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1. Drei verlorene Eier und eine verschwundene Patentante

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Wie freute ich mich, als ich letzten Sommer in Josés Bistro stürmte und sogleich erkannt wurde.

»Señorita Florentine«, begrüßte mich José höchstpersönlich und bot sich an, mich an meinen Platz zu führen – natürlich hatte Tante Mariebelle rechtzeitig reserviert.

Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, dass José noch meinen Namen wusste, schließlich besuchte ich sein Bistro nur selten. Nicht, weil mir das Essen dort missfallen würde, im Gegenteil! Josés Küche weiß die einfachsten Gerichte ganz außergewöhnlich zuzubereiten. Das Bistro lag allerdings in einem von meiner Wohnung recht weit entfernten Stadtteil, wo ich mich sonst nie herumtrieb.

Nur einmal im Jahr, in jedem August, kam ich her, um mich mit meiner Patentante Mariebelle zu treffen. Diese Tradition pflegten wir seit meinem zwölften Geburtstag. Den Termin dafür hatte Tante Mariebelle von Beginn an auf den Feiertag Mariä Himmelfahrt festgelegt. Warum, weiß ich heute nicht mehr. Jedenfalls hatten wir noch nie irgendetwas dazwischenkommen lassen – bis auf letzten Sommer.

Als José mich an einen Zweiertisch brachte, wunderte ich mich, als ich beide Stühle unbesetzt vorfand. Normalerweise war ich diejenige, die jedes Mal zu spät kam. Wo war Tante Mariebelle?

»Wahrscheinlich zahlt sie mir all meine Verspätungen heim und kommt absichtlich unpünktlich«, vermutete ich. »José, Sie können schon mal zwei Gläser Prosecco bringen. Wenn meine Patentante kommt, werden wir auf unser Wiedersehen anstoßen. Wie immer.«

»Sehr wohl«, erwiderte José und verschwand an die Theke, wo er meine Bestellung an eine seiner Mitarbeiterinnen weitergab.

Ich legte mein Sommerjäckchen über die Stuhllehne, machte es mir bequem und blätterte in der Speisekarte, die bereits auf dem Tisch lag. Es gab nichts darin, was mich besonders ansprach, aber ich erinnerte mich an die Tagesempfehlung, die vor dem Bistro auf einer kleinen, schwarzen Tafel zu lesen war.

»Die drei verlorenen Eier Beaugency«, bestellte ich, als die Bedienung die zwei Proseccogläser brachte.

Ich ging immer noch davon aus, dass Tante Mariebelle bald kommen würde. Gewöhnlich aß sie einen Salat oder eine andere Kaltspeise, deren Zubereitung nur kurz dauerte. Darum hatte ich kein schlechtes Gewissen, meine Mahlzeit bereits bestellt zu haben. Als mir die Eier Beaugency serviert wurden und weit und breit immer noch keine Patentante zu sehen war, wurde ich doch langsam unruhig. Ich legte mein Handy neben den Teller, in der Erwartung, es würde gleich klingeln oder wenigstens blinken. Aber nichts in der Art geschah.

Das sah Tante Mariebelle wirklich nicht ähnlich! Im Falle einer Verspätung solchen Ausmaßes hätte sie definitiv angerufen, und dass sie unser Treffen ganz vergessen hätte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wer sonst hätte unseren Tisch reservieren sollen? Ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen und konnte weder die Eier, noch die Sauce béarnaise oder die Artischocken genießen.

»Na, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten«, zitierte ich einen Spruch meines Vaters und suchte in meinem Kontaktverzeichnis nach Tante Mariebelles Telefonnummer.

Eigentlich war das an dieser Stelle ein unpassender Spruch. Weder sah ich mich als Berg – zierlich und klein, wie ich war – noch war Tante Mariebelle in irgendeine Weise prophetisch veranlagt. Ganz im Gegenteil, all ihre Vorhersagungen hatten sich bisher mit verlässlicher Regelmäßigkeit als Irrtümer entpuppt, so gut sie auch gemeint gewesen sein mochten:

»Kindchen, mach deine Ausbildung doch in G., wie ich damals! Es wird deine schönste Zeit!«

Und ich langweilte mich dort zu Tode.

»Kindchen, lies unbedingt den neuen Roman von April Finger, der wird die Welt verändern!«

Und besagtes Buch entpuppte sich als dreistes Imitat von Lacols' Les Liaisons dangereuses.

