Читать книгу Michelle - Bernt Danielsson - Страница 9
Wie auf einer Ansichtskarte
ОглавлениеIn einem ehemaligen Holzschuppen direkt hinter der Garage fand ich wie erwartet zwei Fahrräder. Ich zerrte das Fahrrad raus, das am nächsten stand, und das entpuppte sich als klassische Tantenmühle. Am Lenker baumelte ein blaugestrichener Fahrradkorb, der seine besten Tage vermutlich zu Anfang des Jahrhunderts gesehen hatte.
Natürlich keine Luft in den Reifen.
Nachdem ich einen Berg von Gerümpel durchwühlt hatte, grub ich doch tatsächlich eine Luftpumpe aus.
Ich pumpte beide Reifen auf und ging dann wieder zum Haus hinauf, sicherheitshalber wollte ich das Fahrrad eine Weile stehen lassen, um festzustellen, ob die Reifen dicht waren.
Aus der Gefriertruhe holte ich mir ein paar Brötchen und eiskalte Würstchen. Die würden bis zur Mittagszeit aufgetaut sein.
Im Kühlschrank fand ich eine Tube Senf, und außerdem holte ich noch eine große Pepsiflasche heraus.
Wirklich angenehm, wenn man sich einfach so bedienen darf, dachte ich. Und einfach phantastisch, keine dämlichen Kommentare und Fragen hören zu müssen.
Ich steckte alles in eine Plastiktüte, die ich in ein großes Frotteetuch rollte, und das Frotteetuch stopfte ich in meine Umhängetasche.
Aus dem ziemlich kümmerlich bestückten Bücherregal holte ich mir ein Taschenbuch, das ‚Operation Paris‘ hieß. Der Autor nannte sich Ernst Davies, und das Titelbild zeigte eine scharfe Biene mit einer Maschinenpistole und im Hintergrund den Eiffelturm bei Nacht.
Die Reifen waren noch unverändert prall, aber um ganz sicher zu gehen, klemmte ich die Pumpe auf den Gepäckträger. Die Tasche stellte ich in den Fahrradkorb, und dann strampelte ich los.
Das Fahrrad lief so leicht, wie es sehr alte Damenfahrräder manchmal an sich haben. Ich fuhr auf die Straße und testete die Bremsen auf der steilen Abwärtsstrecke. Hinter den Bäumen schaute das Nachbarhaus hervor, und weiter unten in Richtung Wasser sah ich das Dach des zweiten Hauses, in dem gestern abend ebenfalls Licht gewesen war.
Unten nach der Kreuzung fuhr ich eine Zeitlang auf der Straße weiter, bevor ich auf einen schmalen Kiesweg einbog, der zwischen die Bäume führte und bald zu einem Pfad wurde. Ich hatte beschlossen, die Abkürzung durch den Wald und über die abschüssigen Wiesen zur Bucht zu nehmen, um danach wieder zur Straße raufzuradeln. Die Straße führte an die Nordspitze der Insel, wo alle Badeplätze lagen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich die ganze Strecke schaffen würde. Ich hatte keine Ahnung, wie weit es war – war nur ein einziges Mal mit Tobbe und Chatti im Auto dorthin gefahren.
Obwohl die Sonne noch nicht über die Baumwipfel gestiegen war und der Waldpfad immer noch ein wenig nächtliche Kühle speicherte, war ich bereits nach ein paar Minuten schweißgebadet. Echt miese Kondition. Wie soll das erst werden, wenn man dreißig ist, überlegte ich.
Nach zehn Minuten hörten die Waldwände abrupt auf, und der Pfad verwandelte sich in einen schmalen Weg, der durch eine Wiese führte. Rechts am Fuß der Wiese wehte das Schilf sanft in der leichten Brise.
Wie auf einer Ansichtskarte.
Weit hinten trieben ein paar weiße Wolkenfetzen über zwei, drei kleinen Inseln, die den Horizont unterbrachen, sonst war der Himmel völlig blau.
