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Kapitel 4

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In Tar’eses wusste nun auch der Letzte seiner Bewohner, auf welch gewaltiges Abenteuer sich die Rasunna und ihre neuen Verbündeten eingelassen hatten, und seit deren Abreise herrschte in der Stadt euphorische Betriebsamkeit.

Neue Schiffe wurden auf Kiel gelegt, und schwitzende Bronzeschmiede standen seit Tagen ununterbrochen vor ihren glühenden Essen und produzierten in großer Stückzahl Helme und Schwerter, Pfeil- und Lanzenspitzen, da die Nachfrage für diese Gerätschaften sich in den letzten Tagen naturgemäß über das normale Maß hinaus gesteigert hatte.

Die Ältesten der Ter’usu und Pelthtim traten täglich zu Beratungen zusammen, die, von den beiden Mechel geleitet, nicht selten bis tief in die Nacht andauerten.

An diesen Beratungen nahmen auch die Priester der neuen Götter teil, die bei den Rasunna zunehmend zur Verehrung gekommen waren, seit diese ihre ursprüngliche, nordische Heimat verlassen mussten und sich in Tar’eses niedergelassen hatten.

Ihre Vorfahren im Norden hatten ausschließlich zu einem namenlosen Schöpfergeist gebetet, dessen weiblicher Aspekt die die Erde mit Fruchtbarkeit segnende Sonne war, während der kühle Mond seinen männlichen Aspekt symbolisierte.

Doch die enge Nachbarschaft zu den Völkern des Südmeeres hatte mit der Zeit bewirkt, dass sich deren völlig anders gearteten Glaubensvorstellungen mit denen der Rasunna allmählich zu einer neuen Religion verschmolzen hatten.

Ähnlich wie in Khemet wurde die Welt der Rasunna nunmehr von einem Geschlecht von Göttern beherrscht, die direkten Einfluss auf die Geschicke der Sterblichen nahmen.

Viele Gegebenheiten der Natur wie das Meer, die Erde und die Sonne wurden einer Gottheit zugeordnet, der man sich so im persönlichen Gebete zuwenden konnte. Das galt auch für all die bis dahin nicht fassbaren Eigenschaften und Fähigkeiten, die den Menschen seit jeher innewohnten und ihnen halfen, ihr Überleben in der oft feindlich gesonnenen Umwelt zu gewährleisten.

So wurde Turan als die Göttin der Liebe, Tecum als Göttin der Weisheit und Laran als Gott des Krieges verehrt, während die Erde und das Meer das Reich des Gottes Neth waren und die Göttin Cath die Sonne ihre strahlende Bahn ziehen ließ.

Sie alle waren Kinder des strafenden, Blitze schleudernden Göttervaters Tins und seiner Frau Uni, von der die Frauen Fruchtbarkeit erflehten.

Doch über allen schwebte der namenlose Schöpfergeist, der immerwährend mit fügender Hand das allmächtige Schicksal schuf, dem sich sowohl die Menschen als auch die Götter bedingungslos zu unterwerfen hatten.

Den Priestern oblag es, sich ausschließlich um die Sorgen und Nöte der Bevölkerung zu kümmern, und es war ihnen ausdrücklich verwehrt, sich in die Regierungsgeschäfte des Ältestenrates oder gar der beiden Mechel, die ja über die alleinige Entscheidungsgewalt verfügten, einzumischen.

Ungeachtet dessen wurde Kilnies, der Priester des Tins, des Öfteren von Tarkun und Truns aufgesucht, da er nicht nur als besonnen und weise galt, sondern zudem auch noch der Onkel Tarkuns war, der sich aufopfernd um die Erziehung seines Neffen gekümmert hatte, als dieser mit vier Jahren Vater und Mutter während jener verheerenden Seuche verloren hatte, die damals weit über die Hälfte der Einwohner Tar’eses’ hingerafft hatte.

Er war jetzt Tarkuns einziger Verwandter, denn die zwei älteren Brüder, die er gehabt hatte, waren beide erschlagen worden, als sie sich an einem Überfall auf eine Sherdanu-Siedlung beteiligten.