»Kindchen, scharlachrot ist das neue Schwarz!«

Kein Kommentar. Sie merken sicherlich, was ich sagen will?

Nichtsdestotrotz mochte ich meine Patentante von Herzen, und unsere alljährlichen Treffen bedeuteten mir sehr viel. Überraschend auf eine Plauderei mit ihr verzichten zu müssen, drohte mir den restlichen Tag zu verderben. Hätte ich damals schon gewusst, dass mir nicht nur jener Augusttag, sondern der ganze Sommer verdorben werden würde, hätte ich Tante Mariebelles Proseccoglas bestimmt auf einen Zug leergetrunken, anstatt es unberührt auf dem Tisch stehen zu lassen. Aber ich greife zu weit vor.

Da saß ich also in Josés Bistro, kaute missmutig auf dem dritten pochierten Ei herum und versuchte, Tante Mariebelle anzurufen. Es tutete, aber sie nahm nicht ab. Also schrieb ich ihr eine Nachricht:

»Liebe Tante Mariebelle, dein Prosecco wird warm. Wann bist du im Bistro? Warte sehnsüchtig! LG, Flo.«

Ich schickte die Nachricht durchs Netz und die automatische Lesebestätigung zeigte mir, dass meine Worte Mariebelle erreicht hatten.

»Also muss ihr Handy Empfang haben«, dachte ich und wählte nochmal ihre Nummer.

Diesmal ertönte kein Tuten. Stattdessen wies mich eine sterile Computerstimme darauf hin, dass der gewünschte Gesprächsteilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei. Irritiert darüber, schickte ich eine zweite Nachricht los.

»Ist dein Telefon kaputt? Ruf mich mal schnell an, falls nicht! Flo.«

Wieder schickte ich die Nachricht ab, doch keine Lesebestätigung erfolgte. Wie konnte das sein? Vor einer Minute war ihr Handy erreichbar gewesen, nun plötzlich nicht mehr. Das hieß, dass zwischenzeitlich etwas passiert sein musste!

»Sie wird doch nicht in ihrer Wohnung gestürzt sein«, murmelte ich.

Vor meinem inneren Auge entstanden Bilder von Tante Mariebelle, auf denen sie halb bewusstlos am unteren Ende einer steilen Treppe lag und vergeblich versuchte, nach dem Handy zu greifen – welches ihr dann zu allem Unglück aus den Fingern glitt, um in einen Gully zu fallen, wo es dann in seine Einzelteile zersprang.

»Man muss sofort nach dem Rechten sehen«, sprach ich fest, obwohl mir keiner zuhörte.

Ich wartete nicht erst auf die Bedienung, sondern ging direkt an die Theke und zahlte. Dann lief ich hinaus zur Straßenbahnhaltestelle um die Ecke und sprang, ohne an den Kauf eines Tickets zu denken, in die nächstbeste Linie, die auch nur halbwegs in Richtung Südviertel fuhr.

Ein bisschen beneidete ich meine Patentante ja schon um ihre Wohnung im ruhigen Süden der Stadt. Die Lage war vor allem für ältere Leute günstig: Es gab Straßenbahnanschluss, das Klinikum war nicht weit, ein Park lag in direkter Nähe. Tante Mariebelle hatte enormes Glück gehabt, dort eine Eigentumswohnung zu ergattern. Sie war alleinstehend und besaß demzufolge nur ein Einkommen. Zu wirtschaftlich unsicheren Zeiten hatte sie den richtigen Augenblick abgewartet und dann erfolgreich zugegriffen. Nun konnte sie drei Zimmer, eine Küche, ein Bad mit Wanne und einen Balkon ihr Eigen nennen. Von alldem wagte ich, Mieterin einer winzigen Einraumwohnung, nur zu träumen. Andererseits wäre es mir im Südviertel auf Dauer zu langweilig geworden, schließlich war die Innenstadt mit all ihren Szenekneipen meilenweit weg.

Ich sah an dem mehrgeschossigen Haus hinauf zu den Fenstern ihrer Wohnung. Die Rollläden waren halb heruntergelassen und die Gardinen zugezogen. Entweder hielt meine Patentante einen außergewöhnlich langen Mittagsschlaf oder sie war gar nicht zu Hause. Eine Nachfrage beim Nachbarn sollte Licht ins Dunkel bringen. Herr Ullmann, der ihr gegenüber wohnte, stand gerade auf seinem Balkon und schien mir gesprächsbereit.

