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Kapitel 2

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Das Heiligtum Velthunes war in einem lichten Eichenhain erbaut worden, welcher sich in einer weitläufigen, flachen Talsohle erhob, die sich zwischen dem unweit gelegenen Velznal und einem im Norden befindlichen größeren See erstreckte. Die hohen, mit Lehm verputzten und weiß getünchten Mauern bildeten mit ihren vier quadratischen, nach oben sich verjüngenden Ecktürmen ein lang gezogenes Rechteck, in dessen nach Osten weisende Stirnseite das große, trapezförmige, zweiflügelige Tor eingelassen war.

Ihm gegenüber, mittig der anderen kurzen Seite stand das schlichte, viereckige Gotteshaus mit seinem aus gebrannten Tonziegeln gefügten Satteldach. An den Innenseiten der beiden langen Mauern waren die Wohn- und Wirtschaftsräume des Priesterehepaares sowie die Unterkünfte der zwölf Lukomonen angebaut worden, welche von einem ebenfalls aus Ziegeln bestehenden Schrägdach bedeckt wurden, das mit der oberen Mauerkante bündig abschloss. In der Mitte des Innenhofes befand sich eine zwei Ellen hoch aus Feldsteinen gemauerte, halbkreisförmige Plattform, deren Rund zum Tor hin ausgerichtet war.

Darauf gruppierten sich heute unter einem zeltartigen blauen Baldachin die zwölf elfenbeinernen, mit roten Lederkissen belegten Klappstühle, auf denen die Lukomonen bereits Platz genommen hatten und stumm das Erscheinen Thesus und Ranthais erwarteten.

Wie jedes Jahr zuvor hatten sie sich hier im Frühling für drei Tage versammelt, um den Mechel-Rasnal zu wählen und die Gottheit mit spielerischen Wettkämpfen zu ehren.

In einiger Entfernung vor den Mauern des Heiligtums lagerten all die Männer, Frauen und Kinder, die ihren Lukomonen aus allen Städten hierher gefolgt waren. Schon im Verlauf des gestrigen Tages waren sie in Scharen hier eingetroffen und mit ihnen zahllose Musikanten, Händler und Schankwirte mit ihren hochrädrigen Karren, die für das leibliche Wohl, vor allem aber für den Wein sorgten, welchem während dieser Festtage erfahrungsgemäß reichlich zugesprochen wurde.

Den ganzen Vormittag lang drang das fröhlich geschäftige Lärmen der Leute zu den Mauern des Heiligtums herüber, doch nun, da die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, erschallte auf den vier Türmen mit einem Male der dunkle, weithin tragende Klang der langen, bronzenen Signaltrompeten, die den Beginn der Wahl ankündigten. Das Lärmen verebbte schlagartig, und eine ehrfürchtige, erwartungsvolle Stille legte sich über die knorrigen Bäume des alten Eichenhaines.

Es war der Moment, als Thesu und Ranthai ins Freie traten und den rechten und linken der drei erhöht stehenden steinernen Sessel vor den im Halbkreis sitzenden Lukomonen einnahmen. Diese hatten sich zuvor ehrerbietig von ihren Stühlen erhoben, um das Priesterpaar mit einer stummen Verneigung zu begrüßen.

Nachdem er jedem Einzelnen ernst und eindringlich in die Augen geschaut hatte, eröffnete Thesu mit einem nachdrücklichen Räuspern die nun anstehende feierliche Handlung.

»Bevor Ihr jetzt einen würdigen Mann aus Eurer Mitte in das geheiligte Amt des Mechel-Rasnal wählen werdet, möchte ich zu Euch sprechen, Ihr edlen Fürsten der zwölf Städte. Heute habe ich den hundertsten Nagel in das Tor dieses Heiligtums geschlagen. Das erste der acht uns verheißenen Zeitalter ist damit zu Ende gegangen, und ein neues beginnt, doch noch immer haben die Rasna nicht zu ihrer Einheit gefunden, die zu suchen unserem Volk von Velthune auferlegt wurde, damit es nicht nach Ablauf der schicksalhaften Frist dem ewigen Vergessen anheim fallen sollte. Wenn Ihr Euch also heute für einen anderen ...«

»... als deinen Neffen entscheidet«, unterbrach ihn Arnth sarkastisch, »dann würdest du uns bitten, dies reiflich zu überdenken. Das wolltest du uns doch sagen, oder?«

Diese unverschämte Respektlosigkeit des Spuriana löste bei nicht wenigen der Fürsten ein beifälliges Gelächter aus.

