Читать книгу Von hier bis Kim - Bernt Danielsson - Страница 6
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ОглавлениеNa, was sagt ihr jetzt?
Nicht schlecht, was?
Das war doch recht gut, oder – um nicht zu sagen, verdammt gut?
Ja, genau, finde ich auch. Aber, um ehrlich zu sein, muß ich zugeben, daß ich das Ganze aus einem Buch geklaut habe. Nicht daß das etwas ausmachen würde, das meiste im Leben klaut man ja eh, nicht wahr? Aber gebt zu, daß es gut war?
Welches Buch?
O nein, ich habe keineswegs vor, zu verraten, was für ein Buch das ist. In der Bücherei ist es sowieso nicht zu finden. Und Ganz bestimmt nicht in der Kinder- und Jugendbuchabteilung.
Diese Bezeichnung ist wirklich der pure Hohn!
Kinder- und Jugendbuchabteilung!!
Völlig wahnsinnig. Die stecken mich doch glatt zu den Fünf- und Sechsjährigen; die erwarten doch tatsächlich, daß ich mich mit kreischenden Kleinkindern in der Schlange vor der Ausleihe drängle! Einfach unglaublich!
Nun, ich war also fest davon überzeugt, daß es in Stockholm von Penthousepuppen nur so Wimmelte, die vor Begierde nach meinem jungen, eifrigen, scharfen Körper völlig außer sich geraten würden.
In meinen schwächsten Augenblicken sah ich natürlich ein, daß selbst wenn die Stadt von leckeren Pet-of-the-Month-Exemplaren nur so überquoll, und selbst wenn eine von ihnen wirklich auf mich abfahren würde, ich trotzdem nichts wagen würde. Nein, vermutlich würde ich auf der Stelle eine Mücke machen.
Also, es ist doch so, daß es nicht nur darauf ankommt, auf diesem Gebiet etwas zu wagen – nein, außerdem muß man sich doch in die Hosen machen vor Angst, daß sie ein Kind kriegt oder daß man sich Syphilis oder den Tripper holt oder – Aids!!!
(Mit Weltuntergangsstimme à la amerikanischem Video herausposaunt.)
Apropos Strafe Gottes. Wenn man für religiöse Grübeleien veranlagt wäre, müßte man ja schon längst bekehrt sein. Zuerst kam die Pest, und dann kam Aids. Die Strafe Gottes. Alle Sünder werden weggefegt. Anfangs kam Aids ja in so raffinierter Form angeschlichen, daß nur diejenigen starben, die, christlich gesehen, am allermiesesten dran waren – Schwule, Fixer und Nutten.
Und Neger ...
Also, da muß doch irgendwo ein Fehler unterlaufen sein, glaube ich. Vielleicht so: als Gott seine Grosse Strafe verteilte, erklärte er seinen Unterlingen, wie sie zuwege gehen sollten, und da sagte er wahrscheinlich etwas ähnliches wie:
„Und die Strafe soll nur jene treffen, deren Seelen ganz schwarz sind, die Sünder mit dem allerfinstersten Gewissen ...“
Er drückt sich ja meistens so undeutlich und verschwommen aus. Und die Unterlinge, die Unterlinge, die wie üblich vor sich hindösten, während der Alte quasselte, die glaubten, er hätte „die Schwarzen und die Sünder“ gesagt. Und dann gingen sie ans Werk und hätten fast ganz Afrika ausgelöscht.
Das war ein echter Schnitzer!
Aber Aids oder nicht, dachte ich – in Stockholm gibt es sie, in Stockholm gibt es Sie, dort gibt es eine Frau, eine Frau für mich.
In Stockholm gibt es Tante Agnes, sagte eine spöttische Stimme, und Tante Agnes – das klingt wie eine alte Zimtziege aus einem Lore-Roman.
Ja, das finde ich auch. Aber ich kann nichts dafür – die Schwester meiner Mutter heißt nun mal Tante Agnes.
Nein, natürlich heißt sie nicht Tante Agnes, sondern nur Agnes. Aber da sie meine Tante ist, wird es eben so, man nennt sie Tanteagnes, als wäre es ein einziger Name.
Sie wohnt in Karlavägen, mitten in der hochgestochenen Gegend von Östermalm, wenn ich mich nicht irre. In der Nähe von Karlaplan hat sie eine große Vierzimmerwohnung in einem Eckhaus. Und in einem dieser vier Zimmer sollte ich also einquartiert werden.
