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Die Schweiz AG

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Die Festgesellschaft sitzt fröhlich an den Tischen. Speis und Trank waren bis hierhin köstlich. Nun tritt der Festredner nach vorne, schaut den Jubilar lächelnd an und erinnert sich bei seiner Lobrede an manch fröhlichen Herrenabend, zu dem der heute Gefeierte geladen hatte: «Diejenigen, die dabei sind, werden mir dankbar sein für meine Diskretion, und sie werden sich in diesem Augenblick an höchste geistige Intensiverlebnisse, an überaus fruchtbare Vermittlung von Lebenserfahrung und Weisheit in prägnantester Form erinnern, an balletthafte Selbstdarstellungen des höheren zürcherischen Managements von elefantösem Charme, an rednerische Entfesselungskünste und mimische Leistungen von internationalem Format, an Gabentempel mit Dingen von nicht zu überbietender Zweckmässigkeit. Und sie werden dem, der ihnen dieses jährliche Füllhorn an kollektivem Vergnügen stiftet, eine begeisterte Ovation darbringen.»

Der da spricht an diesem Tag im Jahr 1982, ist Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung: Fred Luchsinger hält die Festrede zum 60. Geburtstag von Robert Holzach. Robert Holzach wiederum ist seit 31 Jahren bei der SBG, hat sich Schritt für Schritt hochgearbeitet und ist nun seit zwei Jahren Verwaltungsratspräsident einer der damals vier Grossbanken der Schweiz. Doch er ist nicht nur das, Präsident einer Schweizer Firma – er ist sozusagen Präsident der Schweiz AG: der meist- und bestvernetzte Schweizer Wirtschaftsführer seiner Zeit, mit unzähligen offiziellen und inoffiziellen Verbindungen in Unternehmungen rundum. Verbindungen, die er mit ebendiesen HHA pflegte: Holzachs Herrenabenden, die der oberste Schriftleiter der angesehensten Zeitung der Schweiz soeben lobte. Der Wirtschaftsjournalist Claude Baumann veröffentlichte 2014 eine Biografie über Robert Holzach4 und ist während seiner Arbeit ebenfalls auf die Erzählungen über diese Anlässe gestossen. Baumann schreibt: «Tatsächlich waren Holzachs Herrenabende ein vielgestaltiges Beziehungs- und, wenn man so will, auch Machtnetz, von dem indessen alle Teilnehmenden profitierten. Bundesräte wie Kurt Furgler, Wirtschaftsvertreter wie der Swissair-Chef Armin Baltensweiler, der Generalunternehmer Karl Steiner oder der Kaderstellenvermittler Egon Zehnder, aber auch FDP-Nationalrat Ulrich Bremi waren da inmitten anderer Holzach-Freunde zugegen. Dabei spielte es keine Rolle, ob ein Gast die SBG als Hausbank hatte. Was zählte, war einzig und allein die Persönlichkeit, mit der Holzach seinen Abend verbringen wollte. Im Prinzip schuf er sich so seinen eigenen Rotary oder Lions Club.» Die HHA sind dabei Kulminationspunkt einer Konzentrationsbewegung, die sich seit dem Ersten Weltkrieg und dem Beginn der Abschottung der einheimischen Wirtschaft entwickelt hatte.

Vor dem Ersten Weltkrieg gehört die Schweiz zu den sich am schnellsten industrialisierenden Ländern Europas, und ihre Wirtschaft ist – wie heute auch – auf offene Grenzen angewiesen. Deshalb wandern hoffnungsvolle Jungunternehmer gerne in die Schweiz ein, so etwa der aus Deutschland zugewanderte Heinrich Nestle (später Henri Nestlé) oder Walter Boveri (Mitgründer der Brown, Boveri & Cie., heute ABB). Sie profitieren vom liberalen Geist hierzulande und gründen und führen ihre eigenen Firmen. Das ändert sich ab 1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs und der Befürchtung, dass ausländische Firmenchefs der Schweiz gegenüber illoyal sein und Sympathien für ihre Herkunftsländer hegen könnten. Diese Abschottungstendenz verstärkt sich mit und nach dem Zweiten Weltkrieg und ermöglicht erst die Bildung eines engen Kreises von Wirtschaftsführern, welche die Schweizer Wirtschaft immer stärker dominieren sollten.

Im Jahr 1965 etwa wird der Zürcher Anwalt Georg Gautschi vom Bundesrat beauftragt, in Zusammenhang mit einer als dringend erachteten Aktienrechtsrevision einen Bericht zu erstellen. Die Erkenntnisse auf 700 Seiten sind so kritisch, dass die Schweizer Regierung darauf verzichtet, den Bericht zu publizieren – aus Angst vor öffentlicher Polemik. Denn Gautschi kritisiert in seiner Untersuchung nicht nur den begrenzten Zugang zur wirtschaftlichen Elite in der Schweiz, sondern auch deren Demokratiedefizit sehr deutlich.

Politologen rund um André Mach, Professor an der Universität Lausanne, analysierten die Entwicklung der Schweiz AG in «Schweizer Wirtschafts-Eliten 1910–2010»5 anhand einer selbst erstellten Datenbank mit 20 000 biografischen Einträgen, die sie unter anderem auch auf Überschneidungen bei Ausbildung und Tätigkeit überprüften. Der Anteil ausländischer Führungspersonen in den grössten 110 Unternehmen in der Schweiz nimmt laut ihren Zahlen von 11 Prozent im Jahr 1910 auf 3 Prozent 1957 ab und erhöht sich bis 1980 auf nicht mehr als 3,6 Prozent.

