Читать книгу Wie die Swissair die UBS rettete - Bernhard Weissberg - Страница 11
Der Mann mit der Mappe
ОглавлениеDer Mann am anderen Ende der Telefonleitung an diesem 9. März 2001 weiss nicht, ob er sich freuen oder fürchten soll. Eben hat ihm Eric Honegger, der Verwaltungsratspräsident der Swissair, aus Zürich mitgeteilt, dass er zurücktreten werde, wie im Übrigen alle anderen Mitglieder des Gremiums auch; und zwar in zwei Etappen, während der nächsten zwölf Monate. «Da bleibe ja nur ich», entfährt es Mario Corti im fernen Boston. Der Finanzchef von Nestlé liegt absolut richtig!
Das Milliardenunternehmen hat turbulente Monate hinter sich, als sich Honegger bei Corti meldet. Nach dem Rauswurf von Bruggisser ist der neue «starke Mann» Eric Honegger, ein studierter Historiker, viel zu schwach, um den Umschwung einzuleiten. Er holt zwar Suter, handelt aber hinter dessen Rücken – meistens nicht zugunsten der Firma, sondern um politische Turbulenzen zu vermeiden. Er zeigt sich deshalb kulant bei den ausländischen Partnern. Honegger ist immer noch mehr Politiker als Manager oder gar Unternehmer. Die Hunter-Strategie ist nun definitiv vom Tisch, obwohl Swissair-Spezialist René Lüchinger eindringlich betont: «Die Hunter-Strategie war nicht abwegig. Sie hätte gelingen können. Aber äussere Faktoren und der intern bröckelnde Sukkurs haben sie scheitern lassen.» Am Hauptsitz, dem Balsberg bei Kloten, herrscht mittlerweile das nackte Chaos. Nach dem Abgang Bruggissers ist niemand da, der die Fäden wirklich zusammenhalten kann. Die NZZ wird im März monieren, dass seit der Absetzung Bruggissers «wenig bis gar nichts getan worden» sei, um die Verlustlöcher zu stopfen, sodass «die ungefreuten ‹Töchter› die ‹Mutter› unweigerlich in die Tiefe zu reissen drohen». Honegger versucht, sich in dieser turbulenten Zeit als ruhiger Pilot zu positionieren, der das Unternehmen aufräumen will, doch seine Chefqualitäten werden vom ersten Tag an infrage gestellt. Im Februar bestätigt er in einem Interview, dass der Druck gross sei. Er habe diesen Job ja nicht gesucht, aber es gehöre in einer solchen Situation dazu, dass der Verwaltungsratspräsident solche Aufgaben übernehme. Und an Rücktritt denke er nicht: «Ich werfe […] nicht den Bettel hin, sobald Gegenwind aufkommt.» Er sei aber eingebettet in der Geschäftsleitung, zum Beispiel mit Airline-Gründer und -Spezialist Moritz Suter. Doch Suter demissioniert nach 44 Tagen, womit Honegger seine Trumpfkarte verliert, auch gegenüber dem Verwaltungsrat. Das Gremium ist besorgt – sehr besorgt. Nicht nur um die Swissair. Auch um den eigenen Ruf. Wie gerne wären sie nicht mehr in der Verantwortung.
Am 9. März orientiert Honegger also Mario Corti, dass ausser Corti alle Verwaltungsratsmitglieder zurücktreten werden, gestaffelt über zwölf Monate immerhin, aber trotzdem: Es bleibt keiner übrig – ausser Corti. Und der sitzt erst seit elf Monaten in diesem Gremium! Den Verwaltungsrat sofort verlassen werden etwa der Chef des Comptoir Suisse in Lausanne, Paul-Antoine Hoefliger, der Zementbaron Thomas Schmidheiny und die FDP-Vorzeigefrau Vreni Spoerry. Nach Plan ein Jahr später werden Privatbankier Bénédict Hentsch, CS-Chef Lukas Mühlemann und der Roche- und Economiesuisse-Mann Andres Leuenberger zurücktreten. Oder anders gesagt: Die Schweiz AG flieht aus dem Führungsgremium der Swissair! Offiziell werden die Abgänge als «Übernahme der Verantwortung» schöngefärbt. Der SonntagsBlick kommentiert die Abgangswelle so: «Das freisinnige Zürcher System hat die Swissair in ihre schwerste Krise geführt. Sie steht am Abgrund. Weil die Herkunft wichtiger war als Können.»
