Читать книгу Die Nomaden der Meere - Bernhard von Muecklich - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDie Sonne, die an diesem herrlichen Frühsommermorgen am nahezu wolkenlosen, lichtblauen Himmel stand, hatte ihren mittäglichen Zenit fast erreicht und sandte ihre Strahlen auf das immer noch verwundete Land herab.
Ein steter lauer Wind wehte vom Meer über die Dünen her und spielte in dem schütteren, schlohweißen Haar des alten Mannes, welcher, die Beine wohlig von sich gestreckt, mit seinem Rücken an einem der kleinen grauen Felsblöcke lehnte, die den runden, grasbewachsenen Grabhügel hinter ihm umsäumten. Er hatte über siebzig Winter erlebt, doch dafür war sein Körper noch in erstaunlich guter Verfassung. Tiefbraune, wettergegerbte Haut spannte sich über die immer noch kräftigen Muskelpartien seiner Gliedmaßen, und nur die zahlreichen Fältchen, die ihm das Leben ins Gesicht gezeichnet hatte, zeugten von seinem hohen Alter.
Sein linker Arm lag lose um die Schulter eines etwa neunjährigen Mädchens, welches sich mit angezogenen Knien eng an ihn schmiegte und mit ihrer rechten Hand an dem Amulett spielte, welches der alte Mann an einer schmalen, goldenen Gliederkette um den Hals trug. Das Amulett hatte die Form eines Käfers, dessen Flügel von zwei zu einem flachen Halboval geschliffenen hellblauen Steinen gebildet wurden, die in den Goldkörper kunstvoll eingearbeitet worden waren. Auf der Unterseite des Schmuckstücks waren fremdartige Bildzeichen eingraviert worden, über die das Mädchen die zarten Finger ihrer Rechten andächtig gleiten ließ.
Unvermittelt löste sich ihr Blick von dem Gegenstand ihrer Betrachtung. Sie richtete sich ein wenig auf und wandte ihr von dunkelbraunen, ungebändigten Locken umrahmtes, schmales und sommersprossiges Gesicht dem ruhevollen Antlitz des alten Mannes entgegen. Ihre großen dunklen, von langen seidigen Wimpern umflorten Augen schauten ehrfurchts- und liebevoll auf die zerfurchten Züge des Greises, während sie dessen nervige, blauädrige Hände zu ihren Wangen führte.
»Denkst du auch gerade an Oma Hetep?«, fragte sie leise.
Der alte Mann öffnete blinzelnd seine Lider, hob den Kopf und blickte zunächst kurz zu der jungen Frau, die vor den beiden im hohen Gras kniete und mit ihren langen, feingliedrigen Händen bunte Wiesenblumen behutsam zu einem kleinen Kranz knüpfte.
Sie war von hohem, schlankem Wuchs, und unter dem Stoff ihres ärmellosen Leinenkleides, welches ihr in lockerem Faltenwurf bis zu ihren wohl geformten Waden fiel, hoben sich ihre vollen, festen Brüste reizvoll hervor.
Ihr an sich hüftlanges, dichtes Haar, welches in der Sonne in einem satten, dunklen Kupferrot glänzte, hatte sie mittels eines feinmaschigen, an den Knüpfstellen mit kleinen Bernsteintropfen verzierten Netzes um ihren Nacken zu einer Rolle hochdrapiert.
Das hervorstechendste Merkmal an ihr aber waren ihre mandelförmigen, veilchenblauen Augen, die einen attraktiven Kontrast zu ihrer samtbraunen Hautfarbe bildeten.
Ein feines Lächeln spielte bei diesem Anblick um die Lippen des Greises.
»Sieh nur deine Mutter an, Kind!«, sagte er. »Sie ist das Ebenbild meiner geliebten Frau. Wie könnte ich nicht ständig an sie denken, da meine Tochter mich doch tagtäglich an sie erinnert!«
»Bitte, Großvater, erzähle mir doch noch einmal, wie du Oma Hetep kennen gelernt hast«, bat die Kleine ihn daraufhin.