Aufgrund der großen Tragweite der Entschlüsse, die von Tarkun und Truns in diesen Tagen zu fassen waren, hatten sie es durchgesetzt, dass neben Kilnies auch Voltuns, der Priester des Laran, und Avli, die Priesterin der Uni, die für die Frauen und Mütter in Tar’eses sprechen sollte, an den Versammlungen des Ältestenrates teilnehmen durften. Eigentlich hatten sowohl die Ter’usu als auch die Pelthtim jeweils ihren eigenen Rat, aber da dieses Unternehmen das zukünftige Schicksal beider Stämme betraf, hatte man sich darauf geeinigt, aus den Mitgliedern der zwei Gremien einen einzigen, gemeinsamen Ältestenrat zu bilden, was schon deshalb notwendig gewesen war, da Tarkun sein Amt für die Zeit, die er vor Wilusa verbringen würde, an Truns übergeben hatte und somit die Befehlsgewalt über die zwei Stämme nur von einer Person ausgeübt wurde.

Der Ort, an dem sie sich versammelten, war eine einfache, in ihrem Grundriss quadratisch angelegte Halle, deren vier Wände aus rund belassenen Eichenbalken bestanden, die in Blockbauweise etwa drei Männer hoch gezimmert worden waren. Ein zeltartiges, vierflächiges Reetdach, gestützt von fünf mächtigen Holzsäulen, die mit kunstvollen, verschnörkelten Schnitzereien verziert waren, deckte die Halle ab. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm, in den flächendeckend bunte Muschelschalen eingelassen worden waren, die – insgesamt betrachtet – ein großes, aus verschlungenen Mustern gebildetes Mosaik ergaben. Das Gebäude stammte noch aus der Zeit, als sich ihre Vorfahren nach Tar’eses geflüchtet hatten, um sich hier eine neue Heimat zu schaffen, und wies deshalb in seiner Bauweise noch unverfälscht die gleichen, traditionellen Stilelemente auf, wie sie vor Zeiten im Nordland üblich gewesen waren. Vor der gegenüberliegenden Wand des Eingangsportals, das mit zwei aus dicken Bohlen gefertigten Torflügeln versehen war, erhob sich ein dreistufiges, aus blank gehobelten Schiffsplanken zusammengefügtes Podest. Darauf standen mit sich überkreuzenden Beinen zwei schmucklose Holzstühle ohne Lehne, deren lederne Sitzfläche jeweils mit einem roten, goldbetressten Kissen belegt war. Diese Stühle waren traditionsgemäß nur den amtierenden Mechel vorbehalten, die von dort aus den Ratsversammlungen vorsaßen.

Die Ratsmitglieder saßen dabei auf zwei langen, ledergepolsterten Bänken, die in einigem Abstand neben dem Podest vor den beiden Seitenwänden der Halle standen, wobei es mit der Zeit zu einer Gepflogenheit geworden war, dass die Ältesten der Ter’usu die vom Podest aus gesehen linke Bank für sich beanspruchten, die der Pelthtim dagegen die rechte. Direkt vor dem Podest, mit Blickrichtung zu den beiden Mechel, hatte man nun zusätzlich noch drei hochlehnige Sessel hingestellt, welche für die Priester bestimmt waren, die aufgrund dieses für die Zukunft der Rasunna so bedeutsamen Vorhabens zum ersten Mal zu den Beratungen gebeten worden waren.

Es war der Tag vor Tarkuns geplanter Abreise nach Wilusa, und schon in aller Frühe hatte sich der gemeinsame Rat wieder in der Halle eingefunden, um sich jetzt eingehend mit Tarkuns geplanter Überantwortung seiner Befehlsgewalt an Truns zu befassen. Wie immer, wenn es sich um einen offiziellen feierlichen Anlass oder eben um eine solch wichtige und in ihrer Tragweite für das Volk so folgenschwere Entscheidung handelte, waren alle Ratsmitglieder in der dazu vorgesehenen Amtstracht erschienen.

Diese Tracht bestand aus einem kurzärmeligen, weit geschnittenen Hemd, welches unterhalb des Halsansatzes zwei in Gold gefasste Bernsteinknöpfe aufwies, sowie einem bis zur Mitte der Oberschenkel reichenden Rock, welcher von einem schmalen, vergoldeten Ledergürtel um die Taille gehalten wurde. Die beiden Kleidungsstücke waren aus einem besonders feinen, blutrot gefärbten Wollstoff gewebt worden, der zudem an den breiten Säumen mit üppigen Goldstickereien verziert war. Darüber wurde ein ovaler, mantelähnlicher Überwurf aus schwerer, blütenweißer Wolle getragen, der über den Schultern gerafft, im losen Rund über Brust und Rücken bis knapp zu den Knien fiel und gleichfalls mit handbreiten, erhaben aufgenähten Ornamenten aus Goldfäden umsäumt war.

