und Phitekoussai. Von dort aus begannen die Händler aus Chalkis und Euboia die Rasna mit den erlesensten Luxuswaren zu beliefern, vor allem aber mit Gold, welches sie aus ihren Minen bei Poseideion in Syrien herbeischafften, um es gegen das für sie so wichtige Kupfer und Erz einzutauschen, denn trotz der guten Beziehungen, die die Craeces seither mit den Rasna pflegten, blieb es ihnen letztendlich verwehrt, diese begehrten Metalle im Lande selbst abzubauen.

Aber die Craeces brachten noch etwas ins Land, was sich für die Rasna nicht minder wertvoll erweisen sollte als alles Gold oder die mit herrlichen Figuren bemalten Krüge und Tafelgeschirre aus gebranntem Ton. Es waren die Weinreben, die Olivenbäume und ihre Schrift, welche die Rasna mangels einer eigenen gerne und schnell übernahmen.

So fühlten sich die Craeces zunehmend heimisch in diesem Land, und viele heirateten Frauen der Rasna und zogen sogar in deren Städte. Die Rasna wiederum fanden Gefallen an der heiteren Lebensweise der Craeces und suchten sie in manchem eifrig nachzuahmen, indem sie Kunstwerke nach ihrem Vorbild schufen und sogar zu ihren Göttern beteten.

Doch die Uneinigkeit, die zwischen den Städten der Rasna herrschte, blieb bestehen, und so geschah es, dass sich Velthune, die höchste Gottheit, welche in ihrem Wesen sowohl weiblich als auch männlich ist und die alles Leben auf Erden, selbst die Götter, am Anfang der Zeit geschaffen hat, an dieser Stelle den Menschen durch seine Priester offenbarte. Aus ihrem Munde erfuhren die Rasna, dass ihnen, wenn sie ihren Zwist nicht beilegen würden, nur acht Zeitalter gegeben worden waren, in welchen sie dieses Land beherrschen durften, danach aber würde ihr Stern unwiederbringlich verlöschen, ihre Städte vom Erdboden verschwinden, und nur ihre Gräber würden davon künden, dass sie je gelebt hatten.

Einmal in jedem Jahr sollten sie sich deshalb für drei Tage hier versammeln, um ein gemeinsames Oberhaupt zu wählen und die Gottheit mit Kampfspielen zu ehren. Außerdem sollte für jedes vergangene Jahr ein Nagel in die Pforte dieses Heiligtums geschlagen werden, damit sie immer daran erinnert würden, welches Schicksal ihnen zugedacht worden war.

Heute nun jährte es sich zum hundertsten Male, dass Velthune seinen Willen kundgetan hatte, doch obwohl es mittlerweile zwölf große Städte im Lande der Rasna gab, hatten sie noch nicht zu einem einigenden Bund gefunden.

Der alte Priester wusste, dass ihn, wenn er jetzt mit seiner Frau Ranthai, die sich das Priesteramt gemäß der zweigeschlechtlichen Natur der Gottheit mit ihm teilte, aus dem Heiligtum in den Innenhof treten würde, zwölf untereinander zerstrittene Lukomonen auf ihren Stühlen erwarten würden, um unter ihrer beider Vorsitz aus ihren Reihen den diesjährigen Mechel-Rasnal zu wählen.

Vielleicht aus ehrenvollem Respekt vor dem legendären Tarchon war ihre Wahl zwar bisher stets auf den jeweiligen Herrn des Hauses der Tarchna gefallen, welcher gleichzeitig auch immer der Lukomo von Tarchnal war, doch waren gerade in jüngster Zeit vermehrt Stimmen aus den jungen Städten zu hören, die gegen diese »Tradition« aufbegehrten und forderten, dass endlich auch einmal einer ihrer Lukomonen in dieses geheiligte Amt berufen werden sollte. Geschürt wurde dieser unselige Hader vor allem von Arnth Spuriana, dem Lukomo von Chaisrie und seit langem der erklärte Feind der Tarchna.

Der schmallippige Mund Thesus verzog sich zu einem bitteren Lächeln, als er sich daran erinnerte, wie es zu dem verhängnisvollen Zerwürfnis zwischen den Tarchna und den Spuriana gekommen war.

Vormals waren die beiden Familien nämlich durch ein enges Band der Freundschaft verbunden, denn der Ahnherr der Spuriana war einst der Vater von Tarchons Frau Tecme gewesen.

