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Zeitraffer

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Den restlichen Tag und Abend läßt man am besten mit runtergedrücktem Fast-Forward-Knopf durchlaufen:

Ulf, Eva, Hunde und Gören kommen im kackbraunen Toyota an. Alle rennen durcheinander, die Köter wackeln dösig durch die Gegend und geben ab und zu ein halbherziges Kläffen von sich, meine Mutter und Eva und mein Vater und Ulf reden und lachen und grinsen und stöhnen über die Hitze. Die Nachzüglerin Louise hat ein feines Kleidchen an und ist sehr schüchtern und versteckt sich die meiste Zeit hinter Mamas solariumgebräunten Beinen. Es gibt Empfangsdrinks und Saft. Der Grill wird inspiziert und diskutiert. Ich rede und lächle und rede, lache und verzapfe eine Menge Käse, genau wie die anderen, bin ein echter Goldschatz, Mutters Liebling. Cammi entschuldigt sich und verschwindet die Treppe hinauf, um sich umzuziehen – und das dauert verdammt lang, weil sie sich natürlich auch umschminken muß. Die Zwillinge werden albern und verschütten Saft, man redet über Fernsehserien, die meine Mutter und Eva riesig finden und die mein Vater und Ulf idiotisch finden (behaupten sie wenigstens. Möcht nur wissen, warum sie sie dann überhaupt angucken), die Frühkartoffeln kochen mit Dillzweigen im Wasser, Plupper, Plupper, Kläff, Lach, Klirr und dann plötzlich:

Zzzwisch!!!

(Hier kann der Fast Forward-Knopf losgelassen werden.)

Ein Blitz fährt aus den Wolken herab und verschwindet im dunklen Wasser der Bucht zwischen zwei Inseln hinten am Horizont. Gleich darauf kracht der Donner los und erschreckt die Hunde, die Zwillinge, die kleine Louise und meine Mutter zu Tode (aber meine Mutter hat ja sowieso immer vor allem Angst, das ist also nicht weiter verwunderlich).

Noch ein paar Donnerattacken, weniger deutliche Blitze, aber anhaltendes Poltern und Grollen. Dann setzt plötzlich ein heftiger Hagelschauer ein, der ohrenbetäubend aufs Verandadach prasselt.

Kabuuum!!!

Blitz und Donner gleichzeitig.

Der Hagel hört auf und wird von einer Regenflut abgelöst, die aber kurz darauf ebenfalls abebbt.

(Den FF-Knopf wieder reindrücken.)

Cammi kommt die Treppe runter, kriegt alberne Komplimente für ihre Kleider, die Fettmöpse Anne und Anders hüpfen kichernd durch die Gegend, alle hocken sich an den Tisch, unruhige Blicke zu den Wolken rüber, die Hitze immer noch genauso drückend, trotz Gewitter, die Kartoffeln werden reingetragen, Bierflaschen und Aquavit, Hering in verschiedenen Marinaden kommt auf den Tisch.

Cammi sitzt mir gegenüber, seufzt und verdreht die Augen, will keinen Hering, macht sich ein Käsebrot, die Kinder schlabbern ihr Spezialmenü in sich rein – Leberwurstbrote und Pepsi.

Mein Alter kippt sich eine halbe Flasche Bier hinter die Binde. Hering und Kartoffeln verschwinden in den Mündern, die Zwillinge verschmieren sich mit Leberwurst. Cammi seufzt erneut und macht eine Leidensmiene.

Ich kann sie verstehen.

Aber sie leidet wenigstens mit Stil, das steht fest.

(Rein mit dem Pause-Knopf. Das Bild hält an:) Eine Petroleumlampe wirft ihr flackerndes, schmeichelndes Licht von rechts auf Cammi. Das Licht zeichnet Schatten auf Cammis linke Gesichtshälfte, läßt aber beide Augen funkeln.

Jetzt sieht meine Schwester ganz anders aus als vorhin. Es ist, als wäre sie eine ganz andere Person – und vielleicht ist sie das auch. Ich beneide die Mädchen, weil sie sich schminken und sich selbst viel mehr verändern können als wir Jungs.