Ich hatte sie erst dreimal getroffen. An die beiden ersten Male konnte ich mich nicht erinnern, damals war ich nämlich so klein, daß ich kaum sprechen konnte. Das dritte Mal war vor fünf oder sechs Jahren, da haben wir sie in Stockholm besucht. Damals kam Tante Agnes mir schrecklich alt vor, aber das lag wahrscheinlich daran, daß ich selbst noch schrecklich jung war. Die Jüngste war sie selbstverständlich nicht mehr, immerhin ist sie sieben Jahre älter als meine Mutter.
Natürlich war es ziemlich peinlich, daß ich bei Tante Agnes wohnen mußte. Aber es war immerhin Stockholm. Und in Stockholm wartete ein neues Leben auf mich – A Brand New Life.
Dort würde alles anders werden, davon war ich überzeugt. Ich würde den lahmarschigen Jungen hinter mir lassen, in den mich das Zombiekaff verwandelt hatte, und mit ihm auch all die Zombies, die dort lebten. Wenn ich das alles erst mal hinter mir hätte, würde es mir sehr viel besser gehen. A new career in a new town, wie Bowie einmal sagte.
Doch, natürlich hatte ich das auch schon gehört – daß man vor sich selbst nicht fliehen kann. Davon war ich allerdings nicht restlos überzeugt. Und außerdem hatte ich das ja gar nicht vor – ich wollte zu mir selbst fliehen, so war das. Und ich mußte es wenigstens testen. Vielleicht würde es mir in Stockholm ja genauso mies gehen, aber ich war davon überzeugt, daß es viel mehr bringen würde, mich im Big Burger am Stockholmer Stureplan bekotzt zu fühlen als vor Börjes Grill daheim am Marktplatz.
Schlimmer konnte es auf jeden Fall nicht werden.
Die ersten Anfälle, oder wie man es sonst nennen soll, bekam ich im Herbst des Jahres, bevor ich den Bettel hinschmiß.
Das muß echt superdämlich ausgesehen haben. Hätte ich mich selbst sehen können, hätte ich bestimmt zynisch und roh über mich gelacht. Also, das sah so aus: Mitten im Gewimmel (so wimmelig, wie es in diesem Kaff eben werden konnte) auf unserem Einkaufsboulevard numero uno latschte ich vor mich hin. Es war ein Samstagvormittag, ein dumpf herbstfarbener Samstag im Oktober. Und da ging ich und schlenkerte mit einer Einkaufstüte.
Und dann, ganz plötzlich, erstarrte ich. Irgendwie wurde ich mitten in einem Schritt gelähmt. Mit einem Fuß in der Luft blieb ich stehen und bekam einen totalen blackout. Ich kauerte mich hin, als würde ich wahnsinnig frieren oder als hätte ich einen Krampf, und dann kniff ich die Augen zu und versuchte, die Arme tröstend um mich selbst zu schlingen.
Das muß ganz einfach umwerfend komisch ausgesehen haben.
In Wirklichkeit war es alles andere als komisch – es war echt beschissen.
Das erste Signal war ein Stich in die Magengrube, und dann drückte irgendein abgefeimter Sadist mir einen Riesenstein mit scharfen Spitzen und Kanten in die Innereien. Der besagte Stein war ein Mühlstein, der mit raffinierter Langsamkeit begann, mich innerlich total zu zermalmen.
Ich fühlte mich einsam. Fürchterlich einsam. Total verlassen und total ausgeliefert. Gleichzeitig wurde mir ein großes schwarzes Tuch aus Trauer umgehängt.
Ich trauerte ganz einfach um mich selbst.
Und nicht genug damit, ich bekam außerdem eine Wahnsinnsangst. Angst vor dem Tod und Angst vor dem Leben, Angst vor Menschen und Angst vor Einsamkeit ...
Ich war fest davon überzeugt, daß ich auf der Stelle sterben würde.
Das tat ich aber nicht. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es mir, die Augen zu öffnen und mich aufzurichten. Verwirrt lief ich davon und spürte, wie alle hinter mir hergafften.
So war es beim ersten Mal. Danach kam es immer häufiger vor, daß ich von ähnlichen Anfällen psychischer Übelkeit niedergeknüppelt wurde. Es war ganz schön bekackt. Bald raste ich aus, dachte ich, bald verwandle ich mich in einen lallenden Idioten, oder ich bekomme einen Tobsuchtsanfall und werde lebensgefährlich. Bestimmt bin ich reif für die Klapsmühle, demnächst kommen sie und holen mich und fangen an, mit der Zwangsjacke vor mir herumzuwedeln.
Gleichzeitig überkam mich das Gefühl, daß alles – Tout, wie es auf französisch heißt – völlig sinnlos war. Die Schule war die reine Pest und völlig wertlos, mir war klar, daß es diese Einrichtung nur gab, damit man nicht in der Stadt herumlungerte und anfing, lästige Fragen zu stellen.