Auch später, als einer seiner Enkel mit anderen jungen Leuten auszog und Chaisrie mitbegründete, wo die Spuriana dann zur mächtigsten Familie der Stadt aufstiegen und seither immer die Lukomonen von Chaisrie gestellt hatten, blieb das Verhältnis zwischen den Familien ungetrübt. Dann jedoch, vor vierzig Jahren, wollte es das Schicksal, dass sich sein Bruder Velcha Tarchne und Larice Spuriana in dasselbe Mädchen verliebten. Sie hieß Squria, aus der Familie der Felci in Tarchnal, und wurde damals im ganzen Land ob ihrer seltenen Schönheit gerühmt. Nachdem die beiden Männer lange um sie geworben hatten, entschied sie sich schließlich für Velcha, worauf Larice in blinden Hass entbrannte und seinen Rivalen kurz nach der Hochzeit bei einer Jagd, zu der er ihn mit dem Vorwand, sich mit ihm zu versöhnen, eingeladen hatte, in einen Hinterhalt lockte und ermordete.

Als man Squria den blutüberströmten Leichnam Velchas zu Füßen legte, wurde sie vom Wahnsinn umnachtet, ergriff das Schwert ihres Mannes und stieß es sich ins Herz. Gramerfüllt sann Velchas Vater, der damalige Lukomo Avle Tarchne, Vergeltung zu üben und schickte Thesu, seinen Zweitgeborenen, mit einer Schar Bewaffneter nach Chaisrie, um den Mörder zum Zweikampf zu fordern. Larice stellte sich ihm auch und fand dabei durch Thesus Hand den Tod.

Nun, da die Gerechtigkeit obsiegt hatte und Velcha gesühnt war, hatten sich die zwei Familien zwar offiziell wieder die Hand zum Frieden gereicht, doch das enge Band war für immer zerschnitten, und der gegenseitige Hass schwelte untergründig weiter.

Er, Thesu, hatte damals aufgrund dieser abscheulichen Ereignisse darauf verzichtet, die Nachfolge seines Vaters als Lukomo von Tarchnal anzutreten. Stattdessen hatte er sein Leben Velthune geweiht, um als dessen Priester für die Einigkeit unter den Rasna zu wirken. Daraufhin wurde sein jüngerer Bruder Larth zum Lukomo gewählt, der dieses Amt bis zu seinem Tod vor zehn Jahren innehatte.

Nach ihm war diese Würde auf Larths Erstgeborenen, seinen Neffen Laris, übergegangen, der ob seiner umsichtigen Regierung in Tarchnal, aber auch in den anderen Städten, hohes Ansehen genoss, weswegen er, wie auch seine Vorfahren, bisher auch immer wieder zum Mechel-Rasnal gewählt worden war.

Doch nachdem Arnth Spuriana, ein Neffe des unseligen Larice, vor einigen Jahren die Macht in Chaisrie übernommen hatte, war der alte, unvergessene Zwist erneut aufgeflammt. Durch die Heirat mit der Tochter eines der reichsten Handelsherren der Craeces in Cyme hatte Arnth sich dessen ungeheures Vermögen an Gold und anderen kostbaren Gütern versichert, mit denen er sich seit einiger Zeit die Lukomonen der benachbarten Städte wie Veia, Clevsin und Velchal gewogen machte. Mit ihrer Unterstützung hoffte er nun, dass man ihn zum Mechel-Rasnal wählen würde, um somit die althergebrachte Vormachtstellung der Tarchna zu brechen.

»Glaubst du, dass er sein Ziel heute erreichen wird, Liebster?«, drang die warme Altstimme Ranthais in Thesus Bewusstsein und brachte ihn wieder sanft in die Wirklichkeit zurück.

»Wie hast du nur meine Gedanken erraten können?«

Er drehte sich zu ihr um und sah sie sorgenvoll an.

Ranthai war eine zierlich gebaute Frau, die gerade ihr sechzigstes Lebensjahr vollendet hatte. Ihr feines, silbergraues Haar hatte sie sich zu acht Zöpfen geflochten, von denen jeweils zwei über die Schultern auf ihre Brüste fielen. Zwei große, leicht schräg gestellte Augen, die über den hohen Jochbögen in einem geheimnisvollen Grün leuchteten, beherrschten ihre anmutig geschnittenen Gesichtszüge um die schmale, gradrückige Nase und den kleinen, runden Mund. Ein weißes, ärmelloses Gewand, welches ihr bis zu den Knöcheln reichte und um die Hüfte von einer einfachen Schnur aus ungefärbter Wolle gegürtet war, umfloss in sorgfältig gerafften Falten die sonnengebräunte Haut ihres grazilen Körpers. Als einzigen Schmuck trug sie quer über die Mitte ihres Scheitels ein der Mondsichel nachempfundenes Diadem aus versilberter Bronze, dessen Spitzen sich über den Ohren schneckenförmig zusammenrollten.