Am Vormittag hatte sie erklärt, sie sei auf dem ‚ordinären Trip‘. Jetzt sieht sie viel eleganter und erwachsener aus. Sie hat die Haare nach hinten gekämmt und alle wilden Lokken rausgebürstet und sie zu einem Knoten im Nacken hochgesteckt.

Sie trägt ein enganliegendes Jackett, aber keine Bluse darunter, nur einen lila Spitzen-BH, und das sieht ganz schön raffiniert aus. Natürlich regen meine beiden Alten sich darüber auf, aber sie versuchen vor Ulf und Eva gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich seh es meiner Mutter an, daß sie sich sogar sehr aufregt – was Cammi bestimmt beabsichtigt hat.

Wenn ich ehrlich sein soll, ist Cammi sehr schön. Und das hat nichts damit zu tun, daß sie hübsch ist und sich schminken kann – nein, sie ist von innen her schön. Ja, so ist es. Es gibt ja jede Menge hübscher Weiber, aber dieses ganz Eigene, dieses Besondere, das Innere, das haben nicht viele. Ich weiß nicht, was es ist – eine gewisse Sicherheit vielleicht?

Mannomann, wenn ich nicht ihr Bruder wär, würde ich mich wahrscheinlich vom Fleck weg in sie verknallen. Und geil würde ich auch werden, dachte ich und spürte, daß ich ganz heiß im Gesicht wurde und wahrscheinlich errötete, aber das sah ja niemand. Eigentlich echt idiotisch, warum darf ich nicht erwähnen, daß ich geil auf sie werde, bloß weil sie meine Schwester ist?

So viel vergeudete Energie, dachte ich dann, aber das findet sie selbst natürlich nicht, weil es ihr ja Spaß macht, sich zu schminken und zu kostümieren.

Nach jahrelangem Gemecker und Gezeter (meine Mutter erlaubte es Cammi unter keinen Umständen, sich zu schminken, wahrscheinlich glaubte sie, Cammi würde vergewaltigt werden, wenn sie einen Lippenstift nur anschaute), wurde es der jungen Dame letztes Jahr gestattet, sich anzumalen. Sie legte mit unglaublicher Energie los, wahrscheinlich vor allem, um meine Mutter zu ärgern – und das gelang ihr ganz ausgezeichnet.

(Jetzt lassen wir den Film wieder schneller durchlaufen:)

Noch mehr Schnäpse und Hering und Kartoffeln und Knäckebrot, die Erwachsenen verzapfen immer größeren Blödsinn, je mehr Schnäpse sie kippen, der Tisch wird abgedeckt (von meiner Mutter, Cammi und mir), während die Herren sich mit dem Grill abmühen, meine Mutter trägt große Schüsseln mit Kartoffelsalat heraus, Weinflaschen werden geöffnet, die Steaks kommen auf den Grill, die Bill- und Bullköter rasen herum und betteln Frissifrassi.

Der High-Tech-Grill hilft auch nichts, mein Steak schmeckt nach Brennspiritus – also muß es an meinem Vater liegen.

Die Zwillinge stochern im Kartoffelsalat und möchten wissen, warum sie keine pommes frites zu ihren extra aufgewärmten Fleischklößchen kriegen.

Ich esse und ich rede und ich höre mich selbst, als ob jemand neben mir stünde, der an meiner Stelle redet, und alles, was ich von mir gebe, klingt hohl und ganz schön öde. Ich habe nur einen einzigen Gedanken – hoffentlich fahren sie morgen früh rechtzeitig ab.

Dann wird angestoßen, die Wolken sind immer noch tiefschwarz, aber es regnet nicht, die Hunde dösen, Cammi schaut mich lange an, ohne etwas zu sagen, und als ich ihrem Blick begegne, fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, daß dies Cammi ist, meine kleine Schwester, die da sitzt und fast unmerklich mit dem Kopf nach hinten nickt. Ich verstehe sofort, was sie meint, sie steht auf, bedankt sich fürs Essen und sagt, daß sie gleich wiederkommt.

Kurz darauf bedanke ich mich ebenfalls fürs Essen, laufe ins Haus, hole Glimmstengel und Streichhölzer und schleiche wieder raus, geh die Treppe zur Garage runter, wo Cammi hinter der Ecke steht und wartet.

„Heiliger Strohsack!“ seufzt sie. „Her mit ’ner Fluppe, sonst geb ich den Geist auf!“

Michelle

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