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Der Zahlen-Riese

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Philippe Bruggisser sieht nicht aus wie der typische Spitzenmanager. Die Figur hochgeschossen und überschlank, das Gesicht länglich, die Augen versteckt hinter einer dezenten Brille – hier kommt eher ein Buchhalter daher als ein geborener Leader. Als er 1997 CEO der Swissair wird, nimmt ihm denn auch nicht gleich jeder die neue Rolle ab. Die Medien schreiben über den neuen Chef, er sehe aus wie ein «Durchschnitts-Schweizer», sie mäkeln über den ehemaligen Controller, er sei «kühl, unnahbar und undiplomatisch», seine Sitzungen glichen Befehlsausgaben, sogenannt weiche Themen, Gefühlsäusserungen oder intuitive Einschätzungen seien unerwünscht.

Bruggisser selbst, Sohn eines Aargauer Strohhutfabrikanten, sagt zur Kritik nur, er sei «nicht hier, um beliebt zu sein».3 Der Aargauer, mittlerweile 49 Jahre alt, wollte eigentlich Lehrer werden, studiert aber nach der Ausbildung am Seminar in Wettingen Wirtschaft und Recht in Basel und Genf, kommt via eine Grossbank 1979 zur Swissair und kümmert sich dort vor allem um die Zahlen, zuerst als Controller, dann als Finanzchef Nordamerika. Wie tüchtig er als Chef sein kann, beweist er, als er die Beteiligungsgesellschaften der Airline übernimmt und dabei die für die Dualstrategie wichtigen Nebengeschäfte – also alles, was nicht mit dem Flugbetrieb direkt zu tun hat – erfolgreich saniert und rentabel macht. Alle anderen im Unternehmen denken zu Beginn, das sei ein Himmelfahrtskommando und werde damit enden, dass Bruggisser diese Nebengeschäfte wird abstossen müssen. Das liebt dieser Bruggisser: aussichtslose Lagen wenden, an den eingeschlagenen Weg glauben: «Ich lebe für die Aufgabe, die mir übertragen wurde.» Ja, Bruggisser ist ein Chrampfer, er stürzt sich in die Sache, die sich für ihn meistens in den Zahlen spiegelt. Da ist er zu Hause, nicht in der Gefühlswelt. Für diese ist er offensichtlich weniger geschaffen: Zu scheu, zu zurückhaltend ist der Zahlen-Riese aus dem Aargau.

Die Dualstrategie ist sein Gesellenstück bei der Swissair, das ihm den Weg an die Spitze ebnen wird: Das oft volatile Fluggeschäft, anfällig für Launen und Krisen, soll stabilisiert werden durch weniger anfällige Geschäfte wie Catering, technischer Unterhalt oder Duty-free. Deshalb hat sich die Swissair eben gerade als Holding-Gesellschaft organisiert und nennt sich von nun an SAir. In dieser Holding gruppieren sich die verschiedenen Gesellschaften, von der Airline bis zum Catering. Oben in der Zentrale laufen alle Fäden zusammen, beim neuen Vorsitzenden der Geschäftsleitung, Philippe Bruggisser.

Dieser kühle Rechner führt also nun als Chef der Holding ganz offiziell die Geschicke der «nationalen Airline», der Swissair. National? Ja, national, wie der Circus Knie, der sich gerne als «National-Zirkus» gibt: gut schweizerisch, solide, ein verlässliches Produkt. Die grössten in der Branche, die Platzhirsche, streichen gerne und oft ihre Swissness heraus, vor allem, wenn es dem Geschäft nützt – Positives, was man mit der Schweiz verbindet, deckt sich mit dem Geschäftsinteresse und überträgt sich auf die Firma: Wer mit der Swissair fliegt, wird auch immer begleitet von Schweizer Werten wie Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität. Im Fall der Swissair kommt dazu, dass sich der Staat mit drei Prozent beteiligt hat und über längere Zeit im Verwaltungsrat vertreten ist.

Wenn nun also dieser Philippe Bruggisser in seinem neuen Büro als Chef der SAirGroup sitzt, dann weiss er leider auch, dass da einige Probleme der «nationalen Airline» auf ihn warten. Das Fluggeschäft hat sich in den letzten 15 Jahren massiv verändert. Nun muss sich auch die Swissair wandeln. Noch vor wenigen Jahren bezeichneten die Zeitungen sie voller Bewunderung als «fliegende Bank». Aber seit der damalige US-Präsident Ronald Reagan in den 1980er-Jahren mit harten Schnitten den Flugverkehr liberalisierte, ist alles anders geworden: Die Swissair kann nicht mehr nur in ihrem Heimmarkt sitzen und Flüge von Punkt zu Punkt anbieten. Auch der Vorteil, als Airline eines neutralen Staats viele Destinationen in Afrika exklusiv anfliegen zu können, ist seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs dahin.