Laris Tarchna, dessen Gesicht bereits zornrot angelaufen war, hatte schon den Mund geöffnet, um den Lukomo von Chaisrie harsch zurechtzuweisen, als er gerade noch rechtzeitig bemerkte, wie ihm Thesu mit geschlossenen Lidern und einem sachten Kopfschütteln Einhalt gebot.

Äußerlich nur mühsam beherrscht und seinen Rivalen lediglich mit einem hasserfüllten Blick bedenkend, lehnte er sich wieder zurück, worauf Thesu scheinbar unberührt in seiner Rede fortfuhr.

»Genau dies wären meine Worte gewesen, edler Arnth!«, sprach er und ein feines, mildes Lächeln umspielte seine Lippen. »Doch geht es mir nicht darum, Euch die Wiederwahl Laris Tarchnes deswegen ans Herz zu legen, weil er zufällig mein Neffe ist, sondern weil er sich als Erster und Einziger unter Euch für die Einheit der Rasna eingesetzt hat, welche zu erreichen, wie ich schon gesagt habe, für das Fortbestehen unseres Volkes von entscheidender Bedeutung ist. Ich habe mich noch nie in diese heilige Wahl eingemischt, weil mein Priesteramt mir das verbietet, aber eben weil ich der Priester Velthunes bin, werde ich nicht schweigen, wenn das Gebot der Gottheit vernachlässigt wird!«

Diese mahnenden Worte Thesus lösten eine zwiespältige Reaktion bei den Anwesenden aus, denn während diejenigen Lukomonen, deren Sympathien Laris galten, nur zustimmend nickten und sich betreten ansahen, blieben die Mienen derer, die sich um Arnth geschart hatten in eisigem Trotz versteinert.

Da erhob sich Arnth, stellte sich vor die Fürsten und streckte beschwörend die Arme aus.

Er war sechsundvierzig Jahre alt und von ungewöhnlich hohem, muskulösen Wuchs. Sein volles, grausträhniges Haupthaar quoll ihm unter dem schmalen goldenen Stirnreif nach Art der Craeces von den rasierten Schläfen bis tief in den breiten Rücken.

Auch der unter dem Kinn spitz zulaufende Bart, der sein länglich ovales Gesicht mit den eng zusammenstehenden, stechend blauen Augen, der kurzen, schmalflügeligen Nase und dem spöttisch aufgeworfenen Lippenpaar umrahmte, bewies, dass er dem Vorbild seiner euböischen Freunde nachzueifern trachtete.

»Ich kenne Chaisrier, Velchali, Velathrier, Fuflunier – und ich habe auch davon gehört, dass es Tarchnalier geben soll!«, rief er theatralisch und provozierte damit seine Gesinnungsgenossen zu einem hämischen Heiterkeitsausbruch. »Aber was, in aller Welt, sind die Rasna? Gewiss, so nannten sich unsere Vorfahren, als sie Tarchnal gründeten, doch das ist doch schon eine ganze Ewigkeit her! Seitdem sind viele Städte gegründet worden, die sich mit der Zeit zu großen, sich selbst bestimmenden Gemeinwesen entwickelt haben, die alle über ein eigenes reiches und fruchtbares Umland gebieten, das seine Bewohner mehr als genug mit Nahrung und Rohstoffen versorgen kann!

Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge, meine Freunde! Das Einzige, was wir heute noch gemein haben, ist unsere Sprache, aber ansonsten erfreuen sich die Städte ihrer Freiheit und Unabhängigkeit, seit sie sich von Tarchnal losgesagt haben.

Es ist bei uns doch nicht anders als beispielsweise bei den Craeces! Wir nennen sie so aufgrund ihrer Herkunft, wie sie uns Thyrsoi, nach dem Volk also, dass damals mit Tarchon in dieses Land gekommen ist. Aber sie selbst bezeichnen sich stolz nach den Städten, in denen sie geboren wurden, wie Phokäa, Eretria oder Cyme, und obwohl auch sie sich einer Zunge bedienen, würden sie sich nie als Angehörige des Volkes der Craeces verstehen, sondern fühlen sich allein ihrer Heimatstadt verbunden.

