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4. Nur ein kleiner Lauschangriff

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Auf dem Rückweg ging ich noch einmal bei Josés Bistro vorbei und erkundigte mich, wann genau Tante Mariebelle den Tisch vorbestellt hatte. Vielleicht hatte Tony recht und ihre Anfrage lag bereits Monate zurück, was ein zwischenzeitliches Vergessen ihrerseits wahrscheinlich machen würde.

»Ich weiß nicht mehr, wann Señora Puttensen angerufen hat«, bedauerte Jośe.

Er konnte mir zumindest versichern, dass sein Bistro keine Reservierungsanfrage entgegennahm, die über den Zeitraum eines Monats hinausging. Seine Aussage half mir insofern, als ich ausschließen konnte, meiner Patentante wäre unser Treffen schlicht entfallen. Das wäre ihr innerhalb von nur vier Wochen bestimmt nicht passiert.

Die folgenden 48 Stunden verbrachte ich in meiner Einraumwohnung, mit krummen Rücken vor dem Laptop sitzend. Ich hatte die Jalousie heruntergezogen, damit der strahlende Sonnenschein mich nicht ablenken und hinaus in den Sommertag locken würde. Das Handy war griffbereit, und immer, wenn ich beim Surfen auf ein Hotel stieß, dass Tante Mariebelles Ansprüchen zu genügen schien, rief ich es an und erkundigte mich, ob sie dort sei oder ein Zimmer auf ihren Namen gebucht habe. Als Vorwand behauptete ich, ihre Tochter zu sein und ihr ein Geburtstagsgeschenk nachschicken zu wollen.

Bereits von elf Hotels, neun Pensionen und sage und schreibe vierzehn Ferienhäusern rund um den Hohen Meißner hatte ich negative Auskünfte erhalten, bevor mich Fred zurückrief. Dessen Nummer hatte ich in Tante Mariebelles Adressheft gefunden. Zu meinem Glück stand darin nur ein einziger Fred – Gittas gab es hingegen gleich drei. Noch an Mariä Himmelfahrt hatte ich ihn angerufen, doch weil niemand abnahm, hatte ich auf die Mailbox gesprochen. Als er endlich zurückrief, waren meine Hoffnungen groß, endlich einen Schritt weiterzukommen. In dem kurzen Gespräch mit ihm stellte sich jedoch heraus, dass er zwar der richtige Fred war, aber seit einem halben Jahr nichts von Tante Mariebelle gehört hatte.

»Ich sehe sie ja nächste Woche«, sagte er, »und was den Hohen Meißner angeht, ist schon alles von Gitta organisiert worden. Solange nichts dazwischen kommt, gibt es vor dem Trip keinen Anlass, dass sich einer beim anderen meldet.«

»Die Wandertour haben Sie also nicht vorverlegt?«

Fred verneinte. Immerhin konnte er mir die Unterkunft nennen, die Gitta für alle drei ausgewählt hatte. Zu meinem Bedauern war es eines der Hotels, die ich schon angerufen hatte. Dort hatte man von einer Mariebelle Puttensen nichts gewusst – wahrscheinlich hatte die ominöse Gitta die Zimmer nur auf ihren eigenen Namen gebucht.

»Vergebliche Liebesmüh«, stöhnte ich genervt. »Hoffentlich hat Tony mehr Glück.«

Ich schaute in meine diversen Posteingänge, aber keine Email, keine SMS, keine Nachricht von ihm war zu finden.

»Nicht, dass er auch noch spurlos verschwindet«, bangte ich, zugegebenermaßen ein bisschen panisch.

Dann hatte ich eine Eingebung, wie ich Tante Mariebelle doch noch aufspüren könnte.

*

Tonys Reise nach Niederfichtel und zurück dürfte nicht länger als zwei Tage dauern, so hatten wir es jedenfalls ausgerechnet. Als Treffpunkt war das Café am Eck ausgemacht worden, wo wir uns exakt zur Mittagsstunde sehen und über die neuesten Erkenntnisse austauschen wollten.

Ich war eine halbe Stunde zu zeitig da, weil ich das Herumsitzen daheim nicht mehr aushalten konnte, und bestellte mir gleich zwei Bananenmilchshakes auf einmal, um das Warten zu verkürzen. Außer mir war nur ein Herr im weißen Anzug im Café. Trotz des warmen Wetters zog er es vor, drinnen zu sitzen, und sogar dort behielt er seinen Strohhut auf. Immer wieder sah er zu mir hinaus und ich fürchtete schon, er würde sich zu mir setzen und mich anbaggern, wenn ich noch weiter allein blieb.

»Komm schon, Tony, lass mich nicht hängen«, flüsterte ich und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

Auf einmal stand er neben mir, als ob er meinen Wunsch erhört hätte.