Ja, seine Vorgänger haben schon versucht, vieles in Bewegung zu bringen. Und ja, sie sind mit ihren Plänen grandios gescheitert. Als sie Anfang der 1990er-Jahre ein Projekt namens «Alcazar» vorantreiben, schwappt ihnen eine Welle der Entrüstung entgegen. Nationalisten, Puristen, Konservative wollen das «Nationale» der Airline bewahren und nicht in eine Kooperation mit Airlines aus Holland, den nordischen Ländern und Österreich einwilligen, bei der vermutlich die KLM und nicht die Swissair den Steuerknüppel bedienen, ja die Scandinavian und die Austrian Airlines mit im Cockpit sitzen würden. Noch bevor es überhaupt abheben kann, zerschellt das Projekt Alcazar.

Philippe Bruggisser begriff schon früh in seinem Leben als Manager, wie Führen in einer grossen Firma funktioniert: Seine Ziele sollte man nie selbst formulieren – man lässt sie durch externe Experten ausarbeiten. Mit einer Flut von Folien werden sie schliesslich dargelegt und zur Umsetzung empfohlen. Will der Chef sparen, dann heisst die Strategie: Sparen. Will er ausbauen, dann empfiehlt die Unternehmensberatung: Ausbauen. Die Consultants sind nicht auf den Kopf gefallen: Wer es sich mit dem CEO nicht verdirbt, darf auf Folgeaufträge hoffen. Bei der Swissair werden unter Bruggisser scharenweise Rollkoffer-Kommandos von Unternehmensberatungsgesellschaften wie McKinsey, Roland Berger und Co. ein- und ausgehen und Linienmanager mit ihren Vorschlägen unterlaufen.

Die Swissair steht 1997 in der Tat vor Grundsatzfragen: Kann sie als letztlich mittelkleine Airline selbstständig überleben? Und wenn ja, wie? Oder sollte sie sich einer der in den 1990er-Jahren entstehenden Airline-Allianzen anschliessen – und falls ja, welcher? Diese Frage ist einfacher zu beantworten als die Ersteren. Als idealer Partner steht eigentlich nur British Airways zur Diskussion. Deren Hub London Heathrow ist weit genug weg, um Zürich als zweite Drehscheibe nicht zu gefährden. Das wäre bei Lufthansa mit Frankfurt oder Air France mit Paris nicht der Fall. Alternativ haben die Berater von McKinsey für Bruggisser berechnet, wie der Aufbau einer eigenen Allianz aussehen könnte. Sie nennen das Projekt «Hunter»: Wie ein Jäger müsse die Swissair ihre Beute unter den kleinen und mittleren Airlines in Europa suchen, um zusammen mit ihnen etwas Grosses entstehen zu lassen – eine Allianz unter der Führung der Swissair, längerfristig eine einzige grosse europäische Airline, geführt von der Schweiz aus. Der vierte Weg wäre dies, sozusagen. Ohne mit den Briten, den Franzosen oder den Deutschen anbandeln zu müssen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist ja schon getan: 1996 hat sich die Swissair bei der belgischen Sabena eingekauft.

Ein Alleingang ist riskant. Aber ein Zusammengehen mit einem der Grossen der Branche auch. Denn die Swissair wäre wohl nur als Juniorpartner dabei und müsste mittelfristig sogar befürchten, ihre Eigenständigkeit zu verlieren. «Habe ich mich mein gesamtes Berufsleben für die Swissair abgerackert, um dann den Steuerknüppel den Briten zu übergeben?», muss sich Bruggisser zu später Stunde gefragt haben, als er alleine in seinem bescheiden eingerichteten Büro sitzt. Soll er als neuer CEO tatsächlich Totengräber der eigenständigen Swissair sein? Oder wagt er das, was alle für unmöglich halten, nämlich den Aufbau eines eigenen Airline-Verbunds? Was Bruggisser gerne tun würde, ist klar. Aber findet der Verwaltungsrat den Mut, diesen riskanten Weg mitzugehen?

Überhaupt, dieser Verwaltungsrat – er ist gespickt mit grossen Namen aus der Schweizer Wirtschaft. Da kann es einem Aargauer Finanzfachmann schon etwas schummrig werden: Der Chef der Credit Suisse sitzt dort, Lukas Mühlemann, genauso wie Robert Studer, Spitzenmann der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG). Der Präsident des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse, Andres Leuenberger, Privatbankier Bénédict Hentsch, Thomas Schmidheiny, Hauptaktionär des Zementriesen Holcim sowie der FDP-Politiker Eric Honegger. Doch Bruggisser weiss, wie man die Fäden zieht. Und er weiss auch, dass CS-Chef Mühlemann einst McKinsey Schweiz leitete und damit viel Wohlwollen für ein Projekt wie «Hunter» haben müsste. Also entscheidet er sich – obwohl sich die Briten gerne mit der Swissair zusammengetan hätten – für den Vorschlag, den Alleingang zu wagen. Der Verwaltungsrat stimmt dem beinahe besessen wirkenden Chef tatsächlich zu. Nach all diesen auf Flugzeuge fixierten Piloten im Chefsessel der Swissair überzeugt der neue Chef nun mit seinen soliden Zahlen. Ein fataler Fehler, wie sich zeigen wird. Doch bevor wir vorausschauen: Blicken wir kurz zurück, um zu verstehen, was bei der Swissair strukturell im Argen liegt und weshalb ein einziger Mann wie Philippe Bruggisser die Firma an den Rand des Abgrunds bringen kann – und darüber hinaus.

Wie die Swissair die UBS rettete

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