Читать книгу Liebreiz, Mord und Kaktusstiche - Bernharda May - Страница 4
3. Ein unverhofftes Wiedersehen
ОглавлениеOkay, eines muss ich zugeben: Ich habe die Polizeidirektion mitnichten »augenblicklich« verlassen. Das war nämlich gar nicht möglich, man musste ja zunächst all die Gänge vom Kommissariat 1 bis hin zum großen Warteraum bewältigen, und weil die alle gleich aussahen, benötigte ich eine Weile, bis ich mich zurechtfand. Den Kriminaldirektor Hummel aufzusuchen, gab ich während dieser Odyssee auf.
Als ich endlich draußen war, brauchte ich eine Minute, um zu verschnaufen. Die ganze Zeit über habe ich wohl unbewusst mit dem Kopf geschüttelt und vor mich hin geschimpft, denn auf einmal rief mir jemand zu:
»Flo Endesfelder! Wie immer in Selbstgespräche vertieft! Über wen motzt sie wohl heute?«
Ich sah auf und ein blonder Lockenkopf mit viel zu vielen Sommersprossen im Gesicht stand vor mir. Sein Grinsen war so breit, dass sich seine Augen zu engen Schlitzen verkleinert hatten. Wäre nicht ihr Funkeln gewesen, das durch die Wimpern glänzte, hätte man sie ohne Weiteres für verschlossen gehalten.
»Tony!«, rief ich überrascht aus.
Er war der letzte Mensch, mit dem ich vor dem Polizeigebäude gerechnet hätte.
»Was machst du denn hier?«
»Ich habe mein Fahrrad abgeholt«, erwiderte Tony und zeigte nicht ohne Stolz auf einen klapprigen Drahtesel, den er mit sich führte. »Es war mir vor einigen Wochen geklaut worden und ich hab auf dem Revier Anzeige gegen unbekannt erstattet. Viel Hoffnung hatte ich mir nicht gemacht, aber die Polizei hat mein Rad tatsächlich wiedergefunden. Der Dieb ist natürlich nicht zu ermitteln. Und du, was grummelst du hier vor dem Eingang vor dich hin?«
»Ich wollte ebenfalls eine Anzeige erstatten«, sagte ich missmutig.
»Ist dein Fahrrad auch weg? Diese dreisten Banditen!«
»Nein, ich besitze gar keines. Ich wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
»Scheint ja nicht geklappt zu haben«, bemerkte Tony. »Du schmollst wie damals, als du aus der mündlichen Prüfung rauskamst.«
Er lachte.
»Du hast mit einem ›sehr gut‹ gerechnet, aber nur ein ›gut‹ bekommen und konntest dich nicht freuen.«
»Anders als du, der schon froh war, überhaupt bestanden zu haben«, erinnerte ich mich.
Dieser Moment nach der mündlichen Prüfung, kurz vor unserem gemeinsamen Schulabschluss, war das letzte Mal gewesen, dass Tony und ich einander gesehen hatten. Für Jahre hatten wir die gleiche Klasse besucht und uns schon damals gut verstanden. Um den Kontakt über die Schulzeit hinaus aufrecht zu erhalten, waren wir jedoch nicht eng genug befreundet gewesen. Umso mehr erstaunte es mich, dass er mich so schnell wiedererkannt hatte.
»Leider ist mein Grund zum Schmollen heute ein ernsterer als damals«, sagte ich.
Tony hörte zu lachen auf und stimmte mir zu.
»Nicht zu wissen, wo ein geliebter Mensch steckt, ist bitter«, gab er zu. »Komm, lass uns spazieren gehen. Dann kannst du dir alles von der Seele reden.«
Dankbar nahm ich sein Angebot an. Weiterhin vor einer Polizeidirektion Selbstgespräche zu führen, schien mir nämlich keine gute Idee zu sein.
Wir schlenderten durch die Stadt und ich erklärte Tony in kurzen Stichpunkten, was mich zur Polizei geführt hatte.
»Das Aufgeben der Vermisstenanzeige hatte ich mir allerdings ganz anders vorgestellt«, schloss ich mürrisch meinen Bericht.
»Ja, jetzt kann ich verstehen, warum du sauer bist«, sagte Tony. »Da wird man sogar ins Kommissariat geschickt und am Ende war es pure Zeitverschwendung.«
»Du sagst es! Und rate mal, worauf dieser blöde Tork die ganze Zeit geschielt hat, während er mit mir sprach!«
Tony war entsetzt.