Ich glaube deshalb, dass diese so genannte Einheit, die hier seit hundert Jahren immer wieder beschworen wird, nur ein zweifellos klug verbrämter Vorwand Tarchnals ist, sich die neuen Städte wieder botmäßig zu machen! Und Tarchnal« – und dabei nahm seine immer lauter werdende Stimme einen schneidenden, aggressiv anklagenden Unterton an – »und Tarchnal wird, wie ja ein jeder von uns weiß, seit seinem Bestehen von den Tarchna regiert, welche bisher eifersüchtig darüber gewacht haben, dass keiner aus den anderen großen Familien der Stadt den Platz des Lukomonen einnimmt – oder dass ein Lukomone aus den neuen Städten zum Mechel-Rasnal gewählt wird!«

Seine letzten Worte schleuderte er Laris förmlich vor die Füße.

Bis auf Laris, der aschfahl und wie gelähmt auf seinem Stuhl kauerte, starrten alle Fürsten, selbst diejenigen, die noch vor dieser Rede auf Seiten des Tarchna gestanden hatten, mit bewundernder Fassungslosigkeit auf Arnth, welcher sich mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck wieder auf seinen Stuhl setzte.

Er wusste, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hatten, denn insgeheim dachten die meisten der Anwesenden schon seit langen so wie er, nur dass sie es zuvor nie gewagt hätten, ihre Meinung in Gegenwart des mächtigen Tarchna öffentlich zu äußern – und vor allem nicht an diesem heiligen Ort.

Aller Augen richteten sich nun auf Laris, und voller Spannung fieberten sie dem entgegen, was er darauf zu sagen hätte.

Doch Laris verharrte in resignierendem Schweigen.

Er fühlte sich zutiefst verletzt und auf einmal nur noch unsagbar müde.

Das fest gefügte Gebäude, von dem er schon in seiner Jugend geträumt und an dem er Zeit seines Lebens gearbeitet hatte, das einige, starke Reich der Rasna, war kurz vor seiner Vollendung hoffnungslos in sich zusammengestürzt.

Gewiss, er hatte Tarchnal zur Hauptstadt dieses Reiches machen wollen, und ein auf Lebenszeit gewählter Mechel-Rasnal sollte es gemeinsam mit den zwölf Lukomonen regieren, aber obgleich er es sich als Krönung seines Lebenswerkes gewünscht hatte, dass ihm diese Ehre zuteil geworden wäre, so hätte er es gleichwohl klaglos akzeptiert, wenn ein anderes Ratsmitglied für dieses schwere Amt erkoren worden wäre.

Nun aber hatte die halsstarrige und kleingeistige Borniertheit der Stadtfürsten, welche von dem machtbesessenen Spuriana noch geschürt wurde, seine ehrgeizigen, aber auch weitsichtigen Pläne zunichte gemacht.

Heute, nach seiner Wiederwahl, hatte er die Absicht gehabt, den Lukomonen seine Vision zu enthüllen, doch nach der aufhetzenden Rede Arnths und der unverhohlenen Ablehnung, die ihm jetzt aus den finsteren Mienen der aufgebrachten Fürsten entgegenschlug, musste er erkennen, dass jede Rechtfertigung oder Erklärung, die er in dieser Situation noch hätte vorbringen können, auf taube Ohren stoßen würde.

Er gab sich keinen weiteren Illusionen mehr hin.

Arnth Spuriana hatte sein Ziel erreicht.

Er würde heute zum Mechel-Rasnal gewählt werden, und damit war die Einheit der Rasna wieder in weite Ferne gerückt, denn hinter Arnth stand das Gold der Craeces, welche bislang die Einzigen waren, die von der Zerstrittenheit, die zwischen den Städten herrschte, durch ihr Handelsmonopol profitiert hatten.

In kalter Teilnahmslosigkeit verfolgte Laris den Fortgang der nun beginnenden Wahl, hörte wie durch dichten Nebel die Reden der von Arnth gedungenen Fürsten aus Fufluns, Velznal und Velathri, die das Lob ihres Herren überschwänglich besangen, und sah schließlich, wie sie Arnth die purpurne Tabenna umlegten und ihn zu dem leeren Sessel zwischen Thesu und Ranthai geleiteten, um ihm dann als neuem Mechel-Rasnal zu huldigen.