In dieser Hochphase des Schweizer «Wirtschafts-Réduits» besteht die wirtschaftliche Elite der Schweiz aus einem engen Kreis von: vorwiegend Männern, die Recht studiert haben, Offiziere in der Armee sind und in diversen Verwaltungsräten von Grossunternehmen sitzen.

Zu dieser Zeit basiert der berufliche Erfolg auf einer Berufslehre, oft gefolgt von einer Weiterbildung an einer höheren Fachschule und vor allem von Praktika im Ausland. Hinzu kommt die Führungsausbildung in der Armee. Womit wir wieder bei Robert Holzach wären: Der Ostschweizer gilt als Musterbeispiel dafür, wie sich militärische Führungsgrundsätze in der Privatwirtschaft festsetzen. Wirtschaftsjournalist Claude Baumann kommt zum Schluss, dass zwar das Militärische schon vorher eine Rolle gespielt habe in der SBG, aber «[…] unter Holzach nahm das militärische Element umfassende Dimensionen an und schlug sich in den einzelnen Arbeitsabläufen, den Strukturen, eigentlich der gesamten Organisation nieder».

Diese Abschottung gegen aussen kulminiert in offiziellen und inoffiziellen juristischen Beschränkungen. So wird die Vinkulierung von Aktien eingeführt, die es den dominierenden Familien erlaubt, mit wenigen Aktien und trotzdem hohen Stimmrechten die Kontrolle über die Firmen zu erhalten, immer mit der Argumentation, es Ausländern damit nicht erlauben zu wollen, Schweizer Firmen zu übernehmen. Diese Angst vor Fremdeinfluss führt 1961 so weit, dass sich die Banken in einem Gentlemen’s Agreement verpflichten, gewisse Aktienkategorien nicht an Kunden zu verkaufen, die nicht dem gewünschten Profil der Gesellschaft entsprechen. Diese Réduit-Trickkiste hat Nachwehen bis in die heutige Zeit.

Mit der ab den 1980er-Jahren einsetzenden Globalisierung ist diese Schweiz AG – die im nördlichen Nachbarland mit der Deutschland AG durchaus ein Pendant hat – nicht mehr zeitgemäss. Was vorher als erlaubte Selbstverteidigungsstrategie eines kleinen Landes angesehen wird, erscheint nun als einengend und fortschrittshemmend. Der Handel über alle Grenzen, die Arbeitsteilung über die Kontinente hinweg kreiert auch globales Kapital. Die Schweizer Unternehmen gehören nicht mehr einem vorwiegend Schweizerischen Aktionariat; sie sind im Besitz von Gesellschaften und Individuen weit über den Globus verteilt. Auch die Ansprüche dieses internationalen Aktionariats an die Führung sind andere geworden: Die Geschäftssprache wird Englisch, die Ausbildung sollte eine ökonomische und nicht mehr eine juristische oder technische sein. Der Titel Maschineningenieur ETH reicht offensichtlich nicht mehr. Die Universität in St. Gallen wird zum Dreh- und Angelpunkt für angehende Manager. Den Feinschliff holt man sich anschliessend mit einem Master of Business Administration (MBA) an einer renommierten Hochschule, wenn möglich im angelsächsischen Raum. Regulatorische Entscheidungen werden nicht mehr im nationalen Parlament gefällt, sondern auf paneuropäischer Ebene – vor allem in der Europäischen Union – und dann «autonom nachvollzogen», oder sie werden sogar auf globaler Ebene, beispielsweise in Abkommen der Welthandelsorganisation WTO, verhandelt.

Damit verlieren Trumpfkarten wie die militärische und/ oder politische Karriere ihren Wert. Internationale Netzwerke werden wichtiger, die nationale Vernetzung wird weniger: Verfügte ein Schweizer Unternehmen 1980 noch über rund acht Verbindungen zu anderen Schweizer Unternehmen, sind es 2010 noch gut zwei. Das Netz wird dünner. Dasselbe gilt für das politische Engagement von Wirtschaftsführern: Es nimmt ab oder verlagert sich auf die internationale Bühne (Branchenverbände). Waren Bankverein und Bankgesellschaft 1980 mit 40 Industrieunternehmen verbunden, ist es die UBS im Jahr 2010 mit noch genau zwei. Waren 1980 noch 42 Mitglieder von Geschäftsleitungen der 100 grössten Schweizer Firmen im Parlament vertreten, sind es 2010 noch 13.

Doch ganz weg ist der Filz mit dem Übernamen Schweiz AG nicht. «Diese Netzwerke haben sich in den 1990er-Jahren nicht einfach ausgewaschen», sagt der ehemalige Chefredakteur der Bilanz und intime Kenner der Wirtschaftsnomenklatur, René Lüchinger. Gerade die Swissair sei ein gutes Beispiel dafür, wie traditionelle Vertretungen im Verwaltungsrat trotz Globalisierung weitergelebt wurden. So stellte Nestlé einen Vertreter, die Crédit Suisse auch, beides Firmen, die der FDP, der freisinnigen Partei, nahestanden, genauso wie der «fachlich völlig unbefleckte Chef des Comptoir Suisse in Lausanne», Paul-Antoine Hoefliger, erzählt Lüchinger aus jener Zeit. Der Journalist setzte sich in zwei Büchern intensiv mit der Geschichte der Swissair und deren Niedergang auseinander. Für ihn ist klar, dass in dieser Firma die Schweiz AG weiterlebte, was mit ein Grund für das Ende der «nationalen Fluggesellschaft» war: «Im Verwaltungsrat sassen viele blässliche, mittelmässige Figuren.» Und als das Unternehmen in die Krise schlitterte, bekamen es alle mit der Angst zu tun – vor allem den eigenen Untergang fürchteten sie.

Wie die Swissair die UBS rettete

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