Truns und Tarkun waren ähnlich bekleidet, mit dem Unterschied, dass auch der Überwurf rot eingefärbt war. Einem uralten Brauch folgend, hatten sie außerdem noch ihre Gesichter mit roter Farbe bemalt, was versinnbildlichen sollte, dass ihre individuelle Persönlichkeit, die sich unter dieser Maske verbarg, gänzlich ausgelöscht blieb, solange sie ihr Amt ausübten und über die Belange ihres Volkes zu befinden und letztlich zu entscheiden hatten.

Es war schon später Vormittag, als die Ratsversammlung schließlich die Amtsübergabe Tarkuns an Truns einhellig billigte. Tarkun hatte aufgrund der Tatsache, dass seine Entscheidung ja einen nicht unerheblichen Einfluss auf die zukünftigen Geschicke seines Stammes hatte, seinem Ältestenrat ausnahmsweise anheim gestellt, darüber abzustimmen und gegebenenfalls einen neuen Mechel zu wählen, würde die Mehrheit sein Vorhaben ablehnen. Er selbst hatte nämlich keine Wahl mehr, denn er stand bei Ajas im Wort, und dieses einzulösen war für ihn eine persönliche Ehrenpflicht. Doch trotz einiger durchaus zu Recht vorgebrachter Einwände und Bedenken, auch von Seiten der Pelthtim, hatte ihm der Rat letztendlich sein Vertrauen ausgesprochen und Truns für die Zeit, in der Tarkun abwesend sein würde, als alleinigen Oberbefehlshaber bestätigt.

Nachdem dieser Punkt somit zur allgemeinen Zufriedenheit geklärt worden war, ging man nun eilig daran, sich mit all den bislang noch nicht zur Sprache gekommenen Problemen und Details zu befassen, die für die Planung und Ausführung des Feldzuges gegen Khemet von grundsätzlicher Bedeutung waren und die deshalb in jedem Fall von Tarkun, solange dieser noch in Tar’eses weilte, mit entschieden werden mussten. Dieser war nämlich nicht davon abzubringen, sich am nächsten Morgen mit der ersten Flut einzuschiffen und sich mit einer auserwählten Schar Freiwilliger, die sich sowohl aus den Reihen der Ter’usu als auch der Pelthtim voller Enthusiasmus dazu gemeldet hatten, auf den Weg nach Wilusa zu machen. Mit ihnen sollten auch Ajas und seine Gefolgsleute fahren, die schon ungeduldig darauf harrten, vor Wilusa wieder zu den ihren zu stoßen und der verhassten Stadt endlich den von ihnen so lang ersehnten Garaus machen zu können.

Gleich zu Beginn ergriff der greise Calisnies das Wort, um stellvertretend für alle Ratsmitglieder eine Frage an Truns und Tarkun zu stellen, die den Ältesten der beiden Stämme schon seit Bekanntgabe des kühnen Unternehmens sorgenvoll auf der Seele lag. Calisnies, der dem Rat der Ter’usu angehörte, hatte schon mehr als achtzig Sommer gesehen und alle Rasunna zollten, ihm ehrfurchtsvollen Respekt, da er in seiner Erfahrenheit und seinem unbestechlichen Wesen stets Gutes für sein Volk bewirkt hatte. Nur selten ließ er seine Stimme im Rat vernehmen, doch wenn er sich zu einer Sache äußerte, dann hörten alle aufmerksam zu, denn wie kein anderer vermochte er den Dingen auf den Grund zu gehen, und seine scharfsinnige Urteilskraft war Legende.

Auch Tarkun und Truns, die doch wie ihre Vorgänger durch ihr Amt mit der absoluten Befehlsgewalt über ihre Stämme ausgestattet worden waren, begegneten dem alten Mann mit großer Achtung und hatten bisher seinen Empfehlungen, die er rückhaltlos und ohne jede Scheu vorzutragen pflegte, immer anstandslos Folge geleistet.