»Oh nein, Laria!«, ließ sich da die melodiöse Stimme der jungen Frau missbilligend vernehmen, »Großvater hat dir das doch schon wer weiß wie oft erzählt! Lass ihn noch ein wenig ruhen und die Morgensonne genießen!«
»Es ist schon gut, Liebes!«, beschwichtigte sie der Greis. »Wann, wenn nicht am Todestag deiner Mutter, gäbe es wohl einen geeigneteren Zeitpunkt, diese Geschichte zu erzählen?«
Seine Gedanken schweiften darauf weit zurück in jene Zeit, die nun schon fast sechzig Sommer zurücklag.
Geduldig begann er dann ein anderes Mal zu erzählen, wie er als junger Mann zu seiner ersten großen Reise an Bord eines Handelsschiffes über zwei Meere zu jenem so weit im Süden gelegenen Land Khemet aufgebrochen war. Lebendig, gerade so als wäre es erst gestern geschehen, schilderte er, unter welch schicksalhaften Umständen er die Freundschaft des gleichaltrigen Kronprinzen dieses mächtigen Reiches erlangt hatte und vor allem die seiner Schwester, mit welcher er dann, zusammen mit seinen Schiffsgefährten, einen tödlichen Anschlag auf das Leben des Prinzen vereiteln konnte und ihm somit zu seinem rechtmäßigen Thronerbe verholfen hatte.
»Du hast Großonkel Imenhotep sehr geliebt, nicht wahr?«, warf das Mädchen mit verklärtem Blick ein.
Der alte Mann nickte ernst, während ein wehmütiger Zug um seine Lippen erschien.
Wie so oft in der letzten Zeit tauchte das markant melancholische Gesicht seines unglücklichen brüderlichen Schwagers wieder aus dem reichen Schatz seiner Erinnerungen vor seinem geistigen Auge auf.
Während den auf seine erste Reise folgenden zehn Jahren war er dann noch zweimal nach Khemet gesegelt, um ihn zu besuchen, das erste Mal drei Jahre nach Imenhoteps Krönung zum Per-hau. Nie würde er dieses erste Wiedersehen vergessen können. Während der ganzen Fahrt auf dem Hapi nach Uaset wurden die zwei Schiffe der Nordleute von prächtig geschmückten königlichen Prunkbarken eskortiert, und immer wieder tauchten an beiden Ufern Menschenmengen auf, die sie mit frenetischem Jubelgeschrei begrüßten. Als sie schließlich in Uaset festmachten, stand Imenhotep höchstselbst auf der Kaimauer, um sie willkommen zu heißen. Mit Tränen der Freude in den Augen und mit aus glücklicher Fassungslosigkeit versagender Stimme hatte ihn Imenhotep schließlich vor allen Anwesenden lange und fest in die Arme geschlossen, und dann waren sie beide, nachdem sie sich mit einem Augenzwinkern verständigt hatten, wie zwei übermütige Kinder zum Palast gerannt, den Hofstaat und die Menge des Volkes von Uaset in ihrer Verblüffung hinter sich lassend.
Im Palast führte er ihn zunächst zu seiner Mutter, die ihn ebenfalls mit herzlicher Zuneigung empfing. Dann zogen sie sich in den vertrauten Garten zurück, wo ihm Imenhotep mit liebevollem Stolz seine junge Frau Nefertiti und seine zwei Töchter, die sie ihm kurz hintereinander geboren hatte, vorstellte. Er wusste noch genau, was er empfand, als er ihr das erste Mal gegenübergestanden hatte. Es war ein intensives Gefühl von Argwohn und Misstrauen, denn ihre gemeißelte Schönheit und das sanfte Lächeln ihrer sinnlich geschwungenen Lippen konnten über die berechnende Dominanz, die aus ihren kalten Augen blitzte, nicht hinwegtäuschen. Doch Imenhotep konnte – oder wollte diesen gefährlichen Charakterzug seiner Frau zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht wahrhaben. Er lebte vielmehr in einer seine schwärmerische Seele berauschenden Harmonie aus vollendetem Glück und allumfassendem Frieden, was nicht nur für seine Familie, sondern vor allem auch für sein ganzes Reich galt. In der kurzen Zeit seiner Regierung hatte er seine politischen und religiösen Visionen konsequent in die Wirklichkeit umgesetzt. So hatte er die Tempel Amuns und aller anderen Gottheiten tatsächlich schließen lassen und dem Volk befohlen, allein dem Schöpfergott Aten und ihm, als seinem irdischen Stellvertreter, göttliche Verehrung zuteil werden zu lassen. Mit den Nachbarländern hatte er langfristige Friedensverträge geschlossen und zudem einige von Khemet unterworfene und tributpflichtige Völkerschaften in die Freiheit entlassen.