Und er saß noch da, als sie längst alle das Heiligtum verlassen hatten, um mit den Leuten zu feiern und sich die Spiele anzusehen.

»Träumst du noch immer den Traum der vergangenen Zukunft, Neffe?«, wurde er jäh von Thesu aus seiner Lethargie gerissen.

Laris sah seinen Onkel aus tränenverschleierten Augen an.

»Ja, mein Junge, du trauerst zu Recht«, sprach der alte Mann mit brüchiger Stimme weiter, »denn an diesem Tag wurde der Traum von der Einheit der Rasna zu Grabe getragen. Gestern Nacht haben Ranthai und ich Velthune um ein Zeichen angefleht, und die Gottheit hat uns erhört, denn sie ließ uns im Schlaf ein seltsam düsteres Gleichnis schauen. Wir sahen ein Rudel Wölfe, das viele Welpen mit sich führte. Auf einmal aber gerieten die Alttiere in Streit über eine Beute, verbissen die Welpen und jagten sie am Ende aus dem Rudel davon. Zwei der Jungen, ein weibliches und ein männliches, blieben zusammen und wanderten gemeinsam so weit weg, bis sie einen wildreichen Ort gefunden hatten, der fern genug von den Reviergrenzen des alten Rudels war, und ließen sich dort nieder. Bald darauf wurde die Fähe trächtig und brachte vier Welpen zur Welt, von denen aber nur zwei überlebten, was die Mutter in tiefe Trauer stürzen ließ.

Da fügte es sich, dass der Vater auf seiner Suche nach Nahrung zwei neugeborene Menschenkinder fand, die man im Wald ausgesetzt hatte. Er nahm sie vorsichtig in seinen Fang und brachte sie zurück in den Bau, in der Hoffnung, dass die Fähe sie an Kindesstatt annehmen und so über den Tod ihrer eigenen Kinder hinweggetröstet würde.

Als die Fähe die hilflosen, nackten Menschenkinder sah, wurde ihr Herz von Mitleid gerührt, und voller Freude über den unverhofften Familienzuwachs legte sie sich die Kleinen an ihre Brust und säugte sie von da an wie ihre eigenen Welpen mit ihrer Milch.

Die Jahre vergingen, und aus der kleinen Wolfsfamilie war ein stattliches Rudel geworden, in welchem die Wölfe und die Menschen gleichermaßen einträchtig zusammenlebten, wobei sie gegenseitig voneinander lernten und sich so mit der Zeit die jeweils herausragenden spezifischen Fähigkeiten zu Eigen machten.

Aber sie hatten nicht vergessen, dass es außerhalb ihres Reviers immer noch Artgenossen gab, die ihren Vorfahren einst großes Leid zugefügt hatten, indem sie diese aus ihrer Gemeinschaft verstoßen hatten.

Eines Tages nun, als sie sich stark genug dazu wussten, beschlossen sie deshalb, dafür bittere Rache zu üben. Sie rotteten sich zusammen, überschritten die Grenzen ihres Territoriums und fielen über ihre Nachbarn her, die völlig ahnungslos waren, da sie zwar mittlerweile die Existenz dieses sonderbar gemischten Rudels zur Kenntnis genommen hatten, es aber aufgrund dessen auch aus tiefstem Herzen verachteten und damit gewaltig unterschätzten.

Als Erstes zogen sie gegen das alte Wolfsrudel aus, und als sie in dessen Revier eingedrungen waren, stellten sie mit großem Abscheu fest, dass die einstmals so stolzen, wehrhaften Raubtiere zu dickbäuchigen, halb blinden Greisen verkümmert waren, die sich gegenseitig sabbernd und geifernd um jeden Fetzen Aas in die räudigen Flanken bissen. Sie schlugen sie einfach alle der Reihe nach tot und vergaßen danach, dass sie jemals gelebt hatten.«