»Huhu, Herr Ullmann«, winkte ich ihm zu. »Kennen Sie mich noch?«

»Ach, das ist ja die kleine Floriane, nicht wahr?«

»Florentine«, verbesserte ich. »Wissen Sie zufällig, ob meine Tante ausgegangen ist? Ich kann sie nicht erreichen.«

»Natürlich, Florentine«, bestätigte der alte Mann.

Er musste weit über 80 sein und war ein dünner, kahlköpfiger Greis. Von meiner Patentante wusste ich, dass er dreifacher Witwer war. Er rauchte wie ein Schlot und hatte auch jetzt eine Zigarette im Mund.

»Ich kannte mal eine Florentine«, erzählte er. »Sie war Dichterin in Wittgenstein. Ist lange her, lange her. Kennen Sie Wittgenstein?«

»Nein«, antwortete ich brav und versteckte meine Ungeduld.

»Schöne Gegend, schöne Gegend. Eine Floriane kannte ich auch mal. Schauspielerin bei einer Wanderbühne. Bildhübsches Ding.«

Er gab merkwürdige Laute von sich, die ich als eine Art sentimentales Kichern deutete – sollte es so etwas überhaupt geben.

»Herr Ullmann, was meine Tante angeht, Ihre Nachbarin?«, versuchte ich ihn zu erinnern.

»Wissen die jungen Leute heute eigentlich noch, was eine Wanderbühne ist? Gibt es das noch? Was war das aufregend für uns Kinder, wenn die Schauspieler ins Dorf kamen. Uns war es ja egal, welches Stück sie aufführten, Hauptsache es gab Abwechslung, nicht wahr?«

Gleich erzählt er mir noch, wie er als kleiner Junge mal heimlich mit der Wanderbühne aus seinem Dorf abhauen wollte, brummte ich innerlich. Aber ich biss die Zähne zusammen und wartete höflich, bis Herr Ullmann zum eigentlichen Gesprächsthema zurückfinden würde.

»Ihre Tante, die Frau Puttensen, ist vor zwei Wochen in den Urlaub gefahren«, sagte er endlich. »Ich gieße die Blumen, bis sie wiederkommt. Dachte eigentlich, dass sie vorgestern schon hätte eintreffen müssen, aber es kann sein, dass ich mit meinem Kalender durcheinander gekommen bin.«

»Im Urlaub?«, wiederholte ich. »Wissen Sie, wohin?«

»Ja, Frau Puttensen hat's mir gesagt. Mein Kalender, wissen Sie, der besteht ja nur aus losen Blättern. Die hab ich vielleicht falsch geordnet. Ich schau mir das am besten nochmal an, wenn ich aufgeraucht habe.«

Und er nahm einen langen Zug, unwissentlich meine Geduld strapazierend. Ich konnte es nicht haben, wenn man auf eindeutige Fragen nicht klar antwortete, sondern irgendeine langweilige Geschichte aus dem Leben erzählte.

»Wissen Sie, wohin?«, fragte ich auf gut Glück noch einmal.

»In den Urlaub ist sie gefahren«, antwortete Herr Ullmann und glaubte wohl, mir damit eine wertvolle Auskunft gegeben zu haben.

Da ich fürchtete, gleich würde meine Halsschlagader platzen, wandte ich mich ab. Den Anblick wollte ich dem alten Greis ersparen.

»Wahrscheinlich hat er auf diese Weise seine drei Frauen umgebracht«, knurrte ich leise, »nacheinander alle drei in den Wahnsinn getrieben.«

Ich rang mich zu einem kühlen »Danke, auf Wiedersehen« durch und ging. Meine Halsschlagader beruhigte sich und die Wut auf Ullmanns zeitraubendes Geschwätz machte der Sorge um meine Patentante Platz. Sie war also seit vierzehn Tagen in einem Urlaub, von dem ich gar nichts wusste, und hätte laut ihrem Nachbarn längst zurück sein müssen. Sie war nicht zu unserem traditionellen Treffen in Josés Bistro gekommen, obwohl sie persönlich den Tisch vorbestellt hatte. Und ihr eigentlich funktionstüchtiges Handy war plötzlich nicht mehr erreichbar. Angesichts dieser drei Punkte war mir klar: Tante Mariebelle war mehr zugestoßen als ein kleiner Unfall im Treppenhaus. Hier mussten Profis ran!

Liebreiz, Mord und Kaktusstiche

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