»Doch nicht etwa auf deine…?«
»Nein, viel schlimmer«, unterbrach ich ihn. »Auf seinen verflixten Computerbildschirm.«
»Vielleicht gab's dort Wichtiges zu lesen?«, meinte Tony. »Polizeiliche Infos, die er für euer Gespräch brauchte?«
»Von wegen! Ich hab ja auch draufgeguckt. Er hatte eine Internetseite geöffnet, einen Online-Spielwarenhandel. Nach ferngesteuerten Spielzeugautos hat er gesucht, statt nach meiner Tante! Das muss man sich mal vorstellen!«
Ich war wieder auf hundertachtzig. Zum Glück liefen wir durch einen Park, wo der Schatten der Bäume uns vor der Sommersonne schützte. Wer weiß, was meine hitzige Wut in Verbindung mit den hitzigen Strahlen sonst mit mir angerichtet hätte.
»Komm, lass uns ein Eis essen«, schlug er vor. »Dahinten ist ein Café.«
Wir setzten uns an einen Tisch im Außenbereich. Tony bestellte sich einen Eisbecher mit heißen Himbeeren, ich nahm mit einem Bananenmilchshake vorlieb. Das kalte Getränk dämpfte meine Erregung.
»Du hättest den Polizisten genauer schildern müssen, was es mit dem Handy deiner Tante auf sich hatte«, kam Tony schließlich auf unser Gesprächsthema zurück. »So exakt, wie du es mir eben erzählt hast – wie sie von einem Moment auf den anderen nicht mehr erreichbar war. Dann hätten sie für deine Sorge sicherlich mehr Verständnis gehabt.«
»Stimmt«, gestand ich ein, »für eine ausführliche Darstellung fehlte mir vorhin die Geduld. Aber die reagierten ja auf mein Argument hinsichtlich der Reservierung schon sehr verhalten.«
»Na ja, als Argument würde ich diesen Punkt nicht unbedingt bezeichnen«, entgegnete Tony. »Deine Tante hat euch vielleicht schon vor Wochen oder Monaten im Bistro angemeldet und im Nachhinein die Verabredung vergessen. Kann jedem passieren. Nicht nur älteren Herrschaften.«
Ich sagte dazu nichts und nippte an meinem Milchshake.
»Immerhin sind die Nachfragen von deinem Kommissar Tork sehr schlüssig gewesen«, meinte Tony. »Wenn du wüsstest, wo deine Patentante ihren Urlaub verbringen wollte oder was ihre Pläne für die kommenden Tage gewesen waren, könntest du ohne Weiteres auf die Suche nach ihr gehen.«
»Der Knackpunkt ist, dass ich das alles eben nicht weiß«, erwiderte ich und wollte zu mehr ansetzen, als mein Blick plötzlich auf die Eiskarte fiel. Ich stockte. »Café am Eck« stand da. Ich sah mich um und musste anfangen zu kichern.
»Was ist los?«, fragte Tony verunsichert.
Er fürchtete wohl, ich hätte einen hysterischen Anfall erlitten.
»Ich kriege jetzt erst mit, wo wir eigentlich sind, und muss über mich selber lachen«, beruhigte ich ihn. »Ganz unbewusst habe ich unseren Spaziergang zurück in die Südstadt gelenkt. Wir sind ganz in der Nähe von Tante Mariebelles Wohnung. Siehst du dort die beiden Eiben? Da geht es zur Querstraße, wo sie lebt. Wir haben sogar ab und zu dieses Café hier besucht.«
Ich schaute mich um und erkannte jetzt erst all die kleinen Details.
»Die Stühle mit weißem Holzrahmen und rotem Leder, die hellblauen Sonnenschirme mit den Fransen«, zählte ich auf, »das sieht alles schon seit Jahrzehnten so aus. Nur die Eiskarte hat ein neues Design.«
Ich wurde nachdenklich und trank weiter meinen Milchshake. Eine freche Wespe hatte sich an den Tisch gesellt und bestand hartnäckig auf ihren Anteil, egal wie sehr ich sie auch wegzuscheuchen versuchte. Tony kratzte genüsslich mit dem Löffel seinen Eisbecher leer; ihn belästigte die Wespe nicht.