»Ich möchte die Mechel der Rasunna zunächst im Namen aller hier Anwesenden zu ihrem weisen Entschluss, mit unseren ehemaligen Feinden Frieden zu schließen, noch einmal aufrichtig beglückwünschen!«, begann er mit seiner durch das hohe Alter bedingten zittrigen Stimme. »Es ist wahrlich an der Zeit gewesen, dem unseligen und seit Generationen anhaltenden, gegenseitigen Blutvergießen ein Ende zu bereiten. Obwohl unser Volk in der Vergangenheit eigentlich stets gute und in gewisser Weise sehr fruchtbare Beziehungen zu Khemet unterhalten hat, findet der Plan, sich an einem Kriegszug gegen dieses satte, reiche Land zu beteiligen und es um einige seiner überreichlich vorhandenen Schätze zu erleichtern, dennoch meine Zustimmung, wenn auch nur bedingt, wie ich im Weiteren noch erläutern werde. Was allerdings die wahren Intentionen und die Bündnistreue der Chatti anbetrifft, so habe ich da zwar noch meine Bedenken, doch wenn sie uns wirklich, wie es Arsili versprochen hat, ein günstig an der Küste gelegenes Stück ihres Landes für einen Hafen übereignen sollten, dann würden sie ihre lauteren Absichten beweisen und uns dazu die Gelegenheit geben, von dort aus endlich wieder friedlichen Handel mit all den wohlhabenden Völkern zu treiben, die in den östlichen Ländern beheimatet sind. Nach der Vertreibung unserer Väter von den mit Fruchtbarkeit gesegneten Äckern des Nordlandes hat uns das Schicksal auf die kargen Böden um Tar’eses verbannt, und mit der Zeit haben wir es verlernt, Händler zu sein, so wie es einst unsere Vorfahren waren. Hier gibt es keinen Bernstein oder andere Bodenschätze, die wir hätten ausbeuten können, um damit zu handeln. Um zu überleben, haben wir, die Nachfahren eines einst in seinem Wohlstand blühenden Volkes von Bauern, Fischern und Kaufleuten, damit begonnen, stattdessen das blutige und würdelose Handwerk der Seeräuberei auszuüben. Wir haben unentwegt die Küsten unserer ebenso darbenden Nachbarn, wie etwa den Sheklu und Sherdanu, heimgesucht, um ihnen ihre mageren Erträge an Früchten und Getreide zu stehlen und ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei zu verschleppen. Wir haben ihre Schiffe auf offener See gekapert und ihnen ihr gleichfalls durch Piraterie gewonnenes Beutegut abgejagt.«

Er hielt einen Moment inne, schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, da ihn die lange Rede, die er bis dahin mit zunehmender Verve geführt hatte, sichtlich angestrengt hatte.

Keiner der Anwesenden wagte einen Laut von sich zu geben, sondern ein jeder, einschließlich der beiden Mechel, deren etwaige mimische Gefühlsregungen unter ihrer maskenhaft starren Gesichtsfärbung verborgen blieben, hielt seine Blicke wie gebannt auf die Lippen des Greises geheftet und fieberte mit kaum verhohlener Spannung dessen nächsten Worten entgegen.

Doch dann entspannten sich die asketisch gefurchten Züge seines von der Sonne tiefbraun gegerbten und von schlohweißen Haaren umflorten Gesichtes. Calisnies öffnete seine Lider und sah Truns und Tarkun geradewegs in deren halb geschlossene Augen.

»Das hat nun glücklicherweise ein Ende!«, setzte er dann, wieder ruhiger und wie zu sich selbst sprechend, seine Ausführungen fort. »Was aber nun den Krieg gegen Khemet angeht«, und dabei erhielt seine Stimme einen scharfen, warnenden Unterton, »einem Land, das uns, und ich wiederhole es, in der Vergangenheit nie feindlich gesonnen war, so befürworte ich ihn auch nur deshalb, weil er mir im Moment als die einzig gangbare Möglichkeit erscheint, dass die Rasunna, sollten sie mit Hilfe der Götter wirklich den Sieg davontragen, wieder zu der achtbaren Lebensweise unserer Ahnen zurückfinden. Wir würden wieder fruchtbares Acker- und Weideland besitzen, mit dem wir und die uns nachfolgenden Generationen dauerhaft Nahrungsmittel erwirtschaften könnten, und die dort vorkommenden Bodenschätze, wie Gold, Edelsteine und andere wertvolle Materialien, würden uns einen ertragreichen Handel bescheren.

Soweit ich weiß, bin ich der Einzige unseres Volkes, der jemals in Khemet gewesen ist, und so sage ich euch, dass dieser Krieg gewiss kein Honigschlecken wird. Dieses Land wird zwar, wie ich unlängst gehört habe, seit einiger Zeit von einer schweren Regierungskrise erschüttert, aber nichtsdestoweniger verfügt es über kampfstarke, im Landkampf geschulte Armeeeinheiten, welche uns zweifellos erbitterten Widerstand leisten werden. Wir werden uns in einem fremden Land behaupten müssen, wohingegen sie ihre Heimat verteidigen. Arsili wollte euch glauben machen, dass Khemet den Zenit seiner Macht längst überschritten hat und nun – im Schatten seiner einstigen Größe – von Dekadenz zerfressen in Agonie dahindämmert. Ich für meinen Teil teile diese gefährliche Ansicht nicht, denn sie verführt dazu, den Gegner leichtfertig zu unterschätzen.