Nach einer Weile strampelte ich ächzend wieder auf die Landstraße hinauf und landete fast im Graben, als ein wütender roter Linienbus vorbeifuhr.
„Heiliger Moses! Der Bus!“ stöhnte ich. Ich Rindvieh hätte doch den Fahrplan studieren und die ganze Strecke mit dem Bus zurücklegen können!
Ich schob das Fahrrad wieder auf den Asphalt und strampelte weiter, sauste an ein paar Abzweigungen vorbei und sah alte rote Häuser, die ursprünglich wohl Fischern gehört hatten und inzwischen zu Sommerhäusern umfunktioniert worden waren.
Ich war schon verdammt müde, und dabei hatte ich noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt. Aber eigentlich müßte es hier auch gute Badeplätze geben, sagte ich mir und entdeckte einen kleinen Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand. Ich bog in ihn ein und machte zwischen heraufragenden Wurzeln und Steinen eine regelrechte Slalomfahrt.
Plötzlich endete der Pfad vor ein paar bemoosten Steinblöcken. Das etwas matte Vogelgezwitscher wurde von Wassergeplansche und Kindergeschrei übertönt, und das klang ja recht vielversprechend. Ich lehnte das Fahrrad an eine Kiefer und überlegte kurz, ob ich die Fahrradpumpe sicherheitshalber mitnehmen sollte. Doch im selben Moment entdeckte ich, daß das Fahrrad gar kein Schloß hatte, und da wäre es ja lächerlich, ausgerechnet die Pumpe mitzuschleppen.
Zwischen den schweren Steinblöcken führte ein schmaler Wildwechsel zum Wasser hinunter.
Ich nahm meine Tasche, folgte dem Pfad, kletterte einen steilen Hang hinauf und marschierte von dort aus unbehindert auf ein paar flache Felsabsätze runter, die ins Wasser hinausragten.
Das Wasser glitzerte, funkelte und gluckste. Von links drangen das Geplansche und der Kinderlärm jetzt noch deutlicher herüber. Ich begab mich in die entgegengesetzte Richtung, kletterte über ein paar hohe Steinblöcke und fand dann den perfekten Platz: wie ein kleines Zimmer mit drei Wänden und freiem Blick aufs Wasser. Zu beiden Seiten schossen fast zwei Meter hohe Felsen vor, und ganz hinten bot eine steinerne Wand eine sehr bequeme Rükkenlehne. Ich stellte die Tasche ab und sprang auf einen Stein im Wasser, von wo aus ich um die Felsmauern schauen konnte. Ein gutes Stück weiter weg hüpften die planschenden Kinder im Wasser auf und ab. Dort wimmelte es von Leuten in Badehosen, Bikinis und Badeanzügen, die auf Decken und Badetüchern verteilt herumlagen. Alle waren flach ausgestreckt und sahen aus wie tot, bis auf zwei Mädchen, die aufrecht dasaßen und keinerlei Bekleidung anzuhaben schienen. Sie futterten irgendwas und tranken dann ausgiebig aus einer großen Flasche. Der Abstand war etwas zu groß, um es eindeutig feststellen zu können – aber die eine der beiden sah ausgesprochen interessant aus.
Warum haben sich alle Leute an dieser einen Stelle zusammengepfercht? fragte ich mich.
Herdentrieb, antwortete ich. Oder vielleicht werde ich auch schmerzhaft feststellen müssen, daß mein ideales Fleckchen hier von roten Ameisen und Schlangen nur so wimmelt.
Ich hab mich schon immer darüber gewundert, daß die Leute sich so gern zusammendrängen. Meine Eltern sind natürlich schon immer so gewesen. Wenn wir in Schonen zum Schwimmen gingen, schienen sie mit Absicht jene Stellen auszusuchen, wo sich die allermeisten Leute drängelten. Ausgerechnet dort mußten sie dann ihre Decken und Handtücher ausbreiten und Cammi und mich runterquetschen und das Picknick auftischen. Mitten im Menschenbrei. In meiner Erinnerung gibt es viel zu viele verschwitzte Tanten und Onkels, grölende Kofferradios, schreiende Kinder und kläffende, unerzogene Hunde. Unterwegs waren wir jedesmal an mehreren leeren kleinen Sandstränden vorbeigefahren. Das kapierte ich einfach nicht.