Ich haßte die Stadt und die engen Straßen, wo das Leben zäh an einem vorüberfloß, ungefähr wie brauner, klebriger Sirup. Pfui Spinne.
Ich haßte mich selbst, wagte meinem Blick im Spiegel nicht mehr zu begegnen. Ich fühlte, wie ich mich Tag für Tag auf eine verheerende Katastrophe zubewegte – ich wußte nicht, was, ich wußte nur, daß sie über mich hereinbrechen würde.
Ich bin eben down, dachte ich, das gibt sich.
Es wurde nur noch schlimmer.
Tag für Tag. Schlimmer und schlimmer.
Natürlich hatte ich schon mal was von der Pubertät gehört, aber die hatte ich meiner Ansicht nach bereits erledigt. Ich war der Meinung, die Pubertät sei überstanden, nachdem die Stimme zusammengebrochen war und man zum erstenmal onaniert hatte.
„Onanieren“, das klingt doch echt peinlich, oder?
Und wenn man es statt dessen so ausdrückt:
„Nachdem man zum erstenmal gewichst hat.“
Das klingt ja auch nicht gerade viel besser.
Auf jeden Fall: damit glaubte ich, die Pubertät hinter mich gebracht zu haben, aber ganz so einfach war es vielleicht doch nicht. Na ja, was spielte das schließlich für eine Rolle? Also, ich meine nur, das, was eine Rolle spielte – das, was die Hauptrolle spielte, war ja die Tatsache, daß es mir mit jedem einzelnen Tag beschissener ging.
Ich fand meine Mitschüler unerträglich beschränkt, einfältig und bescheuert. (Das finde ich immer noch, in diesem Punkt hatte ich auf jeden Fall recht.)
Ich fand die Stadt provinziell, spießig und einfach Wahnsinnig öde. (Und das ist sie auch – damit hatte ich also auch recht.)
Ich fand meine Eltern lächerlich und ätzend. An und für sich waren sie wohl recht liebe Eltern, aber was heißt das schon? Konnte man das nicht eigentlich von ihnen erwarten? Ich hatte nicht darum gebeten, auf die Welt kommen zu dürfen, es war schließlich ihre Schuld, daß es mich gab, nicht wahr?
Und ich fühlte mich einsam.
Wahnsinnig einsam.
Und
Wahnsinnig unverstanden.
Dieses Gefühl wuchs und wuchs und ließ sich schwer erklären. Aber ich versuchte es trotzdem, o ja, ich versuchte es wirklich. Einmal versuchte ich eine gute Viertelstunde lang, eingehend zu beschreiben, wie ich mich fühlte und wie es in mir aussah. Ich schilderte, wie höllisch es war, sich mitten auf dem lärmenden Schulhof plötzlich so einsam zu fühlen, daß man am liebsten auf der Stelle gestorben wäre.
„Mensch, hör auf, mach dir nur nicht ins Hemd!“
war Bengts äußerst verständnisvoller Kommentar.
Der Typ, von dem die ganze Stadt behauptete, er sei mein bester Kumpel, sagte also:
„Mensch, hör auf, mach dir nur nicht ins Hemd!“,
als ich mit tödlichem Ernst einen Teil meines innersten Empfindens freizulegen versuchte.
„Als ich einen Teil meines innersten Empfindens freizulegen versuchte.“ (Dieser Satz ist es wert, notiert zu werden.)
So lief das. Day after day.
Da sowieso niemand zuhörte, geschweige denn irgendwas zu kapieren schien, begann ich zu schreiben.
Abends schloß ich mich in meinem Zimmer ein und versuchte aufzuschreiben, was mit mir los war, versuchte, mein ganzes Ich zu erklären.
Ich produzierte eine unglaubliche Menge Mist: Kollegblöcke voller Gedichte, Novellenskizzen, Prosagedichte, literarischer Briefe und Gott weiß was. Ich schrieb und schrieb und schrieb – es heißt ja, man könne sich was von der Seele schreiben. Ha, von wegen sich was von der Seele schreiben! Ganz im Gegenteil: je mehr ich schrieb, desto beschissener ging es mir. Jedesmal, wenn ich etwas durchlas, was ich geschrieben hatte, fühlte ich mich doppelt mies, wenn ihr versteht, was ich meine.
Was die Weiber anbelangt, da hatte ich no problemas, not at all.
Jetzt glaubt ihr natürlich, ich hau aufs Blech, daß die Schreibmaschine stinkt, aber das tu ich nicht. Ehrlich nicht.