»Wenn wir schon hier sind«, sagte ich, nachdem ich mein Glas zügig ausgeschlürft hatte, »können wir die Zeit sinnvoll nutzen und noch einmal genauer bei Herrn Ullmann fragen, was mit meiner Tante los ist.«
»Klaro, warum nicht?«, lautete Tonys Replik.
Keiner von uns beiden wunderte sich zu jenem Zeitpunkt auch nur ein Stückchen darüber, dass ich ihn seit unserem Wiedersehen automatisch in meine Suche nach Tante Mariebelle einbezog. Dies wiederum wundert mich heute, während ich rückblickend diese Zeilen schreibe, umso mehr.
Wie dem auch sei, wir zahlten zügig unsere Rechnung und fünf Minuten später standen wir vor Ullmanns Balkon. Leider machte er gerade eine Pause vom Rauchen und war nicht zu sehen.
»Dann klingeln wir eben«, entschied ich.
Der alte Mann ließ uns ins Haus, ohne über die Türsprechanlage überhaupt nach unseren Namen zu fragen. Als er uns auf dem Hausflur begrüßte, erkannte er mich gleich wieder und wusste diesmal meinen Namen.
»Die kleine Florentine! Hätte ich nicht gedacht, dass Sie heute noch ein zweites Mal herkommen. Was vergessen?«
»Sie hatten doch vorhin von einer Schriftstellerin gesprochen«, erinnerte ich ihn, »und mir ist eingefallen, dass bei Tante Mariebelle ein Buch von ihr liegen müsste.«
»Tatsächlich?«
»Ja, und ich würde es mir unheimlich gern ausleihen«, log ich weiter. »Haben Sie Blumendienst bei ihr? Dann müssen Sie doch auch den Schlüssel haben.«
»Den habe ich, ja«, sagte der Greis langsam und beäugte Tony argwöhnisch.
»Das ist ein guter Freund von mir«, erklärte ich. »Der tut nix.«
Ullmann blieb skeptisch, erklärte sich aber damit einverstanden, mich in Tante Mariebelles Wohnung zu lassen. Tony und ich mussten allerdings damit leben, dass er uns begleitete. Während ich so tat, als würde ich im Wohnzimmer nach dem Buch suchen, kam Ullmann mit Tony ins Gespräch. Er erzählte ihm von jener Schriftstellerin, über die er mit mir bereits gesprochen hatte, und weitete seine Geschichte auf seine Kindheit und Jugend in Wittgenstein aus. Tony hörte höflich zu, munterte den alten Mann mit einigen Sosos und Achjas sogar zum Weiterreden auf und konnte zu meinem großen Erstaunen selbst etwas zum Thema beisteuern.
»Der Name Wittgenstein findet sich ja mehrmals auf der deutschen Landkarte«, sagte er. »An der Lahn gibt es ein Schloss dieses Namens und in Thüringen soll es auch mal eine Burg Wittgenstein gegeben haben.«
»Oh ja«, stimmte Ullmann zu und zählte auf, wo überall dem Reisenden diese Bezeichnung begegnen könne.
Vor lauter Bewunderung für Tonys Geduld mit dem schwatzhaften Greis vergaß ich beinahe, nach Hinweisen für Tante Mariebelles Verbleib zu suchen. Auf einem Haushaltskalender an der Wand waren die letzten zwei Wochen eingekreist. »Niederfichtel« stand dort in der Handschrift meiner Patentante. Für heute hatte sie dort »Josés Bistro mit Flo« eingetragen. Ein Beweis dafür, dass sie mich nicht vergessen hatte! Die folgenden drei Tage waren leer, aber in der kommenden Woche wollte sie anscheinend nochmals verreisen. »Wandern mit Gitta und Fred«, stand da.
Ich kannte weder eine Gitta noch einen Fred, wusste aber, dass Tante Mariebelle einen kleinen Freundeskreis besaß, der regelmäßig Wandertouren unternahm. Dummerweise fand sich auf dem Kalender kein Hinweis darauf, wo sie diesmal auf Schusters Rappen unterwegs sein wollten.
»Nächste Woche fährt Tante Mariebelle wandern«, unterbrach ich das Gespräch der Männer, in der Hoffnung, Ullmann würde darauf reagieren.
Er tat es wirklich.