So schien alles aufs Beste bestellt zu sein, doch als er ihn sieben Jahre später das zweite und letzte Mal besucht hatte, gestaltete sich dieses Wiedersehen als ein einziger, lastender Albtraum.
Mit der unbeugsamen Schaffenskraft des Visionärs hatte Imenhotep, der sich allerdings nunmehr zu Ehren seines Gottes Echen-aten nannte, Uaset den Rücken gekehrt und eine neue, dem Aten geweihte Hauptstadt nördlich von Uaset, auf halbem Wege zum Mündungsgebiet des Hapi, am Ufer des Flusses aus dem kargen, fruchtlosen Wüstenstaub stampfen lassen.
Von dort aus beherrschte er nun sein strahlendes Friedensreich. Imenhotep selbst hatte sich erschreckend an Körper und Geist verändert. Sein Leib war schlaff und vom Wein aufgedunsen, und sein Gesicht, welches von fanatisch glühenden, von den aberwitzigen täglichen Sonnenschauen rot entzündeten Augen beherrscht wurde, war um Nase und Mund von tiefen Falten durchfurcht. Nefertiti hatte er zwischenzeitlich aus seinem Leben in den weitläufigen Harem verbannt, da sie wohl, wie er erklärt hatte, mehrfach die Ehe gebrochen hatte. Nur einmal hatte er sie damals flüchtig in den Gärten des Palastes gesehen, eine früh gealterte, von Ausschweifung und Harm gezeichnete Frau.
Eine neue Frau aber gab es nicht, stattdessen teilte Imenhotep sich die Herrschaft mit Sem-ench-ka-re, einem weibisch wirkenden, kapriziösen jungen Mann, der ihm allerdings wie ein Zwilling glich und den er wie eine Geliebte behandelte.
In einem Gespräch mit Haremhab, der inzwischen das Oberkommando über alle Streitkräfte Khemets führte, erfuhr er dann auch noch, dass im ganzen Land, geschürt von den Priestern des Amun, Mord und Terror tobten und die Feinde des Reiches mit geifernden Lefzen um die Grenzen des Landes streunten, bereit, das geschwächte und zerrüttete Khemet zu zerreißen. Doch Imenhotep stellte sich taub. Gefangen in der arroganten Ignoranz seines religiösen Wahns, predigte er zum Teil unter der widersinnigen Anwendung von Gewalt den Frieden und verbot seinen Truppen, den inneren und äußeren Feinden mit ihren Waffen Einhalt zu gebieten. Stattdessen zahlte er lieber Unsummen an Gold, um den Frieden zu wahren, und leerte somit die Staatskasse, was das Reich unaufhaltsam dem sicheren Ruin entgegenführte.
Mit diesen erschütternden Eindrücken belastet, war er in die Heimat zurückgekehrt und empfahl, da er mittlerweile Sitz und Stimme in der Händlergilde innehatte, dieses zunehmend von Chaos und Verfall gezeichnete Land nicht mehr direkt anzusteuern, sondern die Waren schon in den Handelsniederlassungen im Mündungsgebiet des Hapi, wie etwa Requot, umzuschlagen.