»Da bin ich«, grüßte er und kam direkt zur Sache. »Wie war deine Recherche?«

»Leider sehr unbefriedigend«, antwortete ich. »Tante Mariebelle ist nicht einmal in der Nähe vom Hohen Meißner. Ihre Freunde, die mit ihr demnächst dort wandern wollen, haben auch nichts von ihr gehört. Und wie war es in Niederfichtel?«

»Oh, sehr enttäuschend«, sagte Tony traurig. »Dieses Schloss Liebreiz ist überhaupt kein richtiges Schloss. Von dem eigentlichen Bau ist nur eine Ruine übriggeblieben, die im Parkgelände der Schönheitsfarm besichtigt werden kann. Für die Kunden des Etablissements ist der Besuch kostenfrei, alle anderen Touristen müssen zahlen. Das, was sich heute Schloss Liebreiz nennt, ist das ausgebaute Zeughaus, das ursprünglich zur Ruine gehörte. Es liegt nahe einer Thermalquelle oder Heilquelle oder dergleichen. Daher kam jemand auf die Idee, dort dieses Wellnesshotel für wohlsituierte Damen und Herren zu machen.«

»Wohlsituiert?«

»Oh ja, da kommt nicht jeder rein. Die Preise sind recht hoch. Alles sehr exklusiv. Und keinerlei mittelalterliche Atmosphäre für den armen Tony.«

»Um die geht es uns ja auch nicht«, sagte ich schnippisch. »Was hast du über Tante Mariebelle herausgefunden?«

»Tja, eigentlich nichts«, gestand Tony, fügte aber schnell hinzu:

»Interessant ist allerdings, wie ich dieses Nichts herausgefunden habe.«

Ich verstand nicht, was er damit meinte.

»Lass mich alles ganz genau erzählen, sobald ich meinen Kiwi-Eisbecher habe«, sagte Tony, und nachdem man ihm die Leckerei serviert hatte, begann er seine Geschichte:

»Als ich auf Schloss Liebreiz eintraf, ging ich sofort zur Rezeption. Ich stellte mich vor und behauptete, der Sohn einer Kundin zu sein und dass ich nicht sicher wäre, ob sie noch auf der Schönheitsfarm weilt oder schon abgereist sei. Der Rezeptionist, ein dünner Typ mit Föhnfrisur und viel zu akkuraten Fingernägeln, wirkte zunächst aufgeschlossen und fragte mich nach dem Namen der Gesuchten. Als ich ihn nannte, änderte sich sein Benehmen schlagartig. Abschätzig wanderten seine Augen an mir hoch und runter und dann sagte er steif:

›Mariebelle Puttensen, sagten Sie? Für solche Fälle bin ich nicht zuständig. Sprechen Sie am besten mit der Chefin.‹

Er schickte mich ein Stockwerk höher, wo ich bei einer gewissen Dr. Alexa Safaryan vorsprechen sollte. Die empfing mich eher widerwillig, wie mir schien, und wich meiner Frage nach Mariebelle Puttensen regelrecht aus.

›Wir können Fremden nicht einfach die Daten unserer Kundinnen zugänglich machen‹, behauptete sie. ›Das schließt die Angaben über ihre Ankunfts- und Abreisetermine mit ein. Können Sie sich denn als ihr Sohn ausweisen?‹

Das konnte ich freilich nicht, deshalb verabschiedete ich mich schnell von besagter Dr. Safaryan und verließ das Schloss. Ich hätte mich als Neffe statt als Sohn ausgeben sollen, dann wäre es unkomplizierter gewesen, die verschiedenen Nachnamen zu erklären.«

»Ärgere dich nicht, du kannst es ja jetzt nicht mehr ändern«, tröstete ich ihn.

»Oh doch, ich ärgere mich. Denn sowohl der Rezeptionist als auch seine Chefin haben mich quasi ohne jegliche Information entlassen. Sie hatten nicht einmal bestätigt, ob deine Patentante überhaupt auf Schloss Liebreiz gewesen war! So schnell wollte ich mich aber nicht geschlagen geben. Ich spazierte im Gelände herum, schaute mir die Ruine an und versuchte, mit den wenigen weiblichen Gästen der Schönheitsfarm zu scharwenzeln, um Näheres herauszukriegen.«

»Scharwenzeln«, schmunzelte ich. »Du und deine Wort-wahl!«

Tony schmunzelte zurück und fuhr fort:

»Diejenigen, die ich ansprach, waren fast ausnahmslos nach Mariä Himmelfahrt angereist. Davon ausgehend, dass deine Patentante an dem Feiertag ja bereits mit dir im Bistro hätte sitzen müssen, fragte ich sie nicht erst genauer aus. Lediglich eine dralle Mitvierzigerin gab an, schon länger auf Schloss Liebreiz zu verweilen. Sie bildete sich ein, den Namen Mariebelle Puttensen gehört zu haben, behauptete aber, sie würde kaum mit anderen Frauen ins Gespräch kommen. Dann trat sie ganz nah an mich heran, sodass ich ihren Körper an meinem spürte.