»Es ... es ist eine grauenvolle Vision, die Velthune uns durch euch teilhaftig werden ließ«, sagte Laris leise, nachdem er das, was er gerade aus dem Munde seines Onkels vernommen hatte, für eine lange Weile in seinem Herzen bewegt und für sich gedeutet hatte. »Aber es wird so geschehen! Niemals werden die Rasna über ein geeintes, starkes Reich herrschen, wie etwa die Aigypter oder die Assyrer. Stattdessen werden sich die Fürsten und die reichen Familien der Städte aus ihren engstirnigen Gelüsten nach Macht und Reichtum weiterhin gegenseitig zerfleischen und sich jedem, der ihnen nur genug Gold und Luxuswaren liefert, wie eine Dirne verkaufen. Und irgendwann, wenn wir satt und faul darniederliegen, werden sich all die gegen uns erheben, die wir gedemütigt und missachtet haben. Wir sind nicht allein in diesem Lande, und die Völker, die um uns herum leben, wie die Umbrer, Samniten und Sabiner, die wir als primitiv erachten, da sie einfach leben und nicht unsere Sprache sprechen, sind jung und unverbraucht und beobachten uns schon lange mit neidvollem Argwohn. Viele aus unserem Volk, die wir wegen irgendwelcher wirklichen oder scheinbaren Missetaten geächtet und aus unseren Städten vertrieben haben, fanden bei diesen Stämmen Unterschlupf und geben ihnen dafür bereitwillig unser Wissen preis. Es wird der Tag kommen, an dem sie sich zusammentun, um sich an uns für ihr erlittenes Ungemach zu rächen. Das ist es doch, was Velthune uns sagen will!«

Thesu nickte bedächtig mit dem Kopf.

»Du erweist deinem Vater, meinem Bruder, alle Ehre, Laris Tarchne! Für einen Moment hatte das Schicksal dir die Zukunft der Rasna in die Hand gelegt, doch durch die hoffärtige Missgunst des Arnth Spuriana bist du, ist unser Volk dieser einmaligen Gelegenheit, sich in Eintracht zu vereinen, verlustig geworden.«

»Verzehre dich nicht weiter in deinem Gram, Laris!«, ließ sich da die sanfte Stimme Ranthais vernehmen. »Ich habe den Flug der Vögel beobachtet, und gerade ist ein ungewöhnlich großer Adler über dem Hain aufgestiegen und hat über deinem Haupt seine Kreise gedreht. Dir ist gerade ein Sohn geboren worden, über dem die starke Hand unseres Göttervaters Tini ruht und welcher vielleicht der Welpe sein wird, den Velthune uns im Traum gewiesen hat. Es ist doch nicht zufällig, dass das Siegeltier der Tarchna ein Wolf ist!«

Laris schaute das Paar eine geraume Zeit entgeistert an, so, als ob er nicht glauben wollte, was er da eben mitgeteilt bekommen hatte. Doch dann entspannten sich die von kurz geschnittenen und ungebändigten rostbraunen Locken umrahmten Züge seines breitflächigen, bartlosen Gesichts, und in seinen dunkelbraunen, großen, runden Augen erschien ein verklärtes Leuchten, während ein befreiendes Lächeln über seine schmalen Lippen unter der kurzen geraden Nase spielte. Er stand auf und umarmte stumm und voll des tief empfundenen Glücks zuerst Ranthai und dann seinen Onkel.

»Das Walten des Schicksals wird für uns wahrhaftig immer unabwägbar bleiben!«, murmelte er in ergebener Demut. »Heute ließ es in mir eine große Hoffnung sterben und lässt gleichzeitig eine neue gebären! Welch ein Wunder!«

»Das ist seine Natur«, erwiderte Thesu bedächtig. »Dort, wo es Leben nimmt, spendet es in gleichem, oft aber auch reichlicherem Maße neues. Velthune, der allein über das Schicksal der Götter und Menschen bestimmt, liebt seine Geschöpfe, und deshalb hat alles, was uns an Gutem oder Schlechtem widerfährt, seinen tieferen Sinn, der uns aber zumeist erst am Ende unseres Lebens gänzlich offenbart wird. Wenn du also mit deinem Schicksal haderst, weil dir etwas versagt bleibt, was du dir sehnlichst erwünscht hast oder du einen Menschen verlierst, den du über alles geliebt hast, dann betrachte es als einen liebenden Fingerzeig Velthunes, der dir damit den von ihm für dein Leben bestimmten Weg weisen will. Kehre jetzt wieder nach Tarchnal zurück, Neffe, es gibt hier nichts mehr für dich zu tun, und deine Frau wird schon ungeduldig auf dich warten.«

»Wie wirst du deinen Sohn nennen, Laris?«, wollte Ranthai noch wissen.

Er hatte ihnen schon den Rücken zugewandt und schickte sich an zu gehen, doch da drehte er sich noch einmal zu ihnen um und grinste breit über das ganze Gesicht.