Erst neun Jahre später, zwei Jahre nach der unsäglichen Sturmflut, die zu jener Zeit über das Nordland hereingebrochen war, brachte ein Handelsschiff die Nachricht ins Dorf, dass Imenhotep-Echen-aten just zu dem Zeitpunkt auf mysteriöse Weise verstorben war, als die schützenden Dünen vor den Marschen unter dem monströsen Druck der ungezügelt heranrasenden Wogen zerbarsten. Und wie die Dünen war gleichzeitig auch der Traum des Imenhotep von seinen aufgebrachten Untertanen hinweggefegt worden, und die alten Götter in Uaset herrschten wieder über Khemet. Sein Name wurde von den Priestern auf ewig getilgt, und seine Stadt versank im Staub der Wüste ...
»Erzähle mir doch noch einmal von der großen Flut, Großvater!«, ließ sich da die zarte Stimme der Kleinen vernehmen, als hätte sie seine letzten Gedanken erraten. »Oma Hetep hat gesagt, dass die bösen Geister ihrer Heimat Großonkel Imenhotep umgebracht und uns die Flut geschickt hätten um alle, die seine Freunde waren, zu bestrafen.«
Der alte Mann seufzte und schaute wieder kurz zu seiner Tochter, die die beiden kopfschüttelnd, aber lächelnd beobachtete.
Tatsächlich waren damals viele im Dorf dieser Meinung gewesen, obwohl sie selbst, wie übrigens auch die umliegenden Nachbargemeinden, von der Katastrophe weitgehend verschont geblieben waren. Es waren hauptsächlich die weiter im Südwesten gelegenen Küstengebiete, deren Dörfer samt dem sie umgebenden fruchtbaren Weide- und Ackerland von den tagelang heranstürmenden Fluten unwiederbringlich verschlungen wurden. Aber da das furchtbare Ereignis etwa zeitgleich mit dem Tod des in Khemet als Dämon und Gotteslästerer verfluchten Per-hau eintraf, wandte sich der aufgestaute Hass der einheimischen Bevölkerung gegen die Männer und Frauen aus Khemet – darunter eben auch seine Frau Hetep-ibes –, die hier, im Zuge des jahrelangen, regen Handelsverkehrs mit diesem Land, eine neue Heimat gefunden hatten.
Er erinnerte sich noch sehr genau, welch Mühe und Überredungskunst es bedurft hatte, die Menschen zu besänftigen und ihnen klar zu machen, dass die »Fremden«, wie sie damals abschätzig von den Nordleuten genannt wurden, nicht das Geringste mit dem verheerenden Unheil zu tun hatten, welches sie ja alle heimgesucht hatte. Es war vor allem der Besonnenheit von Männern wie Maeknas, der zu diesem Zeitpunkt den Rang des Dorfältesten bekleidete, und Moruns, des Priesters der heiligen Insel, zu verdanken, dass die aufgebrachten Menschen darüber nachzudenken begannen, dass auch die »Fremden« das Leben ihrer Liebsten, die in den Fluten umgekommen waren, zu betrauern hatten und eher Mitgefühl denn Rache verdient hätten.
»Es war an einem Tag wie diesem«, begann der Greis nun seine Ausführungen. »Die Sonne schien den ganzen Tag von einem wolkenlosen Himmel, und kein Lüftchen rührte sich. Dann kam der Abend, und der Mond begann seine nächtliche Bahn zu ziehen. Das Meer war ruhig, und auf seiner glatten Oberfläche spiegelten sich glitzernd die Sterne. Aber dann, kurz vor Mitternacht, schreckte uns ein lang anhaltendes, unheimliches Grollen aus dem Schlaf. Es klang wie der Ruf jenes großen gelben Raubtieres, von dem ich dir schon öfter erzählt habe und welches die Wüsten Khemets nächtens unsicher macht. Ich war damals einer der Ersten, die auf die Dünen geeilt waren und beobachten konnten, was dann geschah. Über uns funkelten noch immer friedlich die Sterne am nächtlichen Firmament, doch in der Ferne am westlichen Horizont türmte sich eine schwarz drohende, von grell zuckenden Blitzen umwaberte Wolkenwand auf, die sich rasch näherte und den Sternenhimmel aufzufressen schien. Urplötzlich nahm der Wind an Stärke zu und dann ...«
Der alte Mann hielt inne und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. »Dann begann das Meer sich mit einem Male brodelnd zusammenzuziehen, um sich dann, gepeitscht von dem tosenden Orkan, unvermittelt mit seinen rasend schnell hintereinander herjagenden Wogenmassen auf unser Land zu stürzen. Wie eine entfesselte Herde schwarzer Pferde, deren fliegende Mähnen im Mondlicht fahlweiß lohten, stürmten die Wellen brüllend gegen die Dünen. Und was für Wellen! Hier bei uns waren sie zwar nur wenig höher als unsere Dünen, weshalb sie letztendlich nicht so viel Schaden anrichteten wie etwas weiter im Süden. Dort nämlich zerschlugen berghohe Brecher die schützenden Sandwälle, sodass sich die salzig schäumenden schwarzen Fluten ungehindert ins Landesinnere ergießen konnten und die weiten fruchtbaren Ebenen und alles, was auf ihnen lebte, für alle Zeiten unter dem Schlamm, den sie mit sich herschwemmten, begruben.«
»Wie hoch ist ein Berg?«, fragte die Kleine schüchtern.