›Ich bin schließlich hier, um mich für die Männerwelt zu optimieren‹, hauchte sie mir ins Ohr.

Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, klingelte irgendwo eine Glocke und sie rief aus:

›Oh, meine nächste Behandlung beginnt! Auf Wiedersehen, schöner Mann!‹

Und tänzelnd verließ sie die Ruine. Von Weitem sah ich noch, wie sie mir zuzwinkerte.«

»Wie aufdringlich von ihr«, befand ich. »Ob ihre Aussage der Wahrheit entspricht, ist schwer zu beurteilen. Sie könnte auf deine Befragung eingegangen sein, um sich an dich heranzumachen.«

»Das Gleiche ging mir auch durch den Kopf«, sagte Tony. »Darum wollte ich mir noch eine zweite Meinung im Dorf einholen. Viele Möglichkeiten, ins Gespräch zu kommen, gibt es dort nicht. Niederfichtel hat einen Bäcker, einen Metzger, ein Blumengeschäft neben dem Friedhof und einen Kiosk am Bahnhof. Wo die Einwohner ihre Großeinkäufe erledigen, weiß der Kuckuck. Der Metzger hatte geschlossen und der Blumenhändler schaute so finster drein, dass ich gar nicht erst versuchte, ihn anzusprechen. Beim Bäcker plauderte die Verkäuferin dagegen munter drauflos, ob ich zu den Gästen von Schloss Liebreiz gehörte oder nur auf der Durchreise war oder jemanden besuchen würde.

›In einem kleinen Dorf wie diesem weiß man gleich, ob jemand fremd ist oder dazugehört‹, erklärte sie.

Ich ließ Mariebelles Namen fallen, aber sie reagierte nicht. Auch zwei alte Herrschaften, die gerade neben der Theke ihren Kaffee tranken, zeigten keinerlei Regung. Ich fügte hinzu, dass ich sie suchen würde und sie unauffindbar zu sein schiene. Da brummte einer der beiden Alten:

›Verschwunden, eh? Ja, das kommt vor.‹

›Wie bei der armen Annerose‹, sagte der andere.

›Ach, dieses mannstolle Luder‹, murmelte der erste.

›Vielleicht hat sie der Geist vom alten Mulch geholt‹, meinte der andere.

›Darüber macht man keine Scherze‹, brummte der erste.

Das half mir nicht weiter und so verließ ich die Bäckerei wieder, bevor die Herrschaften mir lang und breit das Schicksal ihrer alten Freundin Annerose schildern würden. Dein Ullmann hat mir letztens das Ohr genug abgekaut.«

»Er ist nicht mein Ullmann«, berichtigte ich scharf. »Hast du noch woanders nachgefragt?«

»Ja, im Bahnhofskiosk. Die Dame dort kanzelte mich regelrecht ab, was mir einfiele, solche Fragen zu stellen. Ich solle gefälligst zur Polizei gehen, wenn ich jemanden vermissen würde, und nicht die Leute belästigen und von der Arbeit abhalten. Von wegen Arbeit! Kein einziger Kunde war in ihrem Laden. Na ja, ich trollte mich dann und fuhr zurück. Gott sei Dank war es ruhig im Zug und ich konnte schlafen. Beinahe hätte ich sogar meine Haltestelle verpasst, so tief hab ich gepennt!«

»Hm«, machte ich und dachte über Tonys Worte nach. »Die Mitarbeiter von Schloss Liebreiz haben sich wirklich verdächtig verhalten, dafür, dass du nur eine harmlose Nachfrage stelltest. Hast du das Foto von meiner Patentante jemandem gezeigt?«

Tony bejahte.

»Die dralle Mitvierzigerin meinte, das Gesicht käme ihr bekannt vor. Die Bäckerin dagegen schüttelte den Kopf. Zu viele Gäste von Schloss Liebreiz gingen bei ihr ein und aus, um sich die Leute alle merken zu können. Und wie die Dame vom Bahnhofskiosk reagierte, habe ich dir gerade beschrieben.«

Es erklang ein leises Räuspern in unmittelbarer Nähe. Wir sahen auf und bemerkten, dass der Herr im weißen Anzug mittlerweile aus dem Café gekommen war und am Nebentisch Platz genommen hatte. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören, aber als ich genauer hinsah, erklärte sich der Grund dafür von allein. Er saß im Rollstuhl und die Räder hatten auf dem glatten Boden weniger Geräusch gemacht, als es Schritte getan hätten.