»Thesu!«, sagte sie leise und lächelte nachsichtig. »Eine halbe Ewigkeit leben wir jetzt zusammen, und da soll ich nicht ahnen, was in dir vorgeht? Dein Mienenspiel ist der Spiegel deiner Gedanken!«

Der Priester nickte stumm.

»Arnth wird heute zum Mechel-Rasnal gewählt!«

Thesu spie es förmlich aus.

»Was macht dich da so sicher?«

»Er hat sich auch die Lukomonen von Velathri, Flufluns, Vethluns und Velznal mit seinem verfluchten Gold gefügig gemacht, wie ich gestern Abend von einem seiner betrunkenen Gefolgsleute erfahren habe!«

»Kann es sein, dass ich Hass in deinen Augen sehe?«

Ranthai strich ihm mit ihrer Rechten begütigend über die Wange.

»Du bist zwar ein Tarchna, Thesu, aber in erster Linie bist du der Priester Velthunes, und als solcher darfst du nicht familiär denken, sondern das Wohl und die Einigkeit aller Rasna sollte dir am Herzen liegen.«

»Gerade weil ich das tue, erfüllt mich der Gedanke, dass Arnth diese Wahl für sich entscheiden wird, mit so großer Sorge – und auch mit Zorn.«

»Was befürchtest du?«

»Nun, zugegebenerweise haben die Tarchna, solange sie dieses Amt innehatten, bisher nicht viel zu dem viel beschworenen Bund der Rasna beigetragen, doch anders als seine Vorgänger, hat sich Laris in den vergangenen Jahren als Erster wirklich redlich darum bemüht und ist diesem hehren Ziel, wie ich meine, auch schon sehr nahe gekommen. Wenn nun allerdings Arnth heute dieses Amt übernehmen sollte, dann war alle Arbeit umsonst, denn er hat in seiner vermessenen Selbstherrlichkeit überhaupt kein Interesse daran, die Rasna zu einem einigen und starken Volk zusammenzuschmieden. Er will diesen Titel doch nur, um seine verletzte Eitelkeit zu befriedigen. Was aber noch viel schlimmer ist, ist die Tatsache, dass er, ohne es vielleicht zu wissen, damit den Craeces in die Hände spielt, die aus unserer Zerstrittenheit bisher nur profitiert haben. Mit ihren Luxusgütern haben sie sich bei den reichen, prunksüchtigen Stadtherren geradezu unentbehrlich gemacht, sodass diese ihnen gleichsam als Gegenleistung immer mehr Raum für ihre Siedlungen in unserem Land überlassen haben. Wenn das so weitergeht, werden wir bald nur eine weitere, große Kolonie der Craeces sein, in der sie selbst – ohne uns zu fragen – das von ihnen so heiß begehrte Erz und Kupfer abbauen können, welches sie uns dann teuer verkaufen.«

Thesu unterbrach sich und rang angestrengt nach Atem, da er sich in Rage geredet hatte und sich nun sein schwaches Herz meldete.

»Jetzt beruhige dich doch, Liebster!«, mahnte ihn Ranthai besorgt. »Noch ist ja nichts entschieden. Und selbst wenn sie Arnth heute zum Mechel-Rasnal wählen, so bleibt ihm doch nur ein Jahr, eine kurze Zeit also, in der viel geschehen kann. Vielleicht, dass sie Laris im folgenden Jahr reumütig wiederwählen, sodass er sein Werk fortsetzen kann!«

»Vielleicht«, murmelte Thesu resigniert. »In der letzten Zeit haben wir vergeblich auf ein Zeichen Velthunes gehofft, doch er hüllt sich in Schweigen. Heute bricht das zweite uns gewährte Zeitalter an. Wollen wir beten, dass es den Rasna zum Wohle gereichen wird.«

Er ergriff seinen hölzernen Amtsstab mit der gekrümmten bronzenen Spitze, der neben ihm an der Wand lehnte, und öffnete seufzend die beiden Türflügel.

»Komm, Ranthai, lass uns jetzt zu den Wölfen gehen!«, sagte er entschlossen und schritt mit ihr in den von der hellen Frühlingssonne beschienenen Innenhof.

Die Gründer der Stadt

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