»Ja, sie erzählte mir davon. Der Hohe Meißner sollte es werden. Eigentlich wollte sie ja zwischendurch zurückkommen, damit ich dann ihre Pflanzen nicht mehr pflegen muss. Beim Hohen Meißner befindet sich übrigens der Frau-Holle-Teich, wussten Sie das?«
Ich ignorierte seine Frage und sah mich um. Die Zamioculcas auf dem Fensterbrett sah frisch aus, ebenso der Drachenbaum neben der Wohnzimmertür.
»Sie leisten gute Arbeit beim Gießen, Herr Ullmann«, lobte ich. »Aber wo ist Knut?«
»Den hat sie mitgenommen«, erwiderte der Nachbar.
»Wer ist Knut?«, wollte Tony wissen. »Ein Haustier?«
»Nein, ein Kaktus. Den habe ich Tante Mariebelle geschenkt, als er noch ganz klein war, und unter ihrer Pflege ist er groß und dick geworden. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er mit einem Unterarm vergleichbar.«
»Knut, der Kaktus«, murmelte Tony. »Sehr einfallsreich.«
»Wahrscheinlich hat sie ihn mitgenommen, damit Ullmann ihn nicht überwässert«, erklärte ich ihm im Flüsterton, damit es der alte Greis nicht höre.
Der begann unvermittelt zu husten und sagte:
»Ich muss mich für einen Augenblick zurückziehen. Bin gleich wieder da.«
Er verschwand aus der Wohnung.
»Braucht wohl die nächste Zigarette«, vermutete Tony und rümpfte die Nase. »Er stank ja wie ein überfüllter Aschenbecher.«
Ich entsann mich, dass Tony während unserer Schulzeit selbst ein Raucher gewesen war. Offensichtlich hatte er damit aufgehört und war nun, wie viele ehemalige Tabakgenießer, zu diesem Thema besonders kritisch eingestellt. Ich hingegen war froh, dass Ullmann die Nikotinsucht forttrieb, sonst hätte er womöglich noch mehr seiner alten Geschichten ausgegraben.
»Ich gebe zu, ich bin verblüfft über deine Gesprächskultur bei alten Leuten«, lobte ich Tony.
»Ach, da ist nichts dabei. Habe mal ein Praktikum in einem Seniorenheim gemacht. Dort lernt man das.«
Wir nutzten die Gelegenheit, unbeobachtet die Sachen meiner Tante zu durchwühlen. Ich schaute im Schlafzimmer nach, welche Art von Kleidung vorhanden war und welche fehlte. Tony inspizierte derweil die Mülleimer in der Küche und fand schließlich einen Hinweis im Altpapier, der uns weiterhelfen konnte.
»Zwei Papierumschläge der Bahngesellschaft«, sagte er. »In solchen Umschlägen verschicken sie Zugtickets, das weiß ich.«
»Also ist Tante Mariebelle mit dem Zug nach Niederfichtel gefahren«, erriet ich. »Was sie da wohl wollte?«
Ich eiferte Tony nach und kramte ebenfalls im Altpapier, während Tony sein Handy hervorholte, sein Internet aktivierte und den Ortsnamen in eine Suchmaschine eintippte.
»Sieh an«, sagte er. »es handelt sich bei Niederfichtel um einen ganz kleinen Ort am Rande des Gebirges. Gilt als Kurort, weshalb er einen eigenen Bahnhof bekommen hat. Wenig Einwohner, kaum Sehenswürdigkeiten, aber immerhin ein Schloss. Nennt sich Liebreiz.«
Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen, dass »Schloss Liebreiz« ein alberner Name war.
»Es heißt erst seit Kurzem so«, las Tony weiter vor. »Seitdem es umgewandelt wurde in ein… oha!«
Er blickte auf.
»Flo, auf einer Skala von eins bis zehn, wie hoch würdest du die Attraktivität deiner Patentante einschätzen?«
»Was soll die dumme Frage?«
Tony hielt mir sein Handy-Display vor die Nase. Schloss Liebreiz war, wie es schien, nichts anderes als eine Schönheitsfarm.
»Mit Moorbädern, Diäten, Massagen, Gurkenmasken und allem«, grinste er.
Ich überlegte. Tante Mariebelle war für ihr Alter nicht hässlich, aber ein bisschen fülliger als der Durchschnitt. Es war ihr durchaus zuzutrauen, sich vor einem Wanderausflug zunächst einer Schlankheitskur zu unterziehen, zumal, wenn sie dort professionell betreut wurde. Und natürlich würde sie niemandem, auch nicht mir, verraten, was sie vorhatte. Dafür war sie zu eitel.