Der Alte räusperte sich. »Wir sind doch einmal an der heiligen Insel vorbeigefahren, Laria«, erklärte er dann. »Und da hast du doch die hohe Steilwand gesehen, oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist, nach der Flut. Nun, die Wellen, die damals unsere Heimat verwüsteten, waren zum Teil mehr als dreimal so hoch wie jene steile Felswand, bei deren Anblick du mich gefragt hast, ob man im Himmel wäre, wenn man sie erklommen hätte. Und in den fernen südlichen Ländern gibt es Berge, die noch weitaus höher sind.«
Ja, auch die heilige Insel war damals von der wütenden Naturgewalt nicht verschont worden. Die anbrandende Wogenmacht riss die gesamte nordwestliche Landzunge des Felsens mit sich fort, während die Sonnenhalle von den aus dem schwarz-schwefeligen Leib der Sturmwolken unaufhörlich herausbleckenden Blitzen getroffen wurde und, geschürt von dem ohrenbetäubend heulenden Orkan, in hell lodernden Flammen aufging und nahezu restlos niederbrannte. Nur wie durch ein Wunder konnte sich Moruns, der Priester dieser heiligen Stätte, aus dem Inferno retten, doch hatte er den »verfluchten Felskadaver«, wie er es genannt hatte, zeit seines Lebens nicht mehr betreten. Die Sonnenhalle wurde nie wieder aufgebaut, und die zerrissene Insel war bald nur noch ein verödender roter Fels im Meer, den jeder zu meiden trachtete.
Aber der Verlust dieses so wichtigen, über viele Generationen bestehenden geistig-religiösen Mittelpunktes führte dazu, dass die Menschen, so weit sie die Katastrophe überlebt hatten, an der Existenz des Schöpfergeistes zu zweifeln begannen und stattdessen fest daran glaubten, dass das ganze Land verflucht sei. So beschlossen schon wenige Jahre nach der Flut nicht wenige Familien, das Land zu verlassen und sich eine neue Heimat im fernen, warmen Süden zu suchen.
Mit ihrem ganzen Hab und Gut beladen, fuhren sie auf ihren Ochsenkarren in eine ungewisse Zukunft, während diejenigen, die sich entschieden hatten, hier zu bleiben, anfingen, erbittert um das karg gewordene Acker- und Weideland zu kämpfen. In jenen Tagen schufen die Essen der Bronzeschmiede hauptsächlich Schwerter, Lanzenspitzen und Helme, statt Schmuckwaren für den Handel oder die bitter notwendig gewordenen Sicheln für den Ackerbau. Bis zur Flut hatte das Land einen goldenen Frieden erleben dürfen, nun aber erhob sich Bruder gegen Bruder, und an den verkohlten Balken so manchen Dorfes troff das Blut seiner Einwohner. Auch das war ein Grund, warum immer mehr Familien und sogar ganze Dorfgemeinschaften auswanderten. Auch der Handel war seither fast gänzlich zum Erliegen gekommen, und die einst so stolzen Fernsegler wurden zu kampfstarken Kaperschiffen umgebaut, ganz so, wie man es von den Piraten des Südmeeres, den Sherdanu und den Tjeki gelernt hatte. Mit tödlichen, aus Bronze gegossenen Rammspornen am Bug machten diese schnellen Raubschiffe, die allesamt von heimatlos gewordenen, verwegenen Frauen und Männern bemannt waren, das Nordmeer bis hinunter nach Tar’eses unsicher, sodass sich nur noch ganz selten ein keftisches Handelsschiff unversehrt an diese Küste verirrte.
