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Ich halte mich nur an die Wahrheit

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Es war kurz nach eins, als die ersten Wolken auftauchten.

Anfangs war es nur eine sehr dünne Kette aus kleinen Wölkchen, die eher an Sahnetupfer auf hellblauem Marzipan erinnerten. Aber sie vermehrten sich rasch, wuchsen, wurden höher und breiter und marschierten zielstrebig in unsere Richtung.

„Das gibt bestimmt Regen“, sagte Cammi und nahm die Sonnenbrille ab.

Sie erhob sich aus dem Liegestuhl auf der Terrasse, den sie sofort beschlagnahmt hatte, streckte den Arm nach ihrem gelben T-Shirt aus und schlängelte sich hinein. Als der blonde Haarbusch durch die Halsöffnung gekommen war, schaute sie mit zusammengekniffenen Augen zu der dicken Wolke hoch, die ihre strebsamen Bemühungen, braun und möglichst noch brauner zu werden, soeben unterbunden hatte.

„Wer wird denn so pessimistisch sein!“ sagte mein Vater und stellte mit einem dumpfen Plumps einen Sack Grillkohle ab.

„Mal sehen, ob Mama in der Küche Hilfe braucht“, sagte Cammi und verschwand durch die Terrassentür.

Mein Vater werkelte wie wild an dem Grill herum. Da der Tobbe und Chatti gehörte, war er natürlich ein sehr fortschrittliches High-Tech-Modell mit zahllosen Schläuchen, Meßinstrumenten und Steuerungen. In meinen Augen sah er eher wie eine rollende Intensivstation aus.

Natürlich mußte gegrillt werden. Schließlich war ja Mittsommer, und wenn die Familie Pihlsten ein Gesetz hatte, dann dieses – am Mittsommerabend mußte man grillen.

Unten in Schonen hatten wir eine billigere Version, einen dieser runden Grills auf drei Beinen, die wie ausrangierte alte Roboter aus dem ‚Krieg der Sterne‘ aussehen. Manchmal glaube ich fast, daß sie das tatsächlich auch sind, als Grill scheinen sie nämlich nie zu funktionieren. Alles schmeckt nur nach Ruß und nach Zündflüssigkeit.

Aber vielleicht liegt das auch an meinem Alten.

Es würde sehr interessant werden festzustellen, wie Tobbes und Chattis High-Tech-Grillstation mit den Steaks für die ganze Gesellschaft fertig werden würde, denn selbstverständlich wurden Gäste erwartet. Die besten Freunde meiner Eltern, Ulf und Eva, waren schon unterwegs.

Das klingt ja nicht besonders schlimm – Ulf und Eva. Zwei Personen. Aber so harmlos war es eben nicht. Ulf und Eva bedeuteten in Wirklichkeit sieben Lebewesen.

Erstens Ulf und Eva selbst, dann ihre zwölfjährigen Kotzbrocken von Zwillingen, Anna und Anders, ihr fünfjähriger Nachzügler Louise und zwei unglaublich lästige, unerzogene Hunde namens Bill und Bull.

Mann, das war vielleicht eine Pest!

Ehrlich gesagt, waren die fast noch gräßlicher als wir.

Für manche Erwachsene scheint der Sinn des Lebens darin zu liegen, sich am laufenden Band Kinder, Katzen und Hunde anzuschaffen und dann pausenlos mit anderen, genauso chaotischen Familien zu verkehren. Da läuft dann ein ewiges, kompliziertes Hin und Her mit tausend Verwicklungen und endlosem Organisieren, da werden Abendessen, Feste, Urlaube und Ausflüge veranstaltet, da muß man Babysitter, Hundesitter und Katzensitter besorgen, die Wohnung gegen ein Reihenhaus tauschen und das Reihenhaus gegen ein besseres Reihenhaus oder sogar gegen ein Einfamilienhaus, neue Gebrauchtwagen kaufen, in denen alles verstaut werden muß, und dann hat man zu guter Letzt doch die Hälfte daheim vergessen.

Werde ich mich auch einmal auf so ein Chaos einlassen? O heiliger Moses! Werd ich auch mal so werden wie mein Alter und Uffe? Mit Kindern und Job und Auto und Ratenzahlungen und Verwandtentreffen? Thank you, but NO!

Manchmal werd ich ganz matt, wenn ich diese Art von Familien nur sehe. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil alles so verdammt problematisch zu sein scheint. Wenn man ihnen zuhört, stellt es sich heraus, daß sie tatsächlich andauernd Probleme haben, sie reden nämlich über nichts anderes – Probleme mit den Kindern, mit Kindergartentanten, Lehrern und Jugendleitern, mit Erkältungen, Keuchhusten und Grippe, mit Ausschlägen und Allergien und Wäsche und Zeit und Kleidern und Preisen und Steuern und Geld, Geld und noch mal Geld, und zum Schluß, aber ebenso ausführlich, dieses Wetter, das nie gut ist, so wie es ist, nein, es ist stets eine ‚Zumutung‘.

Gegen drei Uhr hatten die Wolken sich in gigantische, tieffliegende, stahlgraublauschwarze Gewitterbomber verwandelt, die als geballte Invasionsarmada zum Angriff übergingen.

„Ist das nicht typisch?“ rief meine Mutter, als sie mit einem Stapel Teller und Besteck herauskam. „Warum muß es jedesmal so werden?“ seufzte sie und warf den Wolken wütende Blicke zu.