»Tarchunies! Ich werde ihm zur Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag den Namen unseres großen Vorfahren geben! Wenn er wirklich der Welpe sein sollte, der sich euch in eurem Traum gezeigt hat, dann wird dieser Name ein gutes Omen sein!«

Mit festem Schritt und hoch erhobenen Hauptes verließ er darauf die Mauern des Heiligtums, bestieg seinen leichten, Silber beschlagenen Streitwagen und ließ die zwei Schimmel ordentlich ausgreifen. Die Tiere waren sehr belastbar, und schon am späten Nachmittag war er, ohne eine Rast einzulegen, in Tarchnal angekommen, das ihm wie ausgestorben schien, da sich ja die meisten seiner Bewohner, soweit sie zu den Freien zählten, noch immer beim Heiligtum Velthunes aufhielten, um sich an den Feiern und den Spielen zu ergötzen.

Innerlich aufgewühlt fuhr er durch das große doppelflügelige Tor, das in den geräumigen Vorhof seines prächtigen Anwesens am westlichen Rande der Stadt führte. Er sprang von seinem Wagen und warf den zwei Sklaven, die, da die unerwartete Rückkehr ihres Herren sie völlig überrascht hatte, gerade noch rechtzeitig das Tor vor dem heranpreschenden Gespann aufreißen konnten, die Zügel zu und lief eiligen Fußes zum Haupthaus hinüber.

Er ging an dem alten, treuen Sklaven vorbei, der das Amt des Türhüters versah und, als er das Eintreten Laris’ gewahr wurde, erschreckt aus seinem trägen Dösen fuhr, und begab sich zunächst in den von weiß und blau bemalten Säulen umstandenen, quadratisch angelegten Lichthof zu dem in dessen Mitte eingelassenen Becken, in welchem sich das Regenwasser, das von den Ziegeln des schrägen, von den Säulen getragenen Dachgevierts rann, sammelte und dadurch gerade bei heißen Tagen eine angenehme Kühle spendete. Er wusch sich fahrig Gesicht und Hände und suchte dann das im hinteren Teil des Hauses befindliche gemeinsame Schlafgemach auf, wo er seine Frau mit ihrem Neugeborenen vermutete.

Kurz bevor er dort ankam, trat ihm die Amme entgegen, die kurz vor seiner Abreise ins Haus bestellt worden war, um sich um die werdende Mutter zu kümmern. Mit ihrem vor die Lippen gelegten Zeigefinger bedeutete sie ihm, leise zu sein, und winkte ihn dann wieder in den Lichthof zurück.

»Wie geht es den beiden?«, flüsterte er aufgeregt.

»Sei gegrüßt, Herr!«, sagte sie lächelnd. »Ich beglückwünsche Euch zu der Geburt Eures dritten Sohnes. Heute, am späten Vormittag war es so weit, und Mutter und Kind sind wohlauf. Es war eine leichte und schnelle Geburt, bei der die Herrin kaum gelitten hat. Beide schlafen jetzt und ruhen sich von der Anstrengung aus. Nur, wie konntet Ihr ahnen, dass ... ?«

In diesem Augenblick drang ein kräftiges, nur von der Tür etwas gedämpftes Schreien zu ihnen herüber.

»Ah, der kleine Mann verspürt Hunger!«, sagte die Amme lachend. »Nun geht schon, Herr, Ihr könnt es ja kaum noch erwarten.«

Laris klopfte das Herz bis zum Halse, als er behutsam die Tür des Schlafgemaches öffnete und hineintrat. Überwältigt von dem Anblick des innigen Friedens, der sich ihm bot, blieb er stumm stehen und konnte sich seiner Freudentränen nicht länger erwehren.

Seine Frau lag halb aufgerichtet auf dem Bett und wiegte den Säugling sacht in ihren Armen, wobei sie die einlullende Melodie eines Kinderliedes summte, während sein Sohn sich wohlig an die vollen Brüste seiner Mutter kuschelte und sich herzhaft und geräuschvoll an der reichlich hervorquellenden Milch labte.

Eine ganze Weile beobachtete er schweigend diese heimelige Idylle, bis er sich mit einem vernehmlichen Räuspern bemerkbar machte.

Jetzt erst nahm sie Kenntnis von der Gegenwart ihres Mannes und schlug ihre von seligem Glück verschleierten Augen auf.