Honegger versucht derweil verzweifelt, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Der Plan ist, dass Corti von ihm übernimmt – in einem Jahr. Der NZZ erklärt er seinen Plan am 11. März 2001 folgendermassen: Man wolle nicht ein Vakuum entstehen lassen, das sei nicht dienlich. Der Verwaltungsrat habe die Verantwortung, eine neue Strategie zu erarbeiten und die Gruppe neu zu positionieren: «Deshalb wollen wir uns der Verantwortung stellen.» Honegger gibt im Gespräch mit der Zeitung zu, dass die Probleme grösser seien, als der Verwaltungsrat noch bis im Vorjahr gedacht habe. Auch wenn er selbst seit 1993 dabei gewesen sei, als einfaches Mitglied habe man einen weniger tiefen Einblick als als Verwaltungsratspräsident. Er habe mit dem Amtsantritt als Vorsitzender des Gremiums im Frühling 2000 «einen völlig anderen Einblick in die Unterlagen erhalten» und habe gewusst, «dass es so nicht weitergehen» könne und er «rasch durchgreifen» müsse. Den Verwaltungsräten dämmert nach den harschen öffentlichen Reaktionen auf die Rücktrittswelle, dass diese Notmassnahmen noch immer nicht ausreichen. Als ihr Präsident sich dann schliesslich in diesem NZZ-Interview – einer Zeitung notabene, deren Verwaltungsratspräsident Honegger ist – reinwaschen will, endet die Solidarität. Zudem gibt es intern massiven Druck. Das Swissair-Personal fordert den Kopf Honeggers: Der «Big Boss» habe zu wenig Ahnung vom Fluggeschäft, und ein Rücktritt in zwölf Monaten sei keine vertrauensbildende Massnahme. Honegger wird deshalb, keine Woche nach den Durchhalteparolen, «abgesetzt», wie selbst die Honegger-nahe NZZ feststellen muss. Und das komme eigentlich nicht überraschend, weiss das Blatt jetzt sogar zu berichten. Honegger wird Anfang Mai 2001 seinen Rücktritt auch als Verwaltungsratspräsident der NZZ bekannt geben; ihm schien offenbar «in letzter Zeit die Kontrolle zu entgleiten», so die Zeitung.
Damit gab die NZZ Eric Honegger zum Abschuss frei. Der Sohn eines Bundesrats, ehemaliger Zürcher Regierungsrat, Verwaltungsrat der UBS, Verwaltungsratspräsident der NZZ, wird von der Schweiz AG angewidert ausgespuckt wie ein Stück verdorbener Apfel. Er verliert innerhalb kürzester Zeit alle Ämter und wird später sein Glück fern der Heimat suchen und finden – als Hotelier in Österreich. Derweil wird Mitte März offiziell bekannt gegeben, dass Mario Corti das Präsidentenamt per sofort übernehme und zugleich Delegierter des Verwaltungsrats sei, also das Tagesgeschäft der Airline leite. Der Mann mit der markanten Haartolle tritt die anspruchsvolle Aufgabe an, die in Turbulenzen geratene Airline wieder in eine ruhige Fluglage zu bringen. Er lässt sich den Wechsel vom bequemen Sessel des Chief Financial Officer bei Nestlé in Vevey auf den mittlerweile riskant gewordenen Kapitänsstuhl in Kloten-Balsberg gut bezahlen: Das Salär über fünf Jahre sei im Voraus abzusichern, verlangt der zum Retter bestimmte Finanzfachmann.
Die Lage der Swissair sieht nicht erfreulich aus – euphemistisch ausgedrückt. Die Grossbank UBS, drei Jahre zuvor aus dem Zusammenschluss der Zürcher Bankgesellschaft und des Basler Bankvereins entstanden, hielt schon am 10. März 2001 in einem internen Memorandum fest, dass die Verschuldung der Swissair den Unternehmenswert um eine bis drei Milliarden Franken übersteige und damit auf keinen Fall neue Kredite gewährt werden dürften. Eigentlich wollten die Banker ihre Analyse dem «alten» Chef Honegger präsentieren. Aber die Sitzung wurde aus den eben geschilderten Gründen abgesagt. Der «neue» Chef lässt sich derweil feiern. Corti sei als Finanzchef von Nestlé in einer komfortablen Position gewesen, «wie man von ihm jederzeit hören konnte», so die NZZ, die den neuen Swissair-Kapitän in doppelter Funktion als Präsident und CEO über den grünen Klee lobt. Ein «Mann des Vertrauens» sei Corti, er habe einen vielfältigen Lebenslauf mit Stationen in Privatwirtschaft (Aluminium, Nestlé) und Verwaltung (Nationalbank, Bundesamt für Aussenwirtschaft). Bei Corti komme zudem «eine äusserst weitgreifende Vernetzung in der Schweiz» dazu, und er sei international breit verbunden. Nicht schaden dürfte auch, dass Corti Anfang der 1990er-Jahre mit einer Cessna einen Flug um die Erde unternommen habe; das erlaube ihm, das Fliegerlatein zu verstehen. Und schliesslich sei der neue Chef der Swissair – so die NZZ – ein begabter Rhetoriker und «Witze-Erzähler»!7