»Wir brauchen nur in Schloss Liebreiz anzurufen und nachzufragen«, meinte Tony.
Ich war dagegen.
»Am Telefon wird man uns nichts verraten. Tante Mariebelle könnte unter falschem Namen dort sein oder gewünscht haben, dass man keine Auskunft über sie gibt. Außerdem –«
Ich zeigte auf den zweiten leeren Umschlag der Zuggesellschaft.
»– fehlt ein weiteres Ticket. Es ist bestimmt das für die Fahrt zum Hohen Meißner. Im Schlafzimmer habe ich weder Wanderschuhe, noch ein Trekkingoutfit gefunden.«
»Das heißt, sie könnte von Niederfichtel aus direkt zum Meißner gefahren sein«, schlussfolgerte Tony.
»Und hat mich und das Bistro tatsächlich einfach nur vergessen«, seufzte ich.
»Aber die Sache mit dem plötzlichen Ausfall ihres Handys?«, gab Tony zu Bedenken.
Stimmt, das war nach wie vor merkwürdig. Ich wollte unbedingt herausfinden, was es damit auf sich hatte. Deshalb machte ich Tony folgenden Vorschlag:
»Wir teilen uns auf. Für den Fall, dass etwas Ernstes passiert ist, erhöht das die Chance, dass wir Tante Mariebelle helfen können.«
»Und für den Fall, dass du dir jedwede Gefahr nur einbildest, haben wir nicht allzu viel Zeit verschwendet«, fügte Tony hinzu. »Welchen Weg gebietest du mir also zu gehen?«
Ich staunte über Tonys Ausdrucksweise.
»›Jedwede Gefahr‹? ›Gebieten‹?«, äffte ich ihn nach und setzte noch eins drauf:
»Warum, so künde mir, befleißigst du dich derart ausgewählter Sprache?«
Tony lachte.
»Schloss Liebreiz hat mich inspiriert«, entschuldigte er sich. »Ich habe mal bei einer Gauklertruppe gearbeitet, die regelmäßig auf Mittelaltermärkten aufgetreten ist. Dort haben wir alle so geredet.«
»Na, dann ist Schloss Liebreiz das rechte Ziel für dich«, entschied ich. »Fahr hin und frag persönlich nach Tante Mariebelle. Ich gebe dir ein Foto mit.«
»Und was willst du unternehmen?«
»Ich werde alle Hotels rund um den Hohen Meißner abtelefonieren, ob sie dort irgendwo abgestiegen ist. Das wird dauern.«
Ich schnappte mir ein Adressheft, das im Flur neben Tante Mariebelles Festnetztelefon lag, und steckte es ein.
»Vielleicht finde ich einen Fred oder eine Gitta da drin«, sagte ich.
In der Tür trafen wir ein letztes Mal Herrn Ullmann.
»Sie gehen schon?«, fragte er. »Haben Sie das Buch gefunden?«
Ich nickte und klopfte auf meine Handtasche. Tony schloss die Wohnungstür ab und reichte dem Nachbarn den Schlüssel. Der kicherte wieder eigentümlich vor sich hin.
»Schon komisch«, sagte er, »solange Ihre Tante daheim ist, empfängt sie kaum Besuch. Jetzt ist sie im Urlaub und die Leute wollen ihr schier die Tür einrennen.«
»Wie meinen Sie das?«
Ich war verwirrt. Die geringe Anzahl von gerade einmal zwei Besuchern konnte auf den Greis kaum solch starken Eindruck gemacht haben, um eine Bemerkung wie eben zu rechtfertigen.
»Es war heute noch jemand anderes hier und wollte zu Frau Puttensen«, erklärte er. »Ein hochgewachsener Kerl mit Halbglatze war das. Hab ihn nie zuvor hier gesehen. Hat sich nach Ihrer Tante erkundigt und ist wieder abgezogen.«
Tony schaute mich fragend an. Ich zuckte mit den Achseln; die Beschreibung des Fremden sagte mir rein gar nichts.
»Keine Angst, Fräulein Flo«, sprach Ullmann weiter. »Ich habe diesem Kerl natürlich nicht von meinem Schlüssel zu Frau Puttensens Wohnung erzählt. Bei den klobigen Schuhen, die er trug, hätte sie ihn niemals auf ihren Teppich gelassen, da bin ich sicher.«