»Ich wusste, dass du heute kommen würdest, Laris«, begrüßte sie ihn liebevoll mit ihrer warmen Stimme, in der jene geheimnisvolle, laszive Erotik mitschwang, die ihn immer wieder aufs Neue faszinierte und körperlich erregte.

»Komm, setze dich zu mir und küsse mich und deinen Sohn. Ich denke, wir haben das verdient!«

Nachdem er dem Wunsch seiner Frau nachgekommen war, betrachtete er eingehend seinen Sprössling. Noch war natürlich nicht zu erkennen, wem von beiden er einmal ähneln würde, aber die dichten rostbraunen Locken, die sich – ungewöhnlich für einen gerade entbundenen Säugling – um den kleinen Kopf ringelten, ließen keinen Zweifel, wer der Erzeuger war.

»Wenn du nichts einzuwenden hast, Squria, würde ich ihn gerne Tarchunies nennen.«

Sie bedachte ihn mit einem wissenden Blick.

»Seltsam, ich wollte dir dasselbe vorschlagen«, stimmte sie ihm ohne zu zögern zu und strich ihm unendlich zärtlich über die Stirn.

»Arnth ist zum Mechel-Rasnal gewählt worden, nicht wahr?« Ihre Stimme klang emotionslos.

»Tja, das Schicksal hat seinen vorbestimmten Lauf genommen, Liebste«, antwortete er heiter. »Aber nachdem mir Ranthai die Geburt unseres Sohnes verkündet hat, war der Zorn, den ich anfänglich darüber empfunden habe, gänzlich verflogen. Verschwende also auch du keine Gedanken mehr über diese leidige Angelegenheit, sondern erfreue dich lieber an unserem Sohn, der nach Ranthais Deutung den besonderen Schutz Tinis genießt und offenbar dazu ausersehen ist, in der Zukunft große Taten zu vollbringen.«

Er erzählte ihr ausführlich von dem Gespräch, was er mit seinem Onkel geführt hatte, und auch von dem Adler, den Ranthai über ihm kreisen sah.

»Da mag etwas dran sein!«, erwiderte sie lachend und küsste dem Kleinen die Stirn. »Er hat sich schon während der Geburt als sehr willensstark erwiesen, wenn ich daran denke, wie schnell alles ging. Ich hatte den Eindruck, als ob er es gar nicht erwarten konnte, das Licht der Welt zu erblicken, ganz anders als bei unseren anderen beiden Söhnen, die sich dafür eine qualvoll lange Zeit genommen haben, wie du ja weißt.«

»Wo sind Nerie und Thivarie eigentlich?«, erkundigte er sich, denn er hatte die zwei bei seiner Ankunft weder im Hof noch im Hause gesehen.

»Sie sind heute Morgen mit dem alten Usile und den Hunden auf die Wiesen vor der Stadt gegangen, um sich im Hüten der Schafe zu üben.«

»Eine äußerst lehrreiche Beschäftigung, denn sollten sie dereinst meine Nachfolge antreten oder ein anderes hohes Amt in dieser Stadt übernehmen, dann werden ihnen die Erfahrungen, die sie dabei machen, sehr zum Nutzen sein.«

Er gab seiner Frau und dem kleinen Tarchunies einen innigen Kuss und stand vom Bett auf.

»Ich werde mich jetzt ein wenig frisch machen und euch noch etwas ruhen lassen. Möchtest du, dass ich dir nachher, zum Abend, etwas zu essen bringen lasse? Ich würde dir gerne dabei Gesellschaft leisten!«

»Natürlich! Ich habe ja seit gestern nichts zu mir genommen und verspüre großen Hunger. Vergiss auch nicht, zur Feier des Tages einen besonders guten Wein auszusuchen.«

»Es wird so geschehen, wie meine Herrin es befiehlt«, ahmte er den näselnden Tonfall des dicken Küchensklaven nach und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Tür drehte er sich noch einmal zu den beiden um.

»Du bist eine wunderbare Frau, Squria!«, sagte er bewegt. »Du hast mir mit unserem Tarchunies eine weitaus größere Ehre und Freude geschenkt, als wenn man mich heute wieder zum Mechel-Rasnal gewählt hätte. Auf den Titel kann ich verzichten, auf euch niemals! Ich liebe dich!«

Die Gründer der Stadt

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