Vorerst hat Corti aber nichts zu lachen. Die Lage ist mehr als ernst, wie die Zahlen der UBS zeigen. Die von Baslern dominierte Bank ist denn auch nicht mehr bereit, Kredite zu sprechen. Trotz dieser schwierigen Situation will der neue Chef Corti sich nicht von einzelnen lukrativen Nebengeschäften des Flugbetriebs trennen. Schliesslich verfügt er dank der Credit Suisse mit Lukas Mühlemann, der Deutschen Bank unter der Leitung des Schweizers Josef Ackermann und der Citibank über eine Kreditlinie von einer Milliarde Schweizer Franken. Corti glaubt, dass er Zeit habe: Fünf Jahre werde es dauern, um die Swissair wieder auf den Erfolgspfad zu bringen, sagt er öffentlich. Von Sparen ist nicht die Rede, im Gegenteil, der Service an Bord und auch der Sitzkomfort müssten besser werden. Über den Verkauf von Beteiligungen, den Honegger noch im Februar angedeutet hat, will man lediglich «nachdenken» – mehr nicht. René Lüchinger erklärt die Fehleinschätzung des neuen Chefs so: «Mario Corti glaubte immer noch, er könne wie bei Nestlé die Hilfe aller Beteiligten, auch der Banken, einfach einfordern. Und dann musste er feststellen: Das geht ja gar nicht mehr.» Und weiter: «Man glaubte immer noch an die Dualstrategie, also daran, dass die Nebengeschäfte das volatile Fluggeschäft ausgleichen würden.» Die Catering-Firmen, das Duty-free-Geschäft und die Unterhaltsfirma SR Technics sind alle Milliarden wert – noch. Schliesslich funktionierten diese Bereiche im Vorjahr «gut bis hervorragend», während die Fluglinien betrieblich nur mässig rentierten. Dieses Zögern, das Tafelsilber zu Geld zu machen und sich damit Luft zu verschaffen, wird rückblickend von allen Befragten als grösster Fehler angesehen. Allerdings konnte auch niemand antizipieren, was im September in den USA passieren würde. René Lüchinger sagt deshalb: «Es ist eine philosophische Frage: Verkaufe ich, wenn es brennt, die Häuser, die nicht brennen? Das wollte Corti offensichtlich nicht.»
Während die NZZ den neuen Swissair-Chef über alle Massen lobt, melden sich anderswo kritischere Stimmen: Der «Super-Mario» habe in erster Linie «Schönwetterzeiten beim Sofortkaffee-Konzern erlebt», monieren Wirtschaftsfachleute im SonntagsBlick. Sie würden sich fragen, ob Corti als Krisenmanager bestehen könne. Doch der geht das Ganze gründlich und gemütlich an – wie die Aufgaben zuvor, so das Wirtschaftsmagazin Bilanz: «Mario Corti geht in den Dingen auf, mit denen er sich beschäftigt.» Zwei Jahre habe er sich in den 1980er-Jahren in die Akten des Bundesamts für Aussenwirtschaft gekniet, ehe er dessen Wirken und Aufgaben zu verstehen glaubte. Zwei Jahre habe er in den 1990er-Jahren den Nahrungsmittelmulti Nestlé studiert, bevor er ihn zur Gänze durchschaut habe. Es gibt nur ein Problem: Der Swissair – und damit Corti – bleiben nicht zwei oder gar fünf Jahre Zeit, um die aktuellen Probleme zu lösen. Während alle Weggefährten seine Intelligenz hervorheben – «der kompetenteste CEO, den ich bisher erlebt habe», sagt ein GL-Mitglied –, geht eine andere Eigenheit unter: Corti ist ein Einzelkämpfer, der zwar bei Nestlé als CFO Verantwortung getragen hat, aber nicht die eines obersten Chefs. Deshalb sagen Gefährten auch, er halse sich zu viel auf und könne nicht delegieren. Die Bilanz zeichnet die Detailbesessenheit dieses brillanten Kopfs anhand einer Beobachtung nach: Die schwere Tasche, die Corti in den vergangenen Jahren ständig mit sich führte, war immer übervoll mit Akten. Und so geht Corti denn die Arbeit an: Er holt mit Jacqualyn Fouse von Nestlé eine vertraute Person als neue Verantwortliche für die Finanzen, schafft Ordnung im Reporting – so wie er das schon als junger Mann in seiner damaligen Wohngemeinde Aeugst tat. Er versucht, mit sogenannten Quick Wins, mit Sofortmassnahmen, unmittelbar Wirkung zu erzeugen. Die alte Swissair-Leitung lässt er mit einem Jahresverlust von 2,9 Milliarden Franken im letzten Geschäftsjahr schlecht aussehen. Das macht jeder Neue: Er schiebt die Kosten für fast alles der alten Equipe zu. Seine Finanzchefin beruhigt derweil den Verwaltungsrat insofern, als «die Liquidität bis Ende Jahr ausreichen» werde. Ja, Super-Mario, wie die Medien ihn hoffnungsvoll nennen, besitzt alle intellektuellen Fähigkeiten, den Fleiss, die notwendige Beharrlichkeit, um das Millionenpuzzle Swissair zu lösen. Aber etwas hat er nicht, das, was er bei seinen bisherigen Aufgaben immer hatte: Zeit.