Auch sein eigener erstgeborener Sohn, welchen er nach seinem jüngst verstorbenen Jugendfreund Turuns benannt hatte, befehligte solch ein Kampfschiff, was die beiden ziemlich entzweit hatte. Sein anderer Sohn war mit seiner Familie vor zwei Jahren nach Süden aufgebrochen, seither hatte er nichts mehr von ihm erfahren.
Nur seine Tochter Velia, die mit Kaies, dem Sohn seines Freundes Turuns, verheiratet war, war ihm noch geblieben – und natürlich deren Tochter Laria, die sich jetzt so eng an ihn schmiegte.
Es war einsam um ihn geworden, vor allem seit seine geliebte Frau Hetep-ibes vor nunmehr sieben Jahren zu ihrem »einsamen Weg nach Westen« aufgebrochen war, wie der Tod in ihrer Heimat Khemet beschrieben wurde. Doch wenn er so wie jetzt an ihrem Grab lehnte, war es ihm, als ob sie noch immer um ihn wäre, zumal die Züge seiner Tochter ihn immer wieder an sie erinnerten. Velia und Kaies bestellten einen schönen großen Hof in der dörflichen Gemarkung und brauchten sich um ihre Zukunft keine Sorgen mehr zu machen, denn das Dorf mit seinen Ländereien hatte wie die meisten anderen Gemeinwesen in dieser Region die Sturmflut weitgehend unbeschadet überstanden und aufgrund seiner Wehrkraft bislang jeden Angriff marodierender Banden erfolgreich und nachhaltig abwehren können.
Der alte Mann fühlte mit einem Male ein seltsames Frösteln. Er blinzelte in die nun ganz im Mittag stehende Sonne, und wie damals, vor über siebzig Wintern, als er während seiner Initiation jene schicksalhafte Vision auf der heiligen Insel erlebt hatte, schob sich ganz allmählich schemenhaft ein Gesicht – nein, es waren zwei! – vor die gleißende Sonnenscheibe. Dann konnte er sie endlich erkennen: Es war das jugendlich schöne Antlitz seiner Hetep-ibes, die ihm, zusammen mit ihrem ebenfalls verklärten Bruder Imenhotep, unendlich liebevoll zulächelte. »Komm!«, hörte er die beiden sanft in seinem Herzen raunen. »Komm in unseren Garten! Es ist gar nicht weit ...« Und dann löste sich der Schatten eines Falken aus seiner welken Brust, entfaltete seine Schwingen und flog der Sonne entgegen.
»Großvater! Aufwachen, wir wollen nach Hause zum Essen!«, erklang zum dritten Male die Stimme des kleinen Mädchens neben ihm.
»Mutti, Großvater will einfach nicht wach werden!«, wandte sie sich nun Hilfe suchend an die junge Frau.
Diese schreckte kurz hoch und kniete sich für einen Moment sichtlich beunruhigt neben den Greis. Sie fühlte zunächst an seiner Halsschlagader, dann nahm sie das Goldamulett ihres Vaters in die Hand und hielt es mit der flachen Seite gegen seinen Mund. Nachdem sie eine kurze Weile so verharrt hatte, schloss sie für einen Moment die Augen und strich dann ihrer Tochter leicht über das wilde Haar.
»Großvater ist schon heimgegangen, Laria!«, flüsterte sie. »Der große Tarkon ist nun wieder mit seiner Frau und seinen Freunden vereint.«