Und aus diesem Grunde frage ich die ehrenwerten Mechel der Rasunna, ob sie unter diesen Voraussetzungen tatsächlich gewillt sind, Tar’eses gänzlich aufzugeben, wie es ihre in den letzten Tagen vorgebrachten Äußerungen vermuten lassen, und unser Volk einer solch ungewissen Zukunft preiszugeben?«

Seine Worte waren verklungen, doch alle, die sie gehört hatten, verharrten danach noch eine geraume Zeit in einem, die Halle lähmend ausfüllenden, betretenen Schweigen. Schließlich erhob sich Tarkun von seinem Sitz, stieg von dem Podest herunter und stellte sich direkt vor die drei Priester.

»Schließen sich die Vertreter der Götter der Meinung des verehrten Calisnies an?«, fragte er sanft, wobei er seinen Blick insbesondere auf Kilnies ruhen ließ.

»Nein, durchaus nicht!«, rief Voltuns mit schneidender Stimme, während er von seinem Sessel aufsprang.

»Es ist besser, alles zurückzulassen und zu verbrennen, was uns an die Zeit erinnert, in der unser Volk in Tar’eses sein trauriges Dasein fristen musste. Denn in einem pflichte ich der Ansicht Calisnies bei, dass wir nämlich viel zu lange nichts anderes als gemeine Räuber gewesen waren, die eine Schmutz starrende Stadt ihr Zuhause nannten. Nun aber werden wir Krieger sein, die ausziehen, um sich in ruhmvollen Kämpfen ein ganzes Reich zu erobern, in welchem unser Volk ohne Sorgen und in Wohlstand leben kann.«

Voltuns war im gleichen Alter wie Truns und Tarkun und von athletischer Statur. Sein kurzes, welliges hellblondes Haar bildete einen augenfälligen Kontrast zu seiner an Kupfer erinnernden Hautfarbe und den hellgrünen Augen, die aus seinem hübschen, glatt rasierten Antlitz leuchteten.

Aufgrund seines ästhetischen Äußeren und seiner jungenhaften Art flogen ihm die Herzen der Frauen zu, was Voltuns auch weidlich auszunutzen verstand, ihm aber verständlicherweise unter den Männern der Rasunna, die oft lange auf See bleiben mussten, nur wenig Freunde bescherte.

Seine eifernden Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt, denn fast alle Ratsmitglieder begannen daraufhin beifällig zu klatschen, sodass sich Tarkun irgendwann genötigt sah, den immer lauter werdenden Beifallsäußerungen mit einer herrischen Geste Einhalt zu gebieten, um sich selbst Gehör zu verschaffen.

»Dein Mangel an Ehrfurcht vor einem in der Weisheit des Alters ergrauten Haupt, den du gerade so offenkundig bewiesen hast, macht es notwendig, dass ich dir Folgendes erwidere:

Solltest du es in diesem Hause noch einmal wagen, deine vorlaute Stimme vor einem Älteren zu erheben, bist du die längste Zeit Priester gewesen und kannst dich ganz deinen üblen Weibergeschichten zuwenden!«, herrschte Tarkun ihn aufgebracht an, worauf sich Voltuns, der während dieser demütigenden Zurechtweisung zunehmend bleicher geworden war, wortlos auf seinen Platz begab.

Im Grunde stimmte Tarkun zwar mit der Meinung des Laranpriesters überein, aber er konnte und wollte dessen peinliche Respektlosigkeit in keinem Falle hinnehmen, zumal er schon immer eine herzliche Aversion gegen Voltuns hegte. Tarkun wandte sich nun an Kilnies und Avli, die dieser Szene nicht ohne Häme beigewohnt hatten.

»Nachdem wir gerade die laute Lure des Laran vernommen haben, mögen nun auch Uni und Tins zu Wort kommen«, forderte er Avli und Kilnies auf, ihre Ansichten vorzutragen.

Die beiden schauten sich kurz an, worauf sich als Erstes Avli erhob, nachdem Kilnies ihr mit einem leichten Kopfnicken den Vortritt gelassen hatte. Die Priesterin der Uni war zwar schon Ende vierzig, doch ihre zierliche, schlanke Figur wies immer noch reizvolle weibliche Proportionen auf, welche unter ihrem langen, mit einer scheibenförmigen Bronzeschließe versehenen breiten Gürtel, bis zu den Knöcheln lose fallenden, weißen Leinenkleid auf sehr erotische Weise zur Geltung kamen. Jugendlich straffe, nur leicht gebräunte Haut spannte sich über die fein geschnittenen Züge ihres ovalen Gesichtes. Oberhalb des Grübchens ihres gerundeten Kinns spielte ein herzförmiges volles Lippenpaar unter der kleinen, keck aufgeworfenen Nase. Tiefblau schimmernde Augen und ihr nackenlanges, sorgfältig um den Kopf frisiertes graublondes Haar vollendeten die Erscheinung dieser schönen Dienerin der Uni.