Ich hatte schon einige Beziehungen hinter mir, auf jeden Fall ein paar, und ich weiß nicht, ob man sie direkt „Beziehungen“ nennen kann, aber immerhin. Eine dauerte ganze drei Monate lang, dann rief ich das betreffende Mädchen an und machte Schluß, um es freundlich auszudrücken.
„Verpiß dich, du dumme Gans!“ sagte ich, warf den Hörer auf und heulte in meiner Einsamkeit.
Ich fühlte mich wie ein Schwein und wäre am liebsten gestorben.
Ich bin übergeschnappt, dachte ich, echt plemplem, der Fall ist klar.
Die girls in diesem trüben Kaff waren genauso gnadenlos behämmert wie die Jungs. Sie checkten genauso wenig. Bis auf eine Ausnahme. Doch, ein Mädchen gab es, das mir wenigstens Zuhörte. Wahrscheinlich begriff sie nicht immer, wovon ich redete, aber das war nicht so wichtig. Seriously speaking begriff ich es selbst auch nicht immer, aber das ist natürlich ein anderes Bier. Sie hieß Anna und wohnte im selben Haus wie wir.
Anna und ich gingen zusammen in den Kindergarten, daheim spielten wir im Hof miteinander, und dann gingen wir bis zur Neunten in dieselbe Klasse. Natürlich wurden wir pausenlos veräppelt, aber das führte nur dazu, daß wir noch fester zusammenhielten.
Wir waren sogar verheiratet.
Doch, ehrlich, das ist wahr.
Eines Abends, als Annas Eltern weg waren – wir waren ungefähr acht, als das passierte –, verkleideten wir uns. Anna nahm den Rock ihrer Mutter, der zu einem langen Kleid wurde. Ich bekam ein weißes Hemd, eine riesige Krawatte und eine Jacke, die eher wie ein Mantel aussah. Dann spielten wir, daß der Fernsehapparat der Altar sei und der Nachrichtensprecher der Pfarrer – wir drehten den Ton weg –, und dann sagten wir alle beide:
„Ja.“
Anschließend zogen wir uns gegenseitig aus und krochen in das Doppelbett von Annas Eltern.
Die leider ausgerechnet in diesem Augenblick nach Hause kamen.
An all das kann ich mich kaum noch erinnern, ich weiß nur noch, daß Annas Mutter vor Empörung schier ausflippte und einen Höllenspektaktel veranstaltete. Ich wurde zur Schnecke gemacht, Anna wurde zur Schnecke gemacht, meine Eltern wurden zur Schnecke gemacht. Unglaublich albern, die ganze Chose, also, ehrlich gesagt, ist es doch eine ziemlich reife Leistung, zu heiraten und miteinander ins Bett zu gehen, wenn man erst sieben oder acht Jahre alt ist, oder etwa nicht?
Nach der Neunten suchte Anna sich einen Job als Kontoristin bei der Krankenkasse. Es sollte mich nicht wundern, wenn sie immer noch dort arbeitet.
Während der letzten Jahre, bevor ich aus dem Zombiekaff verschwand, trafen wir uns ziemlich oft, meistens bei mir daheim. Sie las, was ich geschrieben hatte, ich redete und redete, und sie hörte zu. Mehr wurde nicht daraus, bis auf ein paarmal, da ist es ziemlich heiß hergegangen. Gebumst haben wir nicht, aber es hat nicht viel gefehlt – alles, was man sonst tun konnte, haben wir getan. Es ging irgendwie mehr darum, den Druck abzulassen. Das heißt, meinen Druck, das habe ich inzwischen eingesehen, aber damals war mir das nicht bewußt.
Anna war nicht direkt hübsch, aber häßlich war sie auch nicht. Auf der Straße rümpfte niemand über sie die Nase, aber es starrte auch niemand hinter ihr her, wenn ihr versteht, was ich meine.
Ich selbst?
Wie ich aussehe?
Darüber schweigt die Bescheidenheit ...
Also: auf der Weiber- und Sexseite hatte ich keine Probleme. Ich hatte keinen Durchhänger wegen irgendeiner vermasselten Lovestory, überhaupt nicht. Geil war ich ständig, aber verliebt war ich nie, um es einmal so auszudrücken ...
Nun, wie dem auch sei: schließlich fuhr ich los.
Am letzten Abend gab es noch einen dämlichen Riesenzoff. Ich wollte unbedingt abreisen, ohne daß meine Mutter mitkam und auf dem Bahnsteig stand und mit ihren Papiertaschentüchern wedelte.
Das bekam sie natürlich sofort in den falschen Hals.
Aber ich setzte meinen Willen durch – ganz doof bin ich schließlich nicht.