„Keine Ahnung“, sagte ich und erhob mich vom Liegestuhl, den ich von Cammi übernommen hatte.

„Früher war Mittsommer immer so richtig schön, ich verstehe nicht, warum das jetzt nie mehr der Fall ist.“

„Na ja, wir sind ja nicht gerade am Absaufen“, entgegnete ich.

„Und ein Dach überm Kopf haben wir auch (ich zeigte zum Verandadach rauf). Und übrigens ist es nur gut, wenn es regnet und kühler wird.“

„Nur gut?“

„Ja, erstens müßte es dringend regnen, das hast du selbst heute gesagt, weil es schon so lange heiß und trocken gewesen ist.“

„Ja, ja.“ Sie wedelte meine Worte weg.

„Und außerdem kühlt es die Leute ab. Dann lassen sie sich nicht so vollaufen, eine Menge Waldbrände werden vermieden, und die Natur wird nicht so vollgekotzt. Und außerdem ertrinken weniger Saufköpfe, und es gibt weniger Messerstechereien, Vergewaltigungen, Schlägereien und zu Tode geprügelte Ehefrauen und alte Leute.“

„Warum mußt du immer so roh sein?“ fragte sie und richtete ihre Wut auf mich statt auf die Wolken.

Ich zuckte nur mit den Schultern und lehnte mich ans Geländer.

„Halte mich bloß an die Wahrheit“, sagte ich und dachte daran, wie oft ich zu hören bekommen hatte, daß ich mich daran halten sollte, anstatt zu lügen.

Leider war diese Spitze viel zu fein.

„Unsinn“, sagte sie nur. „Geh lieber rein und hilf Cammi bei dem Kartoffelsalat“, während sie Teller und Besteck auf dem Tisch verteilte.

Hinter den Fensterwänden lagen das große Wohnzimmer, eine kleine Küche und eine Toilette, das war das Erdgeschoß. Upstairs dann noch drei kleine Schlafzimmer.

Ich ging am Bücherregal vorbei und stellte fest, daß die Videosammlung seit letztem Sommer beträchtlich angeschwollen war.

Tobbe und Chatti hatten mehr Videokassetten als Bücher im Bücherregal, und obwohl ihr Geschmack nicht unbedingt mit meinem übereinstimmte, gab es doch ein paar alte Filme darunter, die ich gerne sehen wollte. ‚Casablanca‘ zum Beispiel, und die alten Bondfilme mit Sean Connery. In der Küche stand Cammi an der Spüle und hackte Gurken für den Kartoffelsalat.

„Was soll ich tun?“ fragte ich.

„Such mal den Dosenöffner und mach die sieben Kartoffeldosen auf.“

„Sieben Dosen?“

„Sieben große Dosen.“

„Man könnte ja meinen, die ganze Scheißverwandtschaft sei eingeladen.“

„Du weißt doch, wie Ulf und Eva sind – von den beiden fetten Möpsen gar nicht erst zu reden.“

„Damit meinst du die Zwillinge und nicht die Hunde, nehme ich an?“

„Ganz recht.“

„Sag mal“, begann Cammi mit ihrer vertraulichen Unteruns-Stimme, „willst du tatsächlich ganz solo hier sein? Findest du das nicht irgendwie unheimlich?“

„Ach was, keine Spur“, antwortete ich und klang dabei etwas herablassend, wie man eben mit seiner kleinen Schwester spricht. Vielleicht klang ich etwas zu herablassend, denn Cammi warf mir einen gehässigen Blick zu.

„Ha, ich glaube, daß du Carina herschmuggeln willst“, sagte sie spöttisch.

Ganz schön fies, sie wußte nämlich genau, daß das mit Carina eine heikle Sache war.

Aber das war natürlich auch der Grund, warum sie es gesagt hatte. Seit ich ihr im vergangenen Jahr weisgemacht hatte, ich würde mit ihrem größten Rockidol korrespondieren, hatte sie keine Gelegenheit ausgelassen, mir eins auszuwischen. Der Bluff hatte mich große Mühe gekostet – ich hatte ‚seine‘ Briefe auf der alten IBM meines Vaters geschrieben und ‚seine‘ Autogramme sorgfältigst gefälscht. Schließlich war es mir sogar gelungen, Cammi ins Grand Hotel zu schicken, wo sie glaubte, ihren Schwarm dank meiner Beziehungen treffen zu dürfen. Er wohnte natürlich in einem ganz anderen Hotel, und ich hatte keine Ahnung, was sich im ‚Grand‘ beim Portier abgespielt hatte, aber Cammi war außer sich vor Wut gewesen und hatte es mir, wie gesagt, noch nicht verziehen. Eines Tages würde sie es mir heimzahlen, sagte sie immer, und zwar mit Zinsen.

„Gib’s auf“, sagte ich. „Ich werd tatsächlich allein hier sein, total allein, und es wird eine echte Erholung sein, diese irre Familie eine Weile loszusein und all das Gewäsch und Gelabere und alle Fragen und Unverschämtheiten und vor allem alle rotznasigen Schwestern!“

Cammi kicherte zufrieden, zuckte mit den Schultern und legte sich mit einer übertrieben affektierten Geste eine Gurkenscheibe auf die Zunge, die sie mir herausgestreckt hatte.

Michelle

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