»Ich möchte Sie wirklich nicht stören«, sagte er mit ausländischem Akzent und strich sich über den Schnurrbart, »aber lassen Sie mich eines sagen, junger Mann: Für einen Anfänger haben Sie sich während Ihrer Nachforschungen wirklich nicht schlecht angestellt.«

Ich schaute von dem Fremden auf Tony, aber mehr als ein verwundertes Achselzucken hatte er für mich nicht übrig.

»Danke, der Herr«, war alles, was ihm einfiel.

»Wissen Sie, ich kenne mich mit dieser Tätigkeit sehr gut aus«, sprach der Herr weiter, »bin darin sozusagen ein Experte. Im Dorf nachzufragen, das war clever von Ihnen, wirklich. Aber wie Sie sich auf dem Schloss verhalten haben – ts, ts, ts.«

Er schüttelte nachsichtig mit dem Kopf.

»Immer mit den kleinen Mitarbeitern sprechen, merken Sie sich das. Jene, die herumgeschubst werden und die Drecksarbeit erledigen müssen. Die haben zum einen mehr Redebedarf als ihre ach-so-wichtigen Bosse, zum anderen sehen und hören sie meist auch viel von dem, was für unsereins wichtig sein könnte. Wofür ich Sie wiederum loben muss, ist Ihre strenge Einschätzung hinsichtlich dieser Frau Doktor. Auch ich würde deren Aussageverweigerung als suspekt einstufen. Normalerweise würde man jemandem, der sich nach der eigenen Mutter erkundigt, viel freundlicher begegnen, nicht wahr? Die meisten würden den Sohn vertrösten, würden aus Höflichkeit so tun, als gäben sie sich wenigstens ein bisschen Mühe, sich an die gesuchte Dame zu erinnern.«

Wir starrten ihn an, sprachlos darüber, das er uns ungefragt einen Vortrag hielt. Irgendwann bemerkte er unsere offenen Münder und unterbrach seinen Redeschwall.

»Herrje, ich bin ins Schwafeln geraten, wie? Verzeihen Sie mir bitte. Ich wollte Sie nicht aufhalten.«

»Schon gut«, sagte ich. »Sie halten uns nicht auf. Wir haben keine weiteren Pläne als hier zu sitzen und uns zu unterhalten.«

»Ich hätte Ihnen dennoch nicht zuhören dürfen«, räumte der Herr ein. »Es war ganz und gar unhöflich von mir, meinen Rollstuhl direkt hinter Sie zu parkieren, nur um Ihre Worte aufzuschnappen.«

»Unser Gesprächsgegenstand hat Sie also interessiert?«, fragte Tony.

Der Herr nickte und lächelte uns charmant an.

»Ich kann nicht anders. Wenn jemand von vermissten Personen spricht und von Versuchen, klug taktierend an Informationen zu gelangen, muss ich einfach lauschen, ja, gewissermaßen einen Lauschangriff starten, um herauszufinden, worum es geht. Das ist eine Berufskrankheit von mir.«

Mit der Hand fuhr er in seine Brusttasche und holte eine Visitenkarte heraus. Er reichte sie mir feierlich und sagte:

»Sie haben vermutlich schon von mir gehört. Wenn ich Ihnen in der Angelegenheit, die Sie beide beschäftigt, behilflich sein darf, melden Sie sich bei mir. Keine Sorge, sympathischen jungen Leuten wie Sie zuliebe werde ich mich gern für einen Termin freimachen. Und lassen Sie sich von meinem Ruf nicht abschrecken. Der Preis ist immer Verhandlungssache. Fern sei es von mir, meine Klienten arm zu machen.«

Ich nahm die Karte entgegen. Noch ehe ich sie lesen konnte, zupfte der Herr an seiner Hutkrempe, löste die Bremsen seines Rollstuhls und verabschiedete sich mit einem simplen »Ciao!«. Er drehte sein Gefährt von uns weg und lenkte es in den Park.

»Er ist Italiener, seinem Akzent nach zu urteilen«, stellte Tony fest, nachdem der Fremde unseren Blicken entschwunden war. »Was er wohl mit ›unsereins‹ gemeint hat? Und mit ›Berufskrankheit‹?«

Die Antwort darauf hielt ich in meiner Hand. Ich drehte Tony die Visitenkarte zu, damit er lesen konnte, was darauf stand: Benito Camponelli, Privatdetektiv. Ermittlung, Observation, Personenfahndung.

Liebreiz, Mord und Kaktusstiche

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