»Ich stehe hier für die Frauen der Rasunna«, begann sie mit ihrem angenehmen, warmen Alt zu sprechen, »Frauen, die unter Schmerzen Kinder gebären, um sie hernach mit aufopfernder Liebe großzuziehen. Auch kümmern sie sich darum, dass das Feuer in den Herden nicht ausgeht und somit genügend Essen auf den Tisch kommt. Die meisten von ihnen müssen dies alles allein auf sich gestellt tun, da ihre Männer zur See fahren und bisweilen von dort auch nicht mehr zurückkommen. Es sind die Frauen, denen es obliegt, ein behagliches Heim zu schaffen, damit alle, die darin wohnen, sich wohl fühlen können.

Das Leben, das wir bisher in Tar’eses geführt haben, war nie einfach, aber wir hatten wenigstens ein Zuhause, auch wenn es dem einen oder anderen schmutzstarrend vorkommt. Die Aussicht auf bessere Lebensbedingungen in einer neuen Heimat mag vielen deshalb reizvoll und erstrebenswert erscheinen, setzt aber zwei Dinge voraus, die mit viel Leid und Entbehrungen verbunden sind. Wir müssten uns zum einen von all dem trennen, was unsere Vorfahren nach ihrer langen Wanderung aus dem Norden hier mühselig geschaffen haben, zum anderen werden in dem vor uns liegenden Krieg viele unserer Männer sterben und ihre Frauen zu Witwen und die Kinder zu Waisen machen. Und wenn wir diesen Krieg auch noch verlieren sollten, würden diese Frauen und Kinder das Joch der Sklaverei zu erdulden haben. Dazu kommt die lange Überfahrt nach Khemet! Wie viele von uns werden wohl den Tod in den Fluten finden, wenn ein Sturm unsere Schiffe zerschmettert und auf den Grund des Meeres reißt? Nein, ich kann es nicht gutheißen, dass unser ganzes Volk sich an einem Unternehmen beteiligt, dessen Ausgang mir mehr als fragwürdig erscheint! Mehr habe ich nicht zu sagen!«

Damit setzte sie sich wieder hin, wobei sie ihren Blick provokativ auf die beiden Mechel geheftet ließ, die sich ihrerseits nur kurz ansahen und das soeben Gehörte mit einem Stirnrunzeln und einem kurzen Schulterzucken quittierten.

Jetzt war es an Kilnies, seine Meinung zu äußern. Dieser machte jedoch keine Anstalten, von seinem bequemen Sessel aufzustehen, sondern zog es offenbar vor, seine Sichtweise im Sitzen darzulegen.

Kilnies hatte vor einigen Tagen seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Er war ein stiernackiger, groß und schwer gebauter Mann, dessen unübersehbare Leibesfülle beredtes Zeugnis dafür gab, dass er dem guten Essen und Trinken nicht abhold war. Seine kleinen, listig funkelnden Augen über den schweren Tränensäcken verschwanden fast gänzlich zwischen den Fettpolstern seines aufgedunsenen, breitflächigen und stoppelbärtigen Gesichtes. Eine fleischige, vom reichlichen Weingenuss rot und blau geäderte Nase reckte sich kühn über seine wulstigen, breiten Lippen, die in ihrer Form dem Betrachter den Eindruck vermitteln konnten, dass Kilnies immerwährend selbstzufrieden zu lächeln schien. Dies und die spärlichen eisgrauen Haarbüschel, die seine schweißglänzende Glatze von den Schläfen über den feisten Hinterkopf herum wirr umrankten, verführte natürlich dazu, dass die Leute ihren gutmütigen Spott mit ihm trieben und ihn liebevoll das »Weinfass des Tin’s« zu nennen pflegten, was aber nicht darüber hinwegtäuschte, dass er sich aufgrund seiner Weisheit und der selbstlosen Hingabe, mit der er sich ständig seiner in Not geratenen Mitmenschen annahm, größter Beliebtheit erfreute.