Jetzt breitete ich mein Frotteebadetuch aus und zog Hemd und Jeans aus. Vielleicht sollte ich mich ausnahmsweise den schädlichen UV-Strahlen aussetzen? Damit man auch ganz bestimmt Hautkrebs bekam, also, damit man sich nicht ausgeschlossen zu fühlen brauchte... Ich steckte mir einen Glimmstengel an, lehnte den Rücken an die warme Felswand und dachte an nichts Bestimmtes.
In Wirklichkeit dachte ich natürlich an tausenderlei Sachen, wie immer – ein Sammelsurium kleiner Gedankenfetzen und Filmfragmente, die wie Meteoriten kunterbunt durch das Weltall meines Gehirns hin und her fetzten.
Ich überlegte, wann ich essen sollte, dachte an diese beiden mehr oder weniger nackten Bienen (das heißt, vor allem an die eine, die mit den glitzernden Ohrringen und den spitzen Brüsten...), fragte mich, was ich hier eigentlich verloren hatte, erinnerte mich an einen alten Song, der ‚Road to Nowhere‘ hieß, dachte an Cammi, die jetzt bestimmt auf dem Rücksitz durchgerüttelt wurde, während sie meine Eltern zu irgendeiner ländlichen Auktion begleiten mußte, sagte mir, daß es höchstwahrscheinlich keinen Gott gab, stellte fest, daß ich ein bißchen geil war (mmh, sie hatte wirklich...) und daß ich nach meiner schweißtreibenden Radtour ziemlich Durst hatte.
Ich drückte die Zigarette am Stein aus, holte die Pepsiflasche raus und schüttete fast die Hälfte in mich rein, dann stellte ich sowohl Flasche als auch Tasche hinter einen struppigen dürren Busch in den Schatten. Nachdem ich das Buch herausgeholt hatte, setzte ich mich wieder hin.
Ganz in der Nähe zwitscherte ein Schwarm Vögel. Weit draußen zog ein weißes Schiff sachte vorbei. Die Kinder schrien und planschten.
Ich setzte meine Sonnenbrille auf und fühlte mich total gut. Ich hätte natürlich zu den beiden Bienen rüberschlendern und myself vorstellen sollen.
Klaro, aber dann wär ich nicht mehr so cool wie jetzt, trotz Sonnenbrille. Beim bloßen Gedanken daran begann ich zu schwitzen.
Möchte zu gern wissen, warum ich nur dann so cool sein kann, wenn ich allein bin?
Ich nahm ‚Operation Paris‘ zur Hand und schlug die erste Seite auf.
Es war ein schöner Morgen. Die Kastanien im Jardin de Luxembourg waren voll erblüht. Die Blumenverkäuferinnen kamen nach und nach vom Markt und begannen, ihre Stände aufzubauen. Auf dem Boulevard wimmelte es von Menschen, die zu ihrer Arbeit unterwegs waren. Bei Rodots ließen Yvonne und Madeleine ihre ramponierte Schönheit wieder herstellen, kauten mit von Karamelcreme gelb verschmierten Mündern frische Croissants.
Die Strahlenbündel der Morgensonne durchbrachen den Rauch von 72 000 Gebäuden und beschienen die 4 Millionen Fenster dieser Gebäude.
Als ich ihr begegnete, hatte sie die Maschinenpistole in der Givenchytasche versteckt und die Sonnenbrille in die krausen blonden Haare geschoben.
Klingt wie eine Beschreibung von Cammi, dachte ich und gähnte. Ätzend, wie zäh das anfängt. Ich schloß die Augen.
Schloß die Augen und gähnte noch einmal.
Schloß die Augen.