Gekleidet war er in einer bis zu den Knöcheln reichenden weißen Leinenrobe, über welcher er einen himmelblauen Überwurf aus demselben Material trug und der in seinem Schnitt dem Kleidungsstück ähnelte, welches den Ratsmitgliedern heute um die Schultern lag.

»Ich habe dem, was Avli gesagt hat, nichts Wesentliches hinzuzufügen!«, ließ er seine dröhnende Bassstimme ertönen, »außer, dass ich persönlich das ganze Unterfangen, Khemet erobern zu wollen, für ein absurdes Abenteuer halte! Wenn es nämlich wirklich nur darum geht, sich einen neuen, besseren Lebensraum zu erschließen, warum suchen wir ihn uns dann nicht in einer Gegend an den Küsten dieses großen Südmeeres, die uns näher gelegen ist und die nicht oder nur wenig besiedelt ist? Khemet hat eine alte, großartige Kultur, die der unseren weitaus überlegen ist. Habt ihr vergessen, dass es selbst den kriegserfahrenen Chatti bis zu diesem Tage nicht gelungen ist, jenes mächtige Reich in die Knie zu zwingen? Weshalb, so frage ich, brauchen sie da noch unsere Hilfe? Um was zu tun? Selbst wenn in Khemet jetzt Dekadenz und Verfall Einzug gehalten haben, wie es Arsili so wortreich geschildert hat, warum nützen sie nicht einfach die Gunst der Stunde und erledigen die Angelegenheit allein? Im Vergleich zu den wohl gerüsteten Streitkräften der Chatti, wie übrigens auch der Khemets, nehmen wir uns, und damit meine ich auch unsere neuen Verbündeten, doch eher wie Strauchdiebe aus. Und sollte es diesen Strauchdieben durch eine Laune des Schicksals beschieden sein – ich weiß nicht, was morgen für ein Tag ist – die Heere des Per-hau zu besiegen, dann heißt das noch lange nicht, dass wir dieses Land erobert haben, geschweige denn besiedeln oder ausbeuten können! Die Bevölkerung Khemets würde sich auf kurz oder lang gegen die Fremden, die ihren geheiligten Boden mit dem Blut ihrer Landsleute besudelt haben, einhellig erheben und uns in endlosen Kleinkriegen derart zermürben, bis wir freiwillig das Land verlassen!

Und dann? Zurück in das verbrannte Tar’eses? Oder gar zu den Chatti, die uns in diesem Falle, da bin ich mir ganz sicher, ebenfalls die Tür weisen werden? Nein, wir würden gleich unseren Ahnen wieder heimat- und hoffnungslos auf dem Meere herumirren, bis diejenigen, die das überlebt haben, vielleicht an ein Stückchen Land gespült werden, wo sie sich verkriechen können. Lasst die Sänger der Pelthtim kommen, sie werden euch ein Lied dazu singen. Tarkun soll meinethalben nach Wilusa fahren und lernen, wie man geordnet zu Lande kämpft und eine Stadt erobert. Das mag ja noch nützlich sein für den Fall, dass, wenn wir Kunde von einem nicht so entlegenen und unseren Ansprüchen genügenden Gebiet erhielten, wir in der Lage wären, dieses in Besitz zu nehmen und den etwaigen Widerstand seiner Einwohner erfolgreich zu brechen. Mir ist nämlich nicht bekannt, dass es außer den Chatti, Khemet und möglicherweise auch den Tjekern, kein Volk gibt, mit dem wir es nicht aufnehmen könnten. Entsendet von mir aus auch eine Flotte mit all jenen Männern, die abenteuerlustig und beutegierig genug sind, den Waffengang mit Khemet zu wagen, um damit eurer Bündnisverpflichtung nachzukommen, aber gebt um Tins’ willen auf keinen Fall Tar’eses auf!«

Nach dieser langen Rede, die ihn sichtlich erschöpft hatte, lehnte er sich zurück, schloss die Augen und verschränkte die Hände auf seinem dicken Bauch.

Für einen Moment herrschte absolute Stille in der Halle, doch dann schnellten die Emotionen in die Höhe, und die Ratsmitglieder machten ihren gegensätzlichen Meinungen lautstark Luft. Eine Weile ließen die beiden Mechel sie gewähren, doch dann stand Truns ostentativ von seinem Sitz auf und streckte, Ruhe heischend, die Arme über dem Kopf aus. Augenblicklich klang der tumultartige Lärm in der, Halle ab, und alle Blicke ruhten erwartungsvoll auf Truns und Tarkun, der seinen Platz auf dem Podest inzwischen wieder eingenommen hatte.

»Die Mechel der Rasunna werden sich jetzt zur Entscheidungsfindung zurückziehen!«, verkündete Truns nur lapidar und verließ gemeinsam mit Tarkun die Halle.

Vor der Halle hatte sich nahezu die gesamte Einwohnerschaft Tar’eses’ versammelt, die dem Ausgang der Beratungen mit bebender Spannung entgegenfieberte und die jetzt vor den Mechel achtungsvoll schweigend auseinander wich, um ihnen eine Gasse zu bilden, durch die sie ungehindert ihren Weg zu dem Ort ihres Gedankenaustauschs fortsetzen konnten.

Die beiden gingen zu Tarkuns Haus, wo sie sich um einen kleinen runden Tisch im Lichthof niederließen und sich zunächst gierig über die eilig herbeigebrachten gebratenen Hühnerschenkel und den kühlen Wein, der ihnen dazu gereicht wurde, hermachten.

Nachdem sie so ihren ersten Heißhunger gestillt hatten, lehnten sie sich entspannt zurück und sahen sich schmunzelnd an.

»Na, was denkst du?«, fragte Truns aufgeräumt. »Ich finde, Kilnies hat vollkommen Recht!«

»Das sehe ich auch so!«, erwiderte Tarkun. »Trotzdem werden wir nicht umhin kommen, einen großen Teil unserer Handwerker samt ihren Familien mit zu den Chatti zu schicken, damit sie dort den Stützpunkt für unsere Kämpfer aufbauen und bewirtschaften können. Im Übrigen aber bin ich auch der Meinung, Tar’eses nicht aufzugeben und das Leben hier weitgehend ungestört seinen gewohnten Lauf nehmen zu lassen.«

»Dann sind wir uns ja einig, mein Freund!«, sagte Truns lachend und erhob seinen Becher. »Auf die Strauchdiebe der Rasunna, die es wagen werden, den Riesen am Hapi in den Arsch zu kneifen!«

Sie leerten ihre Gefäße und machten sich wohl gelaunt wieder auf den Weg zurück zur Ratshalle.

Dort angelangt, stellten sie sich vor ihren Sitzen auf, worauf sich alle, einschließlich der Priester, von ihren Plätzen erhoben, um den Schiedsspruch ihrer Mechel entgegenzunehmen.

»Die Mechel rasunnal haben wie folgt beschlossen und für gut befunden«, leitete Tarkun mit heller, getragener Stimme nach althergebrachter Tradition die Bekanntgabe ihrer Übereinkunft ein.

»Die Rasunna werden sich an dem Feldzug gegen Khemet mit einem Aufgebot ihrer besten Krieger beteiligen«, führte Truns weiter aus. »Zu ihrer Unterstützung werden sie von Handwerkern aller Zünfte begleitet, die die Aufgabe haben, den uns zugewiesenen Stützpunkt im Lande der Chatti so auszubauen, dass all denen, die sich noch entschließen werden, Tar’eses zu verlassen, um sich dort mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft niederzulassen, eine neue Heimstatt geboten werden kann. Tar’eses selbst wird nicht aufgegeben, damit es uns im Falle einer Niederlage als sichere Zufluchtsstätte erhalten bleibt. Da sowohl Tarkun als auch ich die Absicht haben, unsere Streitmacht im Krieg gegen Khemet persönlich anzuführen, legen wir die Regentschaft über Tar’eses vertrauensvoll in die Hände Calisnies’ und Kilnies’, die damit auch ermächtigt sind, im Falle unseres Todes zwei neue Mechel für die Wahl zu bestimmen.

So ist es beschlossen, so wird es geschrieben!«

»Ach, da wäre doch noch etwas!«, entfuhr es Tarkun. »Voltuns wird uns selbstverständlich auf unseren Feldzügen begleiten, um unseren Kriegern im Kampf beizustehen und ihnen als leuchtendes Vorbild voranzuschreiten.«

Während der Laranpriester nach diesen Worten erneut blass wurde, brachen die Übrigen, nun befreit, in beifälliges Gelächter aus.

Es war später Nachmittag geworden, und da seine Anwesenheit nun nicht mehr vonnöten war, verließ Tarkun die Versammlung und suchte wieder sein Haus auf, um sich von dort, nachdem er sich umgezogen und gewaschen hatte, auf den Weg zum Hafen zu machen, wo er von seinen Leuten, die ihm nach Wilusa folgen sollten, bereits erwartet wurde. Die Schiffe lagen vertäut am Pier, und es gab noch viel zu tun, bis am nächsten Morgen in aller Frühe die Flut einsetzen würde.

Die